Neue Zürcher Zeitung - 02.11.2019

(Grace) #1

18 MEINUNG & DEBATTE Samsta g, 2. November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


KARIKATUR DER WOCHE


Ein Problem der Rechtsphilos ophie


Wer trägt die Verantwortung für den Klimawan del?

Gastkommentar
von KURT SEELMANN

Einen deutlichen Klimawandel und die Zunahme
klimatischerFolgeschäden bezweifelt heute prak-
tisch niemand mehr. Menschen werden von stei-
genden Meeresfluten aus ihrer Heimat vertrieben,
extremeWetterlagen mit Naturkatastrophen neh-
men zu, Hitze undTrockenheit vernichtenAcker-
flächen, dieWasserversorgungkollabiert in man-
chenWeltgegenden.Auch dass wir Menschendie-
sen Klimawandel verursacht haben, stellen nur
noch wenige infrage.
Doch wer ist verantwortlich dafür?Viel wird
nämlich heute in der Debatte über den Klima-
wandel vonVerantwortung gesprochen, und alleine
schon, dass wir das tun, ist alles andere als selbst-
verständlich. Offenbar, so wird schon länger ver-
mutet, sind wir heute viel weniger als in vergange-
nen Zeiten bereit, eine Katastrophe als «Unglück»
erschüttert und trauernd, aber auchresignierend
einfach hinzunehmen. Nein, heute wollen wir ein
«Unrecht» destillieren,ein en «Verantwortlichen»
haben, einen, dem wir das Geschehen zurechnen
und vorwerfenkönnen.Vielleicht warVoltaire in
seinerAnklage des Erdbebens von Lissabon 1755
einer der Ersten, welche die Hinnahme desLaufs
der Dinge und die Überzeugung, unse re Welt sei
die beste aller möglichen, nicht mehr für selbstver-
ständlich hielten.Auch darin deutete sich der Be-
ginn eines Bedürfnisses nach Zurechnung, nach
Verantwortlichkeit an. Selbst Geschehnisse in der
Natur nahm man da nicht aus.

Jemandmuss «schuld» sein


Für diese Zurechnungreicht noch nicht die Kau-
salität.Auch der, der sich zum Beispiel im Stras-
senverkehr völligkorrekt verhält, kann kausal für
denTod eines vor ihm auf die Strasse fallenden Be-
trunkenenwerden – aber diesenTod wü rden wir
ihm nicht zurVerantwortung zurechnen.Wir brau-
chen also fürVerantwortung mehr als eine ursäch-
liche Handlung.Wir brauchen jemanden, der im
«Unrecht» ist, der «Schuld» hat, der dieTat will
oder nicht sorgfältig genug handelt,sie zuvermei-
den. DiesenVerantwortlichen gefunden zu haben,
scheint uns eineArt von Erleichterung zu geben,ob
es sich nun um Naturkatastrophen handelt oder um
den Zusammenstoss von Eisenbahnzügen oder das
Sinken von Schiffen.
Das liegt vermutlich an den Bedürfnissen der
Opfer.Wer Opfer einer Katastrophe oder auch nur
eineralltäglichenVerletzung geworden ist, der will
und der braucht die Bestätigung, dass er zu Un-
recht Opfer geworden ist.Er will bescheinigt haben,
und andere, auch die staatlich verfasste Gemein-
schaft, sollen ihm darinrecht geben, dass seine Er-
wartung, nicht Opfer zu werden,ihre Berechtigung

hatte. Er will sicher sein,dass er auch weiterhin mit
dieser Erwartung leben kann und sie nichtkorri-
gieren muss. Dies ist eineFrage seiner Orientie-
rung in derWelt.
Dafür also brauchen wir «den Täter». Nur
kommt uns bei der Suche nach ihm häufig ein Um-
stand in die Quere, und ganzbesonders gilt dies
bei derVerantwortlichkeit für den Klimawandel:
Was ein Einzelner, noch dazu nicht selten ohne
Absicht, tut, ist aufs Ganze gesehen oft so unbe-
deutend, dass wirrechtlich und moralisch zögern,
ihn für «den Täter» zu halten.Addieren wir des-
halb die vielen kleinenVerstösse zu jener Kata-
strophe, die schliesslich daraus folgt, so haben wir
zwar dieTat, aber nicht mehr ihr Subjekt.Wie uns
nämlich die parallele Debatte über die künftige Zu-
rechnung einerTat zu einer künstlichen Intelligenz
zeigt,brauchen wir füreinenTräger vonVerantwor-
tung die Selbstbeziehung in Gestalt von Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit – unser mit der Zurech-
nung vonVerantwortung verbundenerVorwurf an
ihn als denVerantwortlichen liefe sonst völlig leer
und könnte von ihm gar nicht verarbeitet werden.
Zudem entstehen in der täglichen Zusammen-
arbeit, im privaten Sektor wie beim Staat, zuneh-
mend flache Hierarchien von Spezialisten, die nur
noch ihr eigenesFeld überblicken und denenFeh-
ler der anderen nicht mehr richtig auffallen.Von
«organisierter Unverantwortlichkeit» hat man des-
halbimmerwieder gespr ochen.Liefe etwa bei
der Herstellung eines umweltschädigenden Pro-

dukts alles Hand in Hand und mit gemeinsamem
Plan und mitWissen von der Arbeit des anderen,
dannkönnte man darüber streiten,ob eine struktu-
rierte und arbeitsteilig vorgehende Gruppeals sol-
che Verantwortung zu tragen in derLage wäre. Mit
der «juristischenPerson» hat man schon vor län-
ge rer Zeit einen ersten Schritt in diese Richtung
getan. SolcheFälle einerkollektivenVerantwor-
tung gehören heute zu den umstrittenstenFragen
einerVerantwortungstheorie.IhreBedeutungwird
aber nicht selten überschätzt, weil es in derReali-
tät den subjektiven Selbstbezug der Gruppe auch
als kollektive Debatte ihrer Mitglieder selten wirk-
lich gibt.
In dem deshalb aufgekommenenVorwurf von
der «organisierten Unverantwortlichkeit» schwingt
un ser Unbehagen darüber mit, dass wir das über
die Verantwortung entscheidende «Unrecht», das
wir doch so sehr brauchten, oft gar nicht mehr fin-
den.Sogar das Nichtgelingen des Zurechnungsakts
selbstrechnen wir auf dieseWeise mit derFormel
von der «organisierten Unverantwortlichkeit» noch
zu. Das «Unrecht» liegt dann darin,dass gerade das
«Unrecht» sich perfiderweise versteckt.Als hä tte
sich jemand die Unverantwortlichkeit ausgedacht.
Zum zunehmenden Bedürfnis nach Zurechnung
läuft die zunehmende Unfähigkeit zur Zurechnung
weitgehend parallel.Daskann, möchte man mei-
nen, nicht lange gutgehen.
Die Realität, gerade im Umweltbereich,scheint
aber der Diagnoserecht zu geben. Sogar nach der
Umweltkatastrophe von Schweizerhalle naheBasel
im Jahr 1986, mit derVergiftung desFischbestands
bis zum Mittelrhein, waren die Einzigen, gegen
die eine Geldstrafe verhängt wurde, zweiFeuer-
wehrleute. Sie hatten am Ende Löschwasser in den
Rhein gespült.Kein andererkonnte als Täter oder
Beteiligter festgestellt werden.

Was tun?


Das Zwischenfazit ist ernüchternd:Wir brauchen
die Zurechnung vonVerantwortung, offenbar so-
gar immer mehr – und zugleich gelingt sie immer
weniger. Wastun?
Vielleicht ist unser gesamter Zugang zurThema-
tik falsch oder zumindest unvollständig, wenn wir
bei der Suche nach einer Verantwortung für den
Klimawandel und seineFolgen nur nachVerfeh-
lungen dessen suchen,dem wir eineVerantwortung
auferlegen wollen. Ist es nicht so,dass wir neben
einerVerantwortung für «Getanes» auch eineVer-
antwortung für «zuTuendes»kennen und dass beide
nicht notwendigaufeinander aufbauen? Also nicht
nur wer nachweislich etwas falsch gemachthat, wer
«haftet», der,dem wir etwas vorwerfenkönnen,trägt
Verantwortung für die Zukunft–auch die anderen
könneneinesolche «Zukunftsverantwortung»tra-
gen,im Grenzfall sogaralle von uns.

Solche «Jedermannspflichten»kennen wir sogar
imRecht, man denkenur an dieJedermanns-Hilfs-
pflicht bei Unfällen, die auch jedenvöllig unbetei-
ligtenPassanten trifft.Wernicht handelt, wirdso-
gar bestraft.Daneben gibt es dann noch weiterrei-
chende Pflichten, Sonderpflichten, die diejenigen
treff en, die sich durch einen Akt der Übernahme
von Verantwortung selbst in diese besondere
Pflichtensituation gebracht haben, wie beispiels-
weise Eltern gegenüber ihren Kindern,Lehrer oder
Babysitter gegenüber Schülern bzw. Schutzbefoh-
lenen oderPolizisten undFeuerwehrleute in ihren
Berufspflichten, die sie sich mit der Entscheidung
für ihren Beruf selbst auferlegt haben. Sie alle sind
verantwortlich für diePersonen und Güter, die sie
schützen.

Grundsatz derVerhältnismässigkeit


Eben dies gibt es auch bei derVerantwortung für
das Klima – inForm einer moralischen Pflicht
für jede und jeden,gewi sse Grundregeln im Um-
gang mit Natur und Klima einzuhalten, auch wenn
diese Pflichten, vergleichbar der Hilfe bei Unfällen,
du rchaus etwas unbequem seinkönnen.Was dazu-
gehören soll, lässtsich wie bei moralischen Pflich-
ten üblich nur gemeinsam aushandeln. Das aber,
was wir davon für so wichtig halten, dass wir es mit
Rechtszwang durchgesetzt haben wollen, wie viel-
leicht dasVerbot der Abgabe und Benutzung von
Plastiksäcken oder mittelfristig die Beschränkung
von fossilen Brennstoffen,mussim demokratischen
Prozess unterAchtung der Grundrechte debattiert
und beschlossen werden. Und auch bei den klima-
bezogenen Pflichten muss gelten:Wer sich in be-
sondererWeise verpflichtethat, wer etwa beruflich
dem Umweltschutz verpflichtet ist, trägt eine spe-
zielleVerantwortung.
Sosehr gerade bei derVerrechtlichung von Um-
weltverantwortung der Grundsatz derVerhält-
nismässigkeit ein wichtigerRatgeber ist, so sehr
sollte man sich doch davor hüten, klimaschüt-
zenderechtlicheRegeln immer schon als Ge-
fährdung des liberalenRechtsstaats zu beargwöh-
nen. Schon für den klassischen Liberalismus war
klar, dass die physische Existenz von Menschen
di e Aufstellung von Schutznormen sogar gebie-
tet. Wie immer jemand sein Umweltengagement
für sich selbst begründet – mit dem Schutz des
Menschen oder der Natur –, jeder Klimawandel
fordert für Menschen Anpassungsleistungen, die
nicht jedem möglich sind und denen immer Men-
schen zum Opfer fallen werden. Selbst wer an der
Verursachung des Klimawandels durch den Men-
schen zweifeln sollte, müsste Zukunftsverantwor-
tung für Menschen tragen.

Kurt Seelmannist Professor emeritusfür Strafrecht und
Rechtsphilosophie ander Universität Basel.

Was ein Einzelner,


noch dazu nicht selten


ohne Absicht, tut,


ist aufs Ganze gesehen


oft so unbedeutend,


dass wir rechtlich und


moralisch zögern, ihn


für «den Täter» zu halten.

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