Samsta g, 2. November 2019 WIRTSCHAFT 11
INTERNATIONALE AUSGABE
Und wenn wir bald 110 Jahre alt werden?
Der Think-Tank Avenir Suisse sc hlägt eine Sparpflicht für ein Pflegekapital vor, das auch vererbt werden könnte
Die Pharmaforschung vermeldet
Erfolge bei der Bekämpfung
von Krebsarten und Demenz.
Wir leben gesünder, und unsere
Lebenserwartung steigtJahr
für Jahr. Doch was bedeutet
das für unsere Gesellschaft
in einigenJahrzehnten?
PETER A. FISCHER
Um sich bewusst zu werden,was unter-
schwelligeTrends bewirken,lohnt es sich
manchmal,konsequent zu Ende zu den-
ken, wohin sie führenkönnen. In ihrem
neuestenWerk, «Was wäre, wenn...»,
stellt sich die liberale DenkfabrikAve-
nir Suisse dreizehn solchenThemen.
Eines davon gipfelt in derFrage, was
nun wäre, wenn die Lebenserwartung in
der Schweiz auf 110Jahre steigen würde,
weil das Altern mit Gentherapien hin-
ausgezögert werden kann undDurch-
brüche in der Pharmaforschung die Mor-
bidi tät im höheren Alter senken.
Familienaus fünf Generationen
Erhöht sich die Lebenserwartung auf
110 Jahre, so entsprichtdas einemAn-
stieg gegenüber heute von 24Jahren.
Nach den Berechnungen vonAvenir
Suisse führt das dazu,dass allein die Zahl
der 90- bis 100-Jährigen in der Schweiz
zum Zeitpunkt, wo die Lebenserwar-
tung bei Geburt 110Jahreerreicht, be-
reits um 200000Personen zugenommen
hat (siehe Grafik).Wegen der höheren
Lebenserwartung wäre beimVerhält-
nis von Aktiven (20- bis 64-Jährigen) zu
Rentnern fast eine Halbierung zu beob-
achten, und zwar von 3,4 auf 1,8Perso-
nen.Besonders stark betroff en wäre das
Verhältnis der Aktiven zu den (tenden-
ziell pflegebedürftigen) über 80-Jähri-
gen: Es sänke von 12,3 auf 4. Ohne er-
höhte Zuwanderung drohte wahrschein-
lich ein Arbeitskräftemangel.
Bleibt der Generationenwechsel ähn-
lich wie heute, so führt die steigende
Lebenserwartung dazu, dassFamilien
gleichzeitig aus bis zu fünf verschiede-
nen Generationen bestehen.Weil zu-
dem Patchworkfamilien-Modelle immer
üblicher werden, lockern sich auch die
traditionellenFamilienbande.Ausserdem
werden die Menschen immer älter, bevor
sie erben. Bereits heute sind zwei Drittel
der Erben pensioniert, immer häufiger
werden Erbschaften zurAufbesserung
des Standards in der letzten Lebensphase
genutzt, während sich jüngere Familien
kaum nochWohneigentum oderAusbil-
dungen mit Erbschaften – wenigstens
zum Teil – finanzierenkönnen.
Steigt die Lebenserwartung auf 110
Jahre, dürfte sich die Abfolge vonAus-
bild ung und Arbeitsprozess verändern.
Menschenwerden länger arbeiten und
dabei im höheren Alter eher in Situa-
tionen geraten, wo sie sich noch ein-
mal umschulen lassen müssen.Avenir
Suisse bringt hier die einst von Milton
Friedman lancierteIdee von Bildungs-
gutscheinen ins Spiel,die in individuelle
Weiterbildungsgutscheine umgewandelt
werden könnten.
Jungrentner kümmern sich
Überhaupt müsste sich in diesem Szena-
rio der traditionelle «Lebens-Walzer in
drei Schritten» starkverändern, bei dem
auf das Heranwachsen undAusbilden
die Umsetzung des erworbenenWissens
im Arbeitsprozess und schliesslich das
Rentnerdasein folgt. So ist bereits heute
ersichtlich, dass derWiderstand gegen
eine kontinuierliche Erhöhung desregu-
lärenPensionierungsalters dazu führt,
dass sich dasRentnerdasein immer stär-
ker in zwei Lebensphasen unterteilt: in
ein längeresDasein als rüstigerJungrent-
ner, das um das 80. oder später vielleicht
um das90.Altersjahr typischerweise in
eine allmählich von Gebrechlichkeit be-
gleitete Hochaltrigkeit übergeht. Bei
einer Lebenserwartung von 110Jahren
steigt allerdings nicht nur die Zahl der
Hochaltrigen drastisch an, es explodie-
ren auch ihre Krankheitskosten und ihr
Langzeitpflegebedarf.Avenir Suisse er-
wartet für das Szenario eine zusätzliche
Nachfrage nach rund 80000 Pflegekräf-
ten.Da stellt sich dieFrage, wie dies alles
finanziert und abgedeckt werdenkönnte.
Damit dieLasten nicht einfach auf
die Allgemeinheit und damit auf immer
weniger Erwerbstätige abgeschoben
werden,schlägtAvenir Suisse ein erst im
Erwachsenenalter einsetzendes neues
Zwangssparen für ein Pflegekapital vor,
das zurFinanzierung von Pflegeleistun-
gen genutzt, aber auch vererbt werden
könnte. Eine naheliegende Möglichkeit
bestünde auch darin,Jungrentner ver-
stärktBetreuungs-und Erziehungsauf-
gaben sowie die Pflege von Hochaltri-
gen übernehmen zu lassen. Allenfalls
könnten sie sich dadurch individuelle
Betreuungs- und Pflegegutschriften für
später erarbeiten.
Auch das allgemeine Gesundheits-
system dürfte bei dem deutlichen An-
stieg der Lebenserwartung nur finan-
zierbar bleiben,wenn verstärkt zwischen
grossen,allge mein versicherten Risiken
und Dingen unterschieden wird, die
selbst getragen oder durch eine Zusatz-
versicherung gedeckt werden müssen.
Das Szenario einer auf 110Jahre
gestiegenen Lebenserwartung illus-
triert nicht zuletzt auch den dringen-
den Reformbedarf im Altersvorsorge-
system.Kommen immer mehrRentner
auf immer weniger Aktive, können die
Beiträge derAktiven an ein Umlagesys-
tem nicht einfach beliebig erhöht wer-
den. Entweder müssen die Menschenin
einem kapitalgedecktenSystem selber
mehr fürs Alter sparen (2. und 3. Säule
derAltersvorsorge),oder sie müssen mit
wenigerRente auskommen beziehungs-
weise länger arbeiten. Am sinnvollsten
ist wohl eineKombinationaller drei
Komponenten.Avenir Suisse ruft dazu
auf, sich vomKonzept eines fixenRen-
tenalters zuverabschieden. Stattdessen
sollte dasRentenalter auf der Grund-
lage von Beitragsjahren definiert wer-
den. Wer schon in jungenJahren mit
(typischerweisekörperlich anspruchs-
voller)Arbeit beginnt,kann sich so auch
früher in denRuhestand verabschieden
als derLangzeitstudent.
Anzustreben wäre eine Dynamisie-
rung des so definierten (flexiblen)Ren-
tenalters, die dieses an die steigende
Lebenserwartung anpasst und dafür
sorgt, dass in derRegel etwa zwei Drit-
tel der gewonnenen Lebenszeit für ein
längeres Arbeitsleben und ein Drittel
für eineVerlängerung desRuhestands
eingesetzt werden.
Das süsseGift desStatus quo
Noch ist das 110-Jahre-Szenario nicht
Realität,und es ist auch nicht sicher, dass
es baldeintritt. Aber heute steigt laut
Avenir Suisse in der Schweiz die Lebens-
er wartung bei Geburt bereits jedenTag
um knapp drei Stunden. Es sollte sich
für die Politik lohnen, nicht darauf zu
warten, bis ein solches Extremszenario
eintritt – sie sollte sich bereits jetzt mit
den unterschwelligenTrends befassen
und sich damit auseinandersetzen, wie
die Schweiz trotzdem wettbewerbsfähig
bleibt.Das geschieht zu wenig.
Avenir Suisse sieht dreizehnTrends
innerhalb von drei grossenKomplexen:
Erstens finden globaleVerschiebungen
statt. Der Multilateralismus und auch
der freie Standort- und Steuerwett-
bewerb sindunter Druck geraten, die
Welthandelsorganisation (WTO) und
auch die Nato werden geschwächt. Die
kleine Schweizsollt e sich auf ein inter-
national verändertes wirtschaftliches
und sicherheitspolitisches Umfeld ein-
stellen. Zweitens führen Digitalisierung
und Alterung zu grossen gesellschaft-
lichenVeränderungen (die unter ande-
rem auch den traditionellen Service
public wie die Briefpostoder das ana-
loge Fernsehen infrage stellen, weil die
Millennials diese Dienstleistungen nicht
mehr nutzen). Und drittens herrscht eine
gefährlicheTendenz zu einem illiberalen
staatlichen Aktivismus(der Think-Tank
zeigt auf, wie kostspielig und ineffizient
es wäre, wenn die SchweizerKlimapoli-
tik nur im Inland umgesetzt würde, der
Staat für alle «bezahlbare»Wohnungen
bereitzustellen hätte, die Hausarbeit
subventioniert würde, ein Grundein-
kommen bedingungslos bezahlt würde
od er die Devisenreserven der SNB in
einen Staatsfonds ausgelagert würden).
DasWerk ist originell undregt zum
Nachdenken an, indem es in dreizehn
Szenarien darlegt, was vermieden wer-
den sollte und wo Handlungsbedarf be-
steht.Es ist das süsse Gift des Status quo,
das viele zur Illusion verleitet zu glau-
ben, die angenehmen gegenwärtigen
Verhältnisseseien einfach so gegeben,
und sie übersehen lässt, welcheVerän-
derungen bereits im Gange sind.Was
im Buch allerdings noch fehlt, ist eine
eigentlicheAgenda mit Problemen, die
nun anzupacken wären.Dennwenn es in
de rSchweizerPolitik etwas zu überwin-
den gilt,dann ist es der gegenwärtig herr-
schende, selbstgefälligeReformstillstand.
Ein 93-Jähriger zieht seine täglichenBahnen in einem Schwimmbad in NewYork. Bei einer Lebenserwartung von 110Jahren müsste
auchdie Altersvorsorge neu gedachtwerden. Avenir Suisse plädiert unter anderem für eine Flexibilisierung desRentenalters. GETTY
Die öffentliche
Hand darf auf
Milliarden hoffen
Hoher Gewinn der Nationalba nk
indenerstenneun Monaten
THOMAS FUSTER
Für den Bund und die Kantone sieht es
recht gut aus. Kommt es an den welt-
weitenFinanzmärkten in denkommen-
den zwei Monaten nicht noch zu hefti-
gen Verwerfungen, dürfte die Schweize-
rische Nationalbank (SNB)das laufende
Jahr erneut mit einem hohen Gewinn
saldieren. Ein solches Ergebnis legen
zumindest die Zahlen für die ersten
neun Monate desJahres 2019 nahe.Wie
die SNB am Donnerstag mitgeteilt hat,
resultiert für diesen Zeitraum ein hoher
Gewinn von 51,5 Mrd.Fr.
Gut gefüllteReserven
Die Finanzpolitiker von Bund und Kan-
tonenkönnen also vergleichsweise ent-
spannt nach vorne blicken. So deutet
derzeit alles darauf hin, dass die öffent-
liche Hand erneut mit einer Gewinn-
ausschüttung in der gesetzlich maxima-
len Höhe von2Mrd.Fr. rechnen kann.
VondiesemBetrag fliessen zwei Drittel
an die Kantone und ein Drittel an den
Bund,wobei die SNBkeinen Einfluss
auf dieVerwendung des Geldes hat.
Ganz in trockenenTüchern ist dieAus-
schüttung aber noch nicht; massgeblich
ist dasResultat per EndeJahr.
Die zu erwartendeAuszahlung be-
steht laut derVereinbarung zwischen
dem Eidgenössischen Finanzdepar-
tement und der SNB zum einen aus
einer ordentlichenAusschüttung in der
Höhe von1Mrd.Fr. Die Vereinbarung
sieht zum anderen aber auch vor, dass
die Auszahlung auf bis zu2Mrd.Fr. er-
höht werden kann, wenn dieAusschüt-
tungsreserve nach Gewinnverwendung
bei über 20 Mrd.Fr. liegt. Hierzu stehen
die Chancen derzeit sehr gut, zumal die
Reserven mit rund 45 Mrd.Fr. sehr gut
gefüllt sind.
Positive Börsenentwicklung
Wie setzt sich der Gewinn der SNB in
den ersten neunMonaten zusammen?
Erfahrungsgemäss schlagen angesichts
der hohen Devisenanlagen vor allem
die Fremdwährungspositionen zu Bu-
che. Der Gewinn auf diesenPositionen
beläuft sich auf 42,7 Mrd.Fr. Mit Zins-
papieren und -instrumenten (etwa Obli-
gationen)resultierte dabei einKurs-
gewinn von19,5 Mrd.Fr.Auch die Bör-
senkurse entwickelten sich günstig,so
dass bei den Aktienanlagen ein Gewinn
von 22,4 Mrd.Fr.zustandekommt. Die
Wechselkurse – etwa der schwächere
Euro und leicht stärkereDollar – hat-
ten demgegenüber einenVerlust von 8,
Mrd. Fr. zur Folge.
Per MitteJahr hatte der Gewinn
noch bei 38,5 Mrd.Fr. gelegen. Im drit-
ten Quartal stieg somit das Ergebnis um
weitere 13,0 Mrd.Fr. Dazu trug auch
der mengenmässigunveränderteGold-
bestand bei.Weil der Preis des Edel-
metalls seit AnfangJahr um17% zu-
legte, resultiert ein Bewertungsgewinn
von 7, 3 Mrd.Fr.Auch mit denFranken-
positionenerzielte maneinen Gewinn,
und zwar im Umfang von 1,7 Mrd.Fr.
Diese Summeresultiert im Wesent-
lichen aus den von der SNB erhobenen
Negativzinsen auf den Giroguthaben.
Anpassung beiNegativzinsen
Auf Anfang November wird die SNB,
wie im September angekündigt, die Be-
rechnung für die Negativzinsen anpas-
sen. Diese Anpassung sieht einen höhe-
ren Freibetrag für dasBankensystem
vor, womit die Einnahmen aus Nega-
tivzinsen leicht fallen werden. Gemäss
Berechnungen der UBS mussten die
reservepflichtigenBanken bisher auf
rund180 Mrd. von 480 Mrd.Fr. Sicht-
guthaben einen Negativzins von –0,75%
bezahlen; künftig werden noch zirka 80
Mrd.Fr. betroffen sein.Auf den Gewinn
wird diese Modifikation angesichts der
gigantischen Devisenanlagen aber nur
minimeFolgen haben.So sind dieseAn-
lagen seit AnfangJahr um weitere 34
Mrd.auf 798 Mrd.Fr. gestiegen.