Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

(geschrieben am 21.11.89) „Novemberrevolution! Reichsprogromnacht! – der November


hat’s in sich. Gedenktage. In diesem Jahr liefert der November wieder Geschichte!: Massen-


demonstration in Ostberlin mit einer Million Menschen am 4. November – und fünf Tage spä-


ter – in der Nacht vom neunten auf den zehnten November Öffnung der Berliner Mauer für


freien Durchgang von Ost nach West und von hüben nach drüben. Unvorstellbar noch vor we-


nigen Wochen! Die ganze Nation sitzt am Fernseher und schaut zu, wie sich die Tausenden


durch die bisher scharf bewachten Grenzübergänge in Berlin drängeln und wie sich Ostler


und Westler weinend vor Glück um den Hals fallen. 28 Jahre lang waren die Berliner vonei-


nander getrennt durch die Mauer und rigide Bürokratenverordnungen. Jetzt reißen DDR-Bull-


dozer Stücke aus der Mauer, teeren im Schnellverfahren Verkehrswege durch den Sand des


Todesstreifens und geben den (fast noch dampfenden) Weg frei für die wartenden Men-


schenmassen. Es ist nicht zu fassen! Hier findet Revolution im Sinne von Umwälzung statt


ohne Blutvergießen! Erzwungen von den Menschen auf der Straße, unter dem Eindruck des


Weglaufens von hunderttausend jungen Leuten aus der DDR. Der Jubel ist groß! Auch wir


vor unserem Fernsehen sind fasziniert von dem, was sich vor unseren Augen ereignet. Nur


mischt sich in die Freude, die uns bewegt, die Sorge, es könnte letztendlich die D-Mark als


einzig Jubilierende aus der Umwälzung in der DDR hervorgehen.“


Die Gedanken waren frei


„,Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat,


ist Freiheit‘, Rousseau. Die Grenze zw. BRD+DDR ist offen, auf der Mauer


tanzen die Leute: Schöne, rührende Bilder im Fernsehen; man muss sich


vorstellen, wie undenkbar das bis vor Kurzem war, um ein Gefühl für das


Sensationelle, für den geschichtlichen Moment zu bekommen. Wie merkwür-


dig willkürlich, theaterhaft ein Zwang, der plötzlich so ohne Weiteres aufge-


geben werden kann. Warum wollen alle ,zu uns‘? Nur weil es verboten war,


aber auch, weil es hier Dinge gibt (Bananen!), in Berlin zwei Straßen weiter,


die sie so lange – aus reiner Willkür? – entbehrt haben. Realität, so scheint


es, ist eine willkürliche Festsetzung. Aber ist der Überfluss hier ,normal‘,


das, was sich von selbst einstellt, wenn man es nicht verhindert?“



  1. November 1989


„Neue Bilder im Kopf – Schlemmerlä-


den, Glitzer, Flimmer, bunte Bilder, vor


der Berliner Gedächtniskirche ein Bett-


ler, er hält ein Stück Pappe in den Hän-


den. Darauf steht: Ich habe Hunger.


Bitte um eine kleine Spende. An ande-


rer Stelle, mitten im Menschengewühle


ein Krüppel. Man mag nicht hin-


schauen, so schaudert es einen. Vor


dem bunten Budentreiben eine alte, di-


cke Dame. Sie hat um sich hängend


Pappschilder, darauf steht ,Rettet den


Sex – Erst ficken, dann arbeiten‘. Ei-


nige exaltierte Frauen diskutieren mit


ihr. Undweiteran anderer Stelle, ein


Marktschreier. Er spuckt und droht und


schreit. Es geht um die Rettung der


Seele, vor Konsumtion und Überfluss.


Daneben ein Pfarrer. Er verteilt lä-


chelnd und sich bedankend Handzet-


tel. Ich hole mir auch einen. Überhaupt



  • Losungen, Flugblätter – Zeitungen –


werden an allen Ecken verteilt. Die


DDR-Bevölkerung ein neues Publikum.


Vieles ist noch unfassbar. Man ver-


steht es noch nicht. Man weiß es noch


nicht einzuordnen. Hinter die Fassaden


des Glanzes und des Lichtes schauen,


nur so kann man sich dieser Stadt, die-


sem westlichen Teil einer Stadt, nä-


hern. Als wir durch die Grenzanlage


zurückgehen, erst einmal Erleichte-


rung. Und auch Gefühl der Sicherheit.


Die Bettler, Herumlungernden und


schäbigen Typen – jagen einem Angst


ein. Man ist ihnen schutzlos ausge-


setzt. Keine Transportpolizei auf den


Bahnhöfen der U- und S-Bahn. Das ist


das Reich der Schutzlosen. ,Heute‘-


Kommentar (im ZDF) (19.18 Uhr): ,In


der DDR ist Revolution. Eine gewalt-


lose Revolution. Und deshalb so beein-


druckend. Nicht Staatsmänner machen


hier Geschichte, sondern das Volk...‘“


12.11.89


Weil mein Mann in den 60er Jahren Ge-
meindepfarrer in der Oberpfalz war und
wir uns beide sehr für den Abbau der
Spannungen zwischen Ost und West ein-
setzten, hatten wir damals engen Kontakt
zur Christlichen Jugendarbeit Berlin. De-
renSommerlager fanden aufunserem Ge-
meindegrund statt. Bei den täglichen Ge-
sprächen atmeten wir Berliner Luft und
Frust aus erster Hand.
1964 gingen wir eine Partnerschaft mit
einer DDR-Gemeinde ein. Im Januar
1965 erreichte uns per R-Gespräch die
Bitte des Pastors unserer Partnerge-
meinde,erbefindesichmitseinerFamilie
im Auffanglager Friedberg, eine geneh-
migte Ausreise aufgrund einer angebli-
chenKrankheit.Erbatuns,ihmeineEinla-
dung zu schicken, damit er mit seiner Fa-
milie das Auffanglager verlassen könne.
Wir ahnten nicht, dass mit unserem Tele-
grammdieVerantwortungfürdieseFami-
liemit dreikleinen Kindernaufuns privat
umverlagert wurde. Nur mit Hilfe des
Chefs der Inneren Mission Nürnberg
konnten wir aus dieser Falle gerettet wer-
den. Die Familie lebte etwa drei Wochen
auf unsere Kosten, Bohnenkaffee inklu-
sive, den wir uns selbst nie geleistet hat-
ten. Wir waren junge Pfarrleute, lebten
mit bescheidenem Gehalt. Von einer Be-
werbungsreise nach Nordrhein-Westfa-
len heimkehrend berichtete der Mann ge-
nüsslich,sichendlicheinmalSchlafwagen
gegönntzuhaben(fürunsunvorstellbar!).
Nach dem Mauerfall haben wir aber auch
ganz andere Erfahrungen gemacht. Im Ja-

nuar 1990 hatten wir Besuch von einem
Pastor aus der DDR. Damals schrieb ich
in mein Tagebuch: „Rührend ist die ver-
bale Unbeholfenheit des Mannes. Er
scheint sich gehemmt zu fühlen im Rah-
men unserer eloquenten Westlichkeit? Es
war nicht verbale Unbeholfenheit, der
Mannglaubte,sich entschuldigenzu müs-
sen,dass ersichfür denSozialismus enga-
giert hatte.“
Vor 30 Jahren war die Freude über die
Wiedervereinigung groß, auch bei uns.
Groß war aber auch unser Ärger über die
Heuchelei: „Widerlich in unseren Ohren
istdasJubilierenunsererPresseund unse-
rer Politiker“, notierte ich in meinem Ta-
gebuch. „Wo bei unseren Großdemons-
trationen gegen die Atompolitik unserer
Regierung ,vorwiegend Jugendliche‘ am
Werk waren und ,randalierten‘ und die
Politiker ihre Ehre darin sahen, ,sich von
der Straße nicht unter Druck setzen zu
lassen‘, da wird im Hinblick auf die De-
monstrationen in der DDR voll Begeiste-
rung von ,handgemalten Transparenten‘
(auch unsere waren handgemalt) und
von der Kreativität der Demonstranten
geschwärmt.“
Ich erinneremich, dass inder erstenFern-
seh-Gesprächsrunde aktiver Gruppen
der DDR der Vertreter vom Neuen Fo-
rum der Einzige war, der sagte, die Öff-
nung der Mauer sei zu überstürzt gekom-
men.Dass dieWende tatsächlichzu über-
stürzt vollzogen wurde, dürfte heute nie-
mand mehr anzweifeln. Der Frust im Os-
ten hat uns die AfD beschert.

Berlin, den 3.12.89


„Der Frust im Osten


hat uns die AfD beschert“


Erinnerungen trügen. Papier bleibt.


Wie haben vier Frauen aus Ost


und West den Mauerfall erlebt?


Im Deutschen Tagebucharchiv in


Emmendingen und im Berliner


Tagebuch- und Erinnerungsarchiv


finden sich die Antworten.


Wie denken die Autorinnen heute an


diese historischen Zeiten zurück?


30 Jahre später erzählen sie,


was der Umbruch für ihr Leben


bedeutet hat.


Recherche, Interviews und Protokolle:


Moritz Honert


Karin Manke-Hengsbach, 73,
wurde in Erfurt geboren und
leitet heute das Berliner Tage-
buch- und Erinnerungsarchiv
in Johannisthal/Treptow.

Frau Brandenburg, in Ihren
Tagebüchern schrieben Sie eher
selten über Politik. Die Wende
allerdings nimmt viel Platz ein.
Ich war auch erstaunt, wir sehr mich das
beschäftigt hat, aber man hat damals ja
auch mit Gänsehaut vor dem Fernseher
gesessen. Man muss sich vor Augen füh-
ren, wie verrückt das eigentlich war.
Wie wenig man sich das vorher hatte
vorstellen können, um ein Gefühl dafür
zu bekommen, wie epochal dieses Ereig-
nis war. Für uns, die wir immer
BRD-Bürger waren, war das Thema Wie-
dervereinigung eigentlich tabu. Die Tei-
lung war die Strafe für die Verbrechen
der Nazi-Herrschaft. Das galt als Status
quo, der sich niemals ändern wird. Und
wenn doch, dann wäre es eher negativ ge-
wesen, glaubten wir.

Wieso negativ?
Die Leute, die das im Westen propagiert
haben, standen ja eher am rechten Rand.

An einer Stelle schreiben Sie: „Auch
die Veränderungen ,drüben‘ sind
zweischneidig, können jeden Mo-
ment ins Katastrophale umkippen.
Erstaunlich, wie friedlich bis jetzt al-
les ging“. Woher kam die Sorge vor
Ausschreitungen?

Neben der Freude spürten wir auch
Angst. Angst, dass das alles in Gewalt en-
den könnte, von welcher Seite aus auch
immer. Ich bin 1957 geboren. Meine Ge-
neration hatte noch die Bilder vom Ein-
marsch der Russen 1968 in Prag im Kopf.
Auch1989 hat man gedacht: Na ja, so ein-
fach wird das weder die DDR-Regierung
noch die Sowjetunion passieren lassen.
Da kommt dann vielleicht ein Panzer an-
gefahren und setzt alles wieder auf null.
Das war eigentlich unglaublich, dass das
so friedlich und toll vonstattenging.

Sie schreiben über die Wende auch
aus philosophischer Sicht. „Realität,
so scheint es, ist eine willkürliche

Festsetzung“, notierten Sie am


  1. November. Wie war das gemeint?
    Ich fand es beeindruckend, dass man ein
    politisches System und seine ganzen
    Zwänge und ideologischen Vorgaben ein-
    fach so fallen lassen kann. Von jetzt auf
    gleich ist es dann so, als hätte es das alles
    nie gegeben. Etwas, nach dem viele Leute
    viele Jahre leben mussten oder auch woll-
    ten, ist einfach verpufft. In dem Sinne
    finde ich schon, dass unsere Realität,
    auch die politische, ein Konstrukt ist.
    Und ich beziehe das auch durchaus auf
    unser eigenes System. Stimmt es, dass al-
    les so wird wie bei uns im Westen,
    wenn man es einfach laufen lässt? Kon-
    sum, Kapitalismus... Schon damals habe
    ich geschrieben, dass wir uns hoffentlich
    irgendwannmaleinschränkenmüssen.In-
    zwischen sehen wir ja, dass es so nicht
    mehr weitergeht, wie wir wirtschaften
    und leben. Andererseits war auch die
    DDRdasGegenteilvonnachhaltig,dieha-
    benjaauchdieUmweltüberhauptnichtge-
    schont.EigentlichwardaseinStaatskapita-
    lismus,dergenausorücksichtslosvorging
    odernoch rücksichtsloser.


Sind Sie gleich nach der Maueröff-
nung in den Osten?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich erst vor
dreioder vier Jahren das erste Malda war.
Es gab nicht so das Bedürfnis. Ich habe
damals in Düsseldorf gelebt, und wir wa-
ren ja schon sehr weit weg davon, also
räumlich. Die Familie meines Mannes
stammt aus Glauchau in Sachsen. Da ist
bis heute nicht viel Kontakt. Die Entfer-
nung ist groß. Als eine Schwester meines
Mannes nach Berlin zog, sind wir dann
mal hin und haben uns dabei auch Wei-
mar und Jena angeschaut.

Wie war Ihr Eindruck?
Ich fand da keinen großen Unterschied.
Das war alles so wie bei uns. Auch Dres-
den, sehr schön renoviert. Natürlich sind
wir eher an touristische Plätze gefahren,
wie es im Hinterland aussieht, weiß ich
nicht.

Sabine
Brandenburg-Frank, 62,
lebte zur Wendezeit
in Düsseldorf. Heute
arbeitet sie als Winzerin
und Schmuckdesignerin
in Staufen.

Fotos: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, privat (2)

Heidi Crämer, 83,
stammt aus Ravensburg
und engagiert sich seit
den 60er Jahren für den
Abbau der Spannungen
zwischen Ost und West.

Fotos: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen (2), privat (2)

„Wir hatten Angst, dass


das in Gewalt enden könnte“


Frau Manke-Hengsbach, Sie haben die
Wendezeit als DDR-Bürgerin in Berlin
erlebt. Wovon haben Sie geträumt?
Wir haben alle mit der Hoffnung gelebt, dass
es anders wird, dass endlich Schluss ist mit
der DDR. Wir wollten freier sein. Wir haben
ja alle nicht ehrlich gelebt.


Wie meinen Sie das?
Ich war damals im Berliner Haus für Kultur-
arbeit angestellt und habe immer mehr mitbe-
kommen: Da stimmt was nicht. Wir haben un-
ter anderem Moderatoren ausgebildet, die
dann aufpassen mussten, was sie sagen. Un-
sere Direktoren, das waren sozusagen die Ka-
pitalisten der DDR, waren auch gar keine Kul-
turmenschen. In Wirklichkeit haben die nur
in ihren Büros gesessen und gebechert. In der
DDR hatte jeder seine Pulle im Schrank. Ein-
mal hatte ich einen Westjoghurtbecher als
Stifthalter auf dem Schreibtisch, da wurde ich
schon angezählt. Am 4. November war ich bei
der Demonstration am Alex. Das war für mich
das größte Ereignis. Da habe ich nur noch ge-
heult. Man konnte dieses Glück kaum fassen.


Neben Euphorie und Glück liest man in
Ihren Erinnerungen auch immer von
Unsicherheit und Angst.
Bei den Demonstrationen am Alexanderplatz
gab es plötzlich Plakate, auf denen Politiker
mit Eselsohren zu sehen waren. Die Leute ha-
ben sich öffentlich lustig gemacht. Das ist
heute nichts Besonderes, aber damals gehörte
unglaublicher Mut dazu. Ich hatte zu der Zeit
einen guten Bekannten, der mich unglaublich
enttäuscht hat, weil er sich als Oberleutnant
freiwillig für die Demos in Leipzig gemeldet
hat. Ich wusste ja, dass der da rumprügelt.


Sie haben auch in Berlin
Ausschreitungen befürchtet.
Wenn ich nur an den 4. November denke, da
stand Mensch an Mensch. Da hätte ja nur mal
jemand ausflippen müssen. Wir hatten ja
keine Erfahrung mit so etwas, wir kannten das
nur aus dem Westfernsehen.


Sie denken an die Straßenschlachten der
Studentenbewegung oder an die Chaos-
tage in Hannover.
Ja, genau. Wir hatten Angst, dass man jetzt in
etwas hineingerät, was man sich nicht vorstel-
len kann.


Wie haben Sie die Tage nach
dem 9. November erlebt?
Es war eine Phase der Verunsicherung und Ir-
ritation. Das Ende der DDR war ein Zusam-
menbruch unseres Alltags. Von einem Tag auf
den anderen stimmte alles nicht mehr. Bei al-
ler Freude merkten wir, da ist etwas, das in
unserLeben einbricht,das unserLebenzerstö-
ren könnte. Es hatte etwas von Krieg. Ich hab
damals in der Warschauer Straße in Fried-
richshain gewohnt. Von einer Nacht auf die
andere war der Bäcker mit Leucht- und West-
reklame behangen, wo vorher alles trist war.
Ein hochbegabter Puppenspieler, den ich als
Kulturtante betreut hatte, musste plötzlich in
der S-Bahn für ein paar Euro Quatsch ma-
chen. Das war schon ein Schock. In der DDR
wurden die ja alle versorgt. Da gab es Gelder
für. Für mich war es ein großer Prozess der
Trauer, zu sehen, wie meine Leute, die so viel
konnten, auf einmal nichts mehr wert waren.
Das hat mir sehr wehgetan.


Welche Folgen hatte die Wende
für Sie persönlich?
Der einzige Verlust, aber der war ein großer,
muss ichzugeben,war, dassichmeinenUniab-
schluss nicht mehr machen konnte. Ich hatte
nach einer Buchhändlerlehre an der Hum-
boldt-Universität Ethnologie studiert. Plötz-
lich waren alle Professoren abgesetzt und es
hieß: April, April. Die vier Semester, die ich
studiert hatte, damit konnte ich nichts mehr
anfangen. Das war sehr ärgerlich.

Wie empfanden Sie den ersten Kontakt
mit den Westdeutschen?
Mitunter hat man sich gefühlt wie im Zoo. Ich
hab damals in der Leipziger Straße gearbeitet,
und wir sind dann, als der Checkpoint offen
war, immer in der Mittagspause rüber und ha-
ben da unseren Döner geholt. Den kannten
wirvorhernicht. In der Nähe stand aucheiner
der großen Supermärkte. Dort waren von ei-
nem Tag auf den anderen alle Ostprodukte
aus- und Westprodukte eingeräumt worden.
Ich stand da und war völlig überfordert. Es
gab vorher nur eine Sorte Joghurtbecher.
Und ich gucke wahrscheinlich so baff, weil
ich nicht weiß, was ich nehmen soll, und
während ich da stehe, filmt mich ein Kame-
ramann vom Fernsehen. Da war ich wirklich
sauer. Wir waren keine Dämels! Wir waren
einfach anders, weil wir nicht dieselben
Möglichkeiten hatten.

Im Eintrag vom 3. Dezember 1989 schrei-
ben Sie von einem Besuch an der Ge-
dächtniskirche. Sie sehen Bettler, eine
Frau mit einem Schild, auf dem „Rettet

den Sex!“ steht. Ihre Irritation ist mehr
als deutlich.
Mich hat das richtig erschüttert. Ich dachte,
was es alles gibt, was die sich alle trauen, dür-
fen die das? Also, wir waren vielleicht schon
ein bisschen primitiv. Aber wir wussten es
nichtbesser. Heute könnte man sich schämen,
dass man sich so komisch verhalten hat, dass
man so prüde war. Dabei war kein Ostler
prüde. Jeder hatte seine Affären. Das war be-
kannt. Allerdings sprachman nichtdarüber.

Am Ende fliehen Sie fast zurück nach
Ost-Berlin. Sie schreiben: „Als wir durch
die Grenzanlage zurückgehen, erst mal
Erleichterung“.
Ich bin auch erst spät rüber, ich hatte Angst.
Mindestens eine Woche hat es gedauert. Und
es war ja auch alles anders, die Geschäfte wa-
ren anders, die Leute sind anders gegangen,
das ganze Leben war anders. Man ging in et-
was Fremdes. Im Westteil war nichts Vertrau-
tes. Dann war man zurück, und da war alles
altbekannt. Aber das hat sich ja dann wie ge-
sagt auch in einem Monat verändert.

Das Leben im Westen war anders, haben
Sie gesagt. Wie meinen Sie das?
Man musste mehr aufpassen. Bei uns hat man
sich zum Beispiel nicht beklaut. Als ich das
erste Mal vom Ostbahnhof in den Westen fah-
ren wollte, drängelte sich jemand an mich.
Ich überlegte noch, warum schiebt der so?
Später wusste ich, warum. Alles weg. Aus-
weise, Karten. Ich konnte mir das einfach
nicht vorstellen.

Haben Sie dann schnell Leute aus
dem Westen kennengelernt?
Ja, übers Radio wurden damals Kontakte ver-
mittelt. Ich habe mich da gemeldet. Spontan.
Man hat damals ja vieles spontan gemacht.
Bei meinem ersten Besuch in Köln hat mich
meine neue Bekannte, mit der ich immer noch
befreundet bin, dann ihren Freundinnen vor-
gestellt.Dabei war eine, dieimmer Weltreisen
machte, und die hat uns eingeladen auf ein
Glas Sekt. Klingt doch gut, dachte ich. Doch
dann hat sie uns stundenlang Dias gezeigt.
Wissen Sie, wie langweilig das ist, wenn man
da immer nur hinguckt? Und dann ein Glas
Sekt! Buchstäblich ein Glas Sekt! Das wäre für
einen DDR-Bürgernichtmöglich gewesen.Da
wäre der Tisch gedeckt gewesen, und wenn
die nichts gehabt hätten, dann hätten sie
Schmalzstullen hingelegt.

Sind die Unterschiede geblieben?
Ja, ein bisschen.

Frau Manke-Hengsbach, seit 2012
leiten Sie das Berliner Tagebuch- und
Erinnerungsarchiv. Wie kam es dazu?
1993 habe ich beim Heimatmuseum Trep-
tow angefangen und habe dabei viel mit
Zeitzeugen gearbeitet. Die Leiterin hatte
aber immer nur ihre Ausstellungen zur Stadt-
geschichte im Sinn und hat sich für viele
private Sachen, die die Leute zu erzählen
hatten, nicht interessiert. Ich bin dann zu all
den Leuten hier in Johannisthal und Umge-
bung, die um die 80 und 90 Jahre alt waren.
Die konnten dann endlich mal erzählen. Ich
hab Massen von Material bekommen. Briefe,
Dokumente, die haben ihre Schubkästen ge-
leert und sich gefreut, dass sich mal endlich
jemand für ihre Leben interessiert.

Sie machen das allein?
Ja, wir haben zwar den Verein, viele sind aber
nur zahlende Mitglieder. Auf Dauer ist das
keine wirkliche Lösung.

Unterstützt Sie der Bezirk nicht?
2006 habe ich das Bundesverdienstkreuz be-
kommen, aber vom jetzigen Bezirksbürger-
meister kommt nichts. Ich glaube, der kriegt
jetzt von mir noch mal einen Brief...

Wenn Sie Ihre Aufzeichnungen von 1989
lesen, erkennen Sie die Person, die das ge-
schrieben hat, wieder?
Ja. Ich war halt schon sehr geprägt durch
meine Kindheit.

War die der Grund, weshalb Sie angefan-
gen haben, Tagebuch zu schreiben?
Wahrscheinlich. Ich hatte keine besonders
schöne Kindheit. Ich wurde 1946 geboren.
Meine Eltern hatten den Krieg hinter sich und
die nationalsozialistische Erziehung: Diszip-
lin, Ordnung, Strenge! Das war eine schlimme
Zeit,alsMädel sowieso. Man durfte nicht heu-
len, keine Schmerzen zeigen. Meine Mutter
hat sich überhaupt nicht um mich geküm-
mert, hat sich nur in der Küche verkrochen.
Mit meinem Vater musste ich immer Karten
spielen. Das hasse ich bis heute! Ich wollte
viel lieber Schulaufgaben machen. Und lesen,
lesen, lesen. Aber das wurde mir verboten.

Das Schreiben war ein Ventil?
Eine absolute Flucht war das. Ich Erfurt gab es
eine tolle Bücherei. Der Bibliothekarin dort
habe ich eigentlich mein ganzes Leben zu ver-
danken. Mit 13 oder 14 hat sie mir „Das Tage-
buch der Anne Frank“ gegeben. Da habe ich
sofort gemerkt, das ist es. Dann habe ich
selbst angefangen zu schreiben. Ich habe ein-
fach ein Schulheft genommen. Als mein Vater
das in die Hände bekam, haute er es mir um
die Ohren, weil ich teures Papier vergeudet
hätte, das für die Schule gedacht war. Dann
haben meine Eltern das Tagebuch vor meinen
Augen zerrissen. Wahrscheinlich waren sie
auch wütend, weil ich natürlich auch reinge-
schrieben hatte, welche Probleme sie mir be-
reiteten. Ich habe mich da halt voll an die Vor-
gaben von Anne Frank gehalten. Und da bin
ich eigentlich mein Leben lang bei geblieben.

Eigentlich?
Ich hatte dann noch mal eine Phase, wo ich
unterbrechen musste. Da habe ich den fal-
schen Mann geheiratet. Passiert manchmal.
Derhat meine Tagebücheralle vernichtet,ver-
brannt. Er wollte, dass ich sozusagen unbe-
leckt in die Ehe gehe. Spinner. Mir tut es leid
um die Erinnerungen. Ich hätte gerne noch
mal gelesen, was ich damals so gedacht habe
zwischen 15 und 18. Wir haben geheiratet, da
war ich 21. Na ja, es ging dann nicht gut mit
der Ehe. Und als ich mich habe scheiden las-
sen, habe ich wieder viel geschrieben.

Bis heute?
Ja, aber nicht mehr so intensiv. Es gibt andere
Möglichkeiten. Heute schreibe ich eher
Briefe. Aber wenn etwas Zeitgeschichtliches
passiert, dann halte ich das fest. Sachen zur
Klimadebatte oder aus der Politik. Ich bin 73,
da ist das nicht mehr so ein Bedürfnis, seinen
ganzen Seelenschleim aufzuschreiben. Aber
mein Anspruch ist immer noch: Ich halte das,
was passiert, fest. Ganz ehrlich und offen.

Fotos: Mike Wolff (3)

6 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? – 30 JAHRE MAUERFALL NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 7


„Man ging


in etwas Fremdes“

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