Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

A


ls ich am 2. Oktober 1990 mit meinem Fahrrad
abends durch den Südosten von Leipzig fuhr,
hatte ich mir einen Fetzen schwarzeSeide an den
AufschlagmeinerJackegesteckt.Eswardieletzte
Nacht der DDR, ich war 13 Jahre alt, und es war
wiederHerbstundseitdemletztenHerbst,1989,
hatte sich alles, aber auch alles geändert. Heute
frage ich mich, was das für eine pubertäre Anwandlung gewesen
seinmag, dieses schwarzeStückchen Stoff, wem oder was wollte
ich denn nachtrauern? Der Kindheit?
Oder war es eher ein Folgen der Ideen meiner Mutter, für die
der Untergang der DDR, die Wiedervereinigung, ein endgülti-
ger Abschied von der Vision eines reformierten, demokrati-
schen Sozialismus war, der sie in diesem einen Jahr voller Hoff-
nung nachgegangen war?
Was passierte in dieser Nacht, in der ich mit meinem schwar-
zen Seidenband durchs Viertel fuhr? Ich erinnere mich an DDR-
Fahnen, ausdenendas Emblemherausgeschnitten war. Hier und
dawurdeaucheineFahneverbranntnach22Uhr,späterwurden
Feuerwerkskörper gezündet, Gruppen von Menschen standen
vor den Häusern, in anderen Straßen herrschte seltsame Stille,
hatten sich die Bewohner in ihre Häuser zurückgezogen, schie-
nen sogar die Fenster dunkel, alte Leute sah man kaum in dieser
Nacht, in der die neuen Spätverkäufe und Imbissbuden den Ge-
schmack der blühenden Landschaften vorwegnahmen, die Bier-
büchsenfluthattedieStadtjaschonspätestensseitderWährungs-
union im Juli im Griff, zu Zehntausenden lagen sie platt getreten
auf den Gehwegen, es war eine wahre Bierdosenrevolution, die
auchmichunddieJugendwenigspätererreichte.Trafichmichan
diesemAbend noch mit meinem besten Freund?, der zwölf Jahre
späteran einerÜberdosissterben würde.
Knapp einen Monat nach dieser sogenannten Wiedervereini-
gung, am 9. November 1990, waren wir wieder einmal, meine
Mutter, meine Schwester, ich, auf den Straßen im Zentrum der
Stadt unterwegs. Zusammen mit anderen Menschen. Es waren
nichtsoviele wieim Herbst zuvor, obwohl diewahrenundweni-
gen Mutigen ja schon im Sommer und Spätsommer ’89 sich vor
undin der Nikolaikirche trafen.
Am 9. November 1990 liefen wir schweigend, zum Gedenken
an die Reichskristallnacht, ein Stück über den Ring, an der nicht
mehrvorhandenenSynagogevorbei,dannweiterdurchdieInnen-
stadt. Ich kann mich nicht erinnern, ob es Tausende waren, oder
eher weniger. Mein Gefühl für die Massen war mir abhandenge-
kommen. Zehntausend, fünfzigtausend, hunderttausend?
Machte die Masse einem nicht auch Angst? Vor wie vielen Men-
schen sprach Kohl im Juli, auf dem Opernbalkon stehend? Hun-


derttausend? Da war der Augustusplatz schon schwarz-rot-gold
gefärbt,undichstandalleinamRand,eswarnochvor18Uhr,ein
Sommertag, anders als die trüben Tage der beiden Herbste, als
Abertausende Kachelöfen in den Dunst über der Stadt heizten,
die Kraftwerke um Leipzig herum taten das Ihre, und so waren
dieseHerbste immertrüb und immerdunkel, und die blühenden
Landschaften, von denen Kohl sprach, kamen ja tatsächlich! Als
die Industrien abgewickelt wurden und Hunderttausende (wie-
derdiesegroßenRelationen!)ihreArbeitsplätzeverloren,erhol-
ten sich die von Industrie und Kohle geschundenen Landstriche
imOstenlangsam,inLeipzigfuhrenwireinmal, dasmuss’89ge-
wesen sein, mit Besuchern der Partnergemeinde aus Hannover
zum Rand der Stadt, der tatsächlich ein Rand war, denn eine
Schlucht wie bei Dante tat sich da auf, die Braunkohle, der Tage-
bau, riesige Förderbagger auf dem Grund, das Land aufgerissen
undvernarbt.
JahrespätererzähltemireinBaggerfahrer,wieerunddieKolle-
gen weinten, als sie schon bald nach der Wende die Bagger, auf
denen sie Jahrzehnte gesessen hatten, selbst demontieren muss-
ten, wie nahe das ihnen ging, „als hätten die gelebt“.
War das alles schon zu sehen gewesen, im Herbst, im Sommer
’89/90? Was ich sah, war ein verfallendes Land, verfallende
Städte, die für uns Kinder und Jugendliche ja auch ihren eigenen
Reiz hatten. GanzeStadtviertel waren nahezuunbewohnbar und
wurdendochbewohnt.Kleine BirkenwälderaufDächern. Wind-
schiefe Fabriken auf Hinterhöfen. Abenteuerspielplätze waren
das, nur selten aufgesucht von den Abschnittsbevollmächtigten,
die uns Kinder meist ermahnten und verjagten. Die Flüsse wa-
ren schwarz. Über Bitterfeld brannte der Himmel.
Und dennoch träumten meine Mutter und andere im Herbst
’89 den Traum von der reformierten DDR, deswegen nahm sie
uns mit zu Umweltgottesdiensten und den ersten Montagsde-
monstrationen, Schwerter zu Pflugscharen!

Undam9.November1990wolltenwirmahnen,nichtdesMau-
erfallsgedenken, nein,wehretdenAnfängen, dennüberall im al-
ten und neuen Land kam das unterm Teppich hervor, was dort
druntergekehrtwurdeimSozialismus,gefühltwardasganzeVier-
telplötzlichrechts,zumindestdieStraße.Wokamendieplötzlich
her?Immerschondagewesen?Dafürwarensiedochvielzujung.
Mit Freunden gründete ich eine Schülerzeitung, da wollten wir
auchdieser Sacheauf denGrund gehen,Neonazis.
Ausländerhass. In den Monaten und Jahren dieser Anarchie
griff das schnell um sich.
Gebar so etwas Monströses wie den NSU. Ich weiß noch, dass
ich oft betete, wenn ich von der Kirchgemeinde, wo ich zur
jungen Gemeinde und zum Posaunenchor ging, ins Viertel zu-
rückkehrte, Nickelbrille reichte schonaus, umaufsMaul zukrie-
gen. War man einmal als Zecke gebrandmarkt, war man vogel-
frei, wenn man nicht die richtigen Freunde hatte.
IndenFußgängerzonensammeltesichoftklatschendderMob,
wenn Ausländer gejagtwurden, warendas dieselben,die wenige
Jahre zuvor noch beim „Kessel Buntes“ rhythmisch mitklatsch-
ten?,beim 1. Maiwolltejakeinerfreiwillig mitmarschiert sein.
Was fanden wir jungen Reporter heraus? Viel war es nicht.
Der harte Kern war nicht greifbar, Mitläufer gab es genug, doch
da kam nichts weiter. Scheinbar wurde ein Kollektiv gegen das
andere getauscht. Stärke in unsicheren Zeiten.
Einer meiner alten Reporterkollegen ist inzwischen aufseiten
derAfD, findet sich,wieviele andere, vonSystem-Medien umge-
ben, und auch weiterhin versuche ich zu verstehen, waren wir
nicht jugendlich/kindliche Verfechter einer plötzlichen Presse-
freiheit mit unserer Schülerzeitung, und waren wir nicht voll-
kommen un-ideologisch, eher Anarchisten, die dann im
Techno-Beat gegen alles Konforme und Autoritäre rebellierten?
Ich erinnere mich, dass ich die Gedenkkundgebung am 9. No-
vember vorzeitig verließ, unter dem Protest meiner Mutter. Ich
wollte ins Kino. Antisemitismus? Neonazismus? Kann schon
nicht so schlimm werden, und wurde es doch.
Judenwitze waren ja plötzlich angesagt auf dem Schulhof, und
im Kino lief an jenem Tag die Action-Komödie „Und wieder 48
Stunden“. Als Eddie Murphy einem Redneck mit dem Spruch
„Und,willnochjemandhumpeln“dasBeinwegschoss,grölteder
Saal.SchonindenJahrenvorderWendewareszuÜbergriffenge-
genafrikanischeGastarbeitergekommen,auchdaswurdenieof-
fen diskutiert. Auch nicht in Biedenkopfs Sachsen, wo nur die
schönenFrauen auf denBäumenwachsen...
Moment, Moment, obwohl es später auch noch in Hoyers-
werda brennt: Ist das nicht alles ein bisschen dunkel? Smog-
alarm statt Wendeeuphorie? Nix: Als wir träumten?

Es war natürlich auch eine Zeit der Beschleunigung, des Auf-
bruchs,derEuphorie.UndderTräume.Dergroßen,derkleinen.
Videotheken eröffneten, während viele der alten Kinos schlos-
sen. Der Traum vom eigenen Unternehmen, der Selbstständig-
keit.Wendehälse, Wagemutige. WarennichteinesTagesineiner
Zeitung die Namen und Adressen von Stasimitarbeitern abge-
druckt?OderverwechsleichdasmitderAktioninHalle,als1991
oder’92ca. 5000 IMöffentlich gemachtwurden?
Warum kam es da nicht zu Racheakten, oder war da plötzlich,
zwei Jahrenach der Wende, wieder gegenwärtig, dass ja im Prin-
zip im Osten jeder mit jedem, und die Zivilgesellschaft hatte ja
nun andere Probleme, die Arbeitslosigkeit in Halle und Leipzig
stieg auf heute fast unvorstellbare zwanzig Prozent. Wenn man
damals sagte: „Ich bin aus Leipzig“, da erntete man durchaus
manch mitleidigen Blick. Hypezig? Bloß weg da!
Und dennoch die Idealisten, die Träumer.
Ich erinnere mich gut und gernean eine Gruppe jungerLehrer
an unserer Schule, die uns mit neuen Ideen und Projekten etwas
bieten wollten, trotzdem wir den Aufstand probten, wenn wir
zumBeispielalleStühleaufdenGangodergleichausdemFenster
warfen. DiealtenAutoritäten galten ja nichts mehr.
Wir protestiertengeschlossen, abererfolglos gegen dieEntlas-
sung unserer jungen und beliebten Geschichtslehrerin, die aber
auch Staatsbürgerkunde unterrichtete bis zum Verschwinden
dieses Schulfachs. Was wohl aus ihr geworden ist? Wie viele
Existenzen, die damals auf der Kippe standen, wohl heute wie-
der sich der alten Ohnmacht erinnern?
So fuhr ich in der Nacht des 2. Oktober durch den Herbst ’90,
durch unser Viertel, durch unser Land, durch den Herbst ’89,
den langen Sommer ’90, das schwarze Stück Seide an meiner
Jacke wurde vonniemandemwahrgenommen, fuhr mitdem Rad
um den Runden Tisch, was für eine großartige Idee!, der mich
andieRitterder Tafelrunde erinnerte,„Bürgerbeteiligungin Dia-
log- und Beteiligungsform“, lese ich heute bei Wikipedia, in das
das alles längst eingegangen ist, damals noch unvorstellbar und
weit weit entfernt..., lasst uns an runden Tischen sitzen und die
Zeit und die Politik begreifen, „Und, will noch jemand hum-
peln?“, schreit Eddie Murphy durch die ostdeutsche Nacht, in
der die Träume abhandengekommen sind. Oder sind sie längst
wahr geworden, und wir haben’s noch nicht begriffen?
Die Schülerzeitung, die wir damals gründeten, hieß übrigens
„DAS“,„DieAndereSchülerzeitung“,angelehntandienureingu-
tesJahr,bisApril’91,existierende„DAZ“,„DieLeipzigerAndere
Zeitung“, in der versucht wurde, diesen anderen, besonderen
SchwungderwenigenMutigendesSpätsommers1989mitzuneh-
men,Legenden, Träume, auchohne einschwarzesStück Stoff.

„Hypezig? Bloß weg da!“


Unser schwarzes Stück Seide


Vom Herbst 1989 in den Herbst 1990 und wieder zurück: Es war eine Zeit der Beschleunigung,


des Aufbruchs, der Euphorie – und über Bitterfeld brannte der Himmel.Von Clemens Meyer


Clemens Meyer,
geboren 1977 in
Halle/Saale, wuchs
in Leipzig auf. Sein
Debütroman
„Als wir träumten“
erschien 2006, zuletzt
veröffentlichte er
die Erzählsammlung
„Die stillen Trabanten“.

Stimmungsbilder im Kopf
und vor den Augen. Der Fotograf
Sebastian Hesse, 56, ist
Journalist, Autor und Fotograf.
Aktuell lebt und arbeitet er in
Washington D.C. als Korres-
pondent für die ARD. Seine foto-
grafische Ausbildung absolvierte
er am International Center of
Photography in New York und
an der Ostkreuzschule in Berlin.
Nach dem Mauerfall war
Sebastian Hesse als junger
Reporter in der Noch-DDR und
dann in den Neuen Ländern unter-
wegs. Während sich dort das
Leben nur langsam verändert
hat,war der Takt in Berlin ein
anderer: Fasziniert vom rapiden
Wandel hat Hesse die zusammen-
wachsende Metropole immer
wieder mit der Leica durchstreift.
Als Flaneur mit der Kamera auf
Spurensuche nach den Relikten
einer verschwindenden Welt –
viele dieser Momentaufnahmen
begleiten diese Ausgabe.

Fotos: Sebastian Hesse, Imago

4 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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