Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Herr Bundespräsident, am 9. Oktober würdigten Sie ge-
rade die friedlichen Demonstranten vor 30 Jahren in
Leipzig, als ein rechtsextremer Terrorist in Halle ver-
suchte, Juden in einer Synagoge zu töten. Damals träum-
ten die Menschen, heute wirkt einiges wie ein Albtraum



  • wie sehr zersetzt Hass und Hetze unsere Demokratie?
    Die große Demonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 gehört
    zweifellos zu den Höhepunkten der an Sternstunden nicht rei-
    chen deutschen Demokratiegeschichte. 70000 Menschen ha-
    ben damals allen Mut zusammengenommen und sind für ihre
    Freiheit auf die Straße gegangen. An diesem Tag hat die Angst
    die Seitengewechselt.Gingvorherdie Furcht vor einer„chinesi-
    schen Lösung“ um, war seit Leipzig klar: Ein friedliches Ende
    der Diktatur ist möglich. Das ist eine ganz wertvolle Erfahrung,
    an die wir heute anknüpfen können: Die Zukunft ist offen, lasst
    uns mutig sein. Das ist die Haltung, die ich mir wünsche, wenn
    wir über die heutigen Herausforderungen sprechen und die sind
    nicht klein. Denn unsere Demokratie ist angefochten. Während
    ich in Leipzig sprach, bangten in einer Synagoge in Halle Jüdin-
    nenund Judenum ihr Leben, bedroht von einemRechtsextremis-
    ten. Das ist in der Tat ein Albtraum. Und aus dem erwachen wir
    nur, wenn wir mutig Freiheit, Menschenwürde und unsere De-
    mokratie verteidigen – so wie die Leipziger es uns vor dreißig
    Jahren vorgemacht haben.


30 Jahre nach dem Mauerfall reißt es die Gesellschaft im-
mer weiter auseinander. Was ist schiefgelaufen?
Wir haben viel zu lange mit der Illusion gelebt, dass wir von
dem verschont bleiben, was in anderen liberalen Demokratien
des Westens schon seit einiger Zeit festzustellen war. Nicht nur
in den USA, nicht nur in der europäischen Nachbarschaft, auch
bei uns nimmt die Polarisierung der Gesellschaft in rasender
Geschwindigkeit zu. Diese Trends, die wir im gesamten Westen
feststellen, haben auch uns erreicht, zwar mit zeitlicher Verzö-
gerung, aber mit Wucht. Die Risse in unserer Gesellschaft sind
sichtbar, wir sehen sie inzwischen auch in Wahlergebnissen.


Was treibt die Polarisierung?
30 Jahre nach der Einheit existieren Unterschiede zwischen
dem Ostteil und dem Westteil unseres Landes. Und die prägen
auch die öffentliche Auseinandersetzung. Das ist nicht automa-
tisch schlecht. Im Gegenteil: Ich freue mich darüber, wenn zum
Beispiel junge Menschen aus Ostdeutschland lauter und klarer
als zuvor ihre Forderungen hörbar machen. Problematisch ist
es, wenn die Risse tatsächlich zwischen unterschiedlichen Le-
benswelten verlaufen: zwischen Arm und Reich, Jung und Alt,
offline und online und auch zwischen Stadt und Land. Das fin-
det ja in ganz Deutschland statt, in Ost und in West. Und anders
als vor 20 Jahren wird diese Kluft durch eine veränderte Kom-
munikationskultur vergrößert. Vor allem die sozialen Medien
verstärken die Polarisierung. Dort gibt es wenig Platz für Diffe-
renzierendes: Das Netz kennt oft nur Schwarz und Weiß, Zwi-
schentöne sind nicht vorgesehen.


Wie muss sich unser Verhalten verändern?
Wir müssen wieder lernen, uns mit anderen Standpunkten aus-
einanderzusetzen,wir müssen wieder lernen,konstruktiv mitei-
nander zu streiten. Streit zu vermeiden ist nicht die Aufgabe
von Demokraten. Das müssen wir uns zumuten! Aber wenn wir
streiten, dann bitte in Respekt voreinander. Auch das Gegen-
über kann recht haben, das sollten wir immer für möglich hal-
ten. Auf dieser Einsicht ist unsere Demokratie gebaut. Alles,
was hilft, das konstruktive Streiten wieder einzuüben, hilft des-
halb letztlich auch unserer Demokratie.


Der Streit wird angetrieben durch große Unzufrieden-
heit, etwa im Umgang mit der Einwanderung. Vielen
fehlt Führung durch die Kanzlerin. Was müsste sie tun?
Bei meinen Reisen durchs Land stelle ich immer wieder fest,
dass die Menschen sich nach Orientierung und klaren Struktu-
ren sehnen. Sie erwarten zu Recht, dass die Politik ihre Aufga-


benerledigt – beispielsweisedassdort, woviele Menschenweg-
gezogen sind, gute Arbeits- und Lebensbedingungen erhalten
bleiben, die junge Menschen zum Dableiben bewegen. Dazu
gehören eine funktionierende Infrastruktur, ärztliche Versor-
gung, auch ein kulturelles Angebot und der Zugang zum Inter-
net. Dazu gehört aber auch eine Wertschätzung des ländlichen
Raums, die uns im Zuge der Urbanisierung deutlich verloren
gegangen ist. Ich glaube, vielen ist nicht einmal bewusst, dass
mehr als die Hälfte der Deutschen auf dem Land wohnen.

Auf dem Land ist man genervt von der Dominanz der Kli-
mapolitik, zumal Pendler draufzahlen könnten.
Das ist genau das, was ich mit der Kluft zwischen den Lebens-
welten meine. Es hat wahrscheinlich keine gesellschaftliche Be-
wegung der vergangenen 20 Jahre so viel Aufmerksamkeit und
Debatte erreicht wie Fridays for Future. Das ist ein großer Ver-
dienstderengagierten jungenLeuteund hilft, notwendige Maß-
nahmen auch tatsächlich anzuschieben. Wir kommen aber
nicht weiter, wenn wir jede Woche apokalyptische Bedrohun-
gen beschreiben, die kaum zu bewältigen scheinen. Denn Apo-
kalypse lähmt! Und – absichtlich oder nicht – dadurch werden
die Möglichkeiten der Demokratie immer kleiner geredet. Ich
finde, dass die Lösungsfähigkeit der Demokratie gerade bei der
Klimapolitik systematisch unterschätzt wird.

Die Klimabewegung redet die Demokratie schlecht?
Ich sage das nicht als Großvater mit den weißen Haaren, son-
dern aus innerer Überzeugung: Ich kenne keine andere politi-
sche Ordnung weltweit, die die Möglichkeit zur Umkehr, die
Möglichkeit zur Selbstkorrektur so in sich trägt wie die Demo-
kratie. Wer meint, dass irgendeine autoritäre Ordnung besser
mit den Herausforderungen der Gegenwart umgehen kann, der
irrt. Das ist keine Ausrede, um notwendige Schritte jetzt nicht
zu gehen. Ganz imGegenteil:Wer den Erwartungen der Wähler
nicht nachkommt, wird abgewählt.

In allen Altersgruppen unter 60 war die AfD in Thürin-
gen stärkste Kraft. Kippt der Osten nach rechts?
Wir leben in einer Zeit der Zuspitzung und der Polarisierung.
Ich sehe nicht jeden, der frustriert ist und seine Wahl als Aus-
druck von Protest versteht, schon als Gegner der Demokratie.
Ich warne im Gegenteil davor, ganze Gruppen für die Demokra-
tie verloren zu geben. Wer andere abschreibt, der hat auch die
Demokratie schon abgeschrieben. Wir müssen uns auch um die
bemühen, die irritierend anderer Meinung sind. Wenn sie spü-
ren, dass Politik vor Ort präsent ist, dass ihre Probleme und
Nöte erkannt und bearbeitet werden, dass es für ihre Erfahrun-
gen und Haltungen einen Raum gibt in der öffentlichen De-
batte, dann wächst Vertrauen. Aber ich sehe auch klare Gren-
zen dieses Bemühens: nämlich genau dort, wo die Grenze zu
MenschenverachtungundGewaltüberschrittenwird.Wirmüs-
sendieseGrenze klarer alsbisher markierenund auchdurchset-
zen – im Netz wie auf den Schulhöfen und Marktplätzen.

Was erzürnt Sie besonders?
Es macht mich fassungslos, nach Verbrechen wie der Ermor-
dung von Walter Lübcke oder dem Anschlag in Halle, bei eini-
gen klammheimliche Freude zu sehen. Wer für Mord und Ge-
walt auch nur einen Funken von Verständnis aufbringt, der
machtsich mitschuldig.Punkt! Und ichbindie täglicheVerächt-
lichmachung von demokratischen Institutionen und ihren Re-
präsentanten leid: Die Beleidigungen von Bürgermeistern, das
Gerede vom „System“, das alles trägt zur Diskreditierung der
Demokratie bei. Deshalb erwarte ich von allen, von der schwei-
genden Mehrheit, die – da bin ich ganz sicher – Vernunft im
Diskurs und Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht verlieren
will, endlich laut zu werden und Position zu beziehen.

Demokratien sterben langsam. Kann diese zweite deut-
sche Demokratie auch sterben, wenn es so weitergeht?
Bonn war nicht Weimar und Berlin ist nicht Weimar. Wir leben
nicht in Nachkriegsjahren. Die Menschen laufen nicht in Lum-
pen herum, sind nicht von Hunger gepeinigt. Wir haben nicht
sechsoder zehn Millionen Arbeitslose, sondernsind wirtschaft-
lich erfolgreich und leben seit 70 Jahren in einer starken Demo-
kratie. Dieses Land hatte vor 30 Jahren die Kraft, die deutsche
Einheitmit allihrenwirtschaftlichenundsozialen Herausforde-
rungen zu schultern. Es hat auch in der großen weltweiten Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 einen Weg gefunden,
wirtschaftlich stark zu bleiben. Und wir hatten die Kraft, 2015
und 2016 fast eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, bei allem
Streit, den es darüber gegeben hat. Ich finde, wir können stolz
und selbstbewusst auf das blicken, was wir geschafft haben.

Braucht es schärfere Strafen gegen Hass gerade im Netz?
Ja. Und die müssen durchgesetzt werden. Es ist gut, dass die
Bundesregierung Maßnahmen beschlossen hat, um die Regeln
für einen zivilen Umgang miteinander, die außerhalb des Net-
zes gelten, auch innerhalb des Netzes zu gewährleisten. Und es
istgut,dass endlichauch Kommunalpolitikerbesservor Angrif-
fen geschützt werden. Wer sich für unsere Demokratie einsetzt,
der muss auf den Schutz des Staates vertrauen können.

In Leipzig haben Sie gesagt, Demokratie ohne mutige De-
mokraten – das kann nicht funktionieren. Viele, die für
rechte Anliegen auf die Straße gehen, fühlen sich als mu-
tige Demokraten. Würden Sie die einbeziehen?
Wer in Deutschland im Jahr 2019 auf die Straße geht, muss
nicht mutig sein. Anders als in der DDR leben wir in einer
Demokratie. Jeder hat das Recht, seine Stimme zum Protest zu
nutzen. Ich würde sogar sagen: Jeder hat auch den Anspruch
darauf, dass ihm zugehört wird. Er hat allerdings keinen An-
spruch darauf, dass ihm dann auch alle zustimmen. Das aller-
dings wird manchmal verwechselt, gerade von denen, die heute
über die Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit klagen.

Sie sind viel im Land unterwegs, welche Geschichten ha-
ben Sie 30 Jahre nach dem Mauerfall besonders scho-
ckiert, und was hat Ihnen andererseits Mut gemacht?
Den Besuch bei der Witwe und den Kindern von Walter Lübcke
in Kassel vergesse ich nicht. Genauso wenig wie den Besuch in
der Synagoge oder auch das Gespräch mit dem Besitzer des
Döner-Imbisses in Halle. Ja, ich gebe zu: Unmittelbar nach sol-
chen Gewaltverbrechen fühlt man sich ohnmächtig, ausgelie-
fert, ringt um Worte, die Anteilnahme zeigen, um Worte, die
einordnen. Aber darin darf es sich nicht erschöpfen. Ich will
deshalbimmerwieder die Aufmerksamkeit auch aufErmutigen-
des lenken, auf Menschen, die ihre Zukunft in die eigene Hand
nehmen und das Beste daraus machen. Für mich ist spannend,
was in ländlichen Regionen geschieht, die wir in Berlin viel-
leicht für abgehängt halten. Im kleinen Ort Tantow zum Bei-
spiel, im Osten Brandenburgs an der polnischen Grenze, wo
man schnell denken könnte, da passiert nicht viel. Wir kommen
dorthin und werden empfangen von der örtlichen Feuerwehr,
von der Bürgermeisterin und von einer Erzieherin, die uns sagt:

‚Alle denken, hier ist das Ende der Welt. Aber wissen Sie was?
Das hier ist der Anfang von Europa‘. Und dann erzählt sie be-
geistert, wie die Menschen in Tantow von Europa profitieren.

Was haben Ihnen die Menschen in Tantow erzählt?
Sie haben vor allem von den positiven Veränderungen ihres
kleinenOrtesdurch die Grenzlage zu Polen erzählt:Siekonnten
neue Bewohner aus Polen gewinnen, die jetzt dazu beitragen,
die Region lebenswert zu erhalten, indem sie sich in der freiwil-
ligen Feuerwehr engagieren oder die Kita vor der Schließung
bewahrt haben. In Tantow wird jetzt Deutsch und Polnisch ge-
sprochen. In so einem Ort kann man sehen, dass es funktio-
niert. Ich finde es falsch, ein Klagelied davon zu singen, dass im
ländlichen Raum nichts mehr möglich ist.

Viele fühlen sich von der Bundespolitik vergessen. Sie
wollen gegensteuern. Wie kann das funktionieren?
Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution, mit
Mauerfall und Wiedervereinigung deutsche Demokratiege-
schichte geschrieben. Aberwasdanach kam– die vielen persön-
lichen Umbrüche, der Jobverlust, die Abwanderung ganzer Ge-
nerationen, die unzähligen Veränderungen – das ist im Westen
nicht wirklich gesehen, geschweige denn anerkannt worden.
Das hat zu neuen Enttäuschungen, zu neuen Rissen geführt. Es
war eine Illusion zu glauben, wir könnten dieses Problem allein
mit Geld lösen. Wir brauchen deshalb einen neuen, ganz ande-
ren Solidarpakt der offenen Ohren und des offenen Austauschs,
der Wertschätzung und des Respekts, zwischen Ost und West,
aber auch über die anderen, lebensweltlichen Gräben in unse-
rem Land hinweg. Es geht um Anerkennung von Lebensleis-
tung,gegenseitigenRespekt undbesseresVerständnisfüreinan-
der. Darum können sich zum Beispiel Städtepartnerschaften,
Nachbarschaftsinitiativen oder digitale Stammtische bemühen.

Was waren Ihre persönlichen Träume, als die Mauer fiel?
Die Wiedervereinigung hat meine Träume verändert. Ich war
an der Universität in Gießen, habe promoviert, danach wollte
ich eigentlich den akademischen Weg weitergehen, in der Wis-
senschaft bleiben – das war jedenfalls mein Traum. Im Herbst
1989 lag ich gerade in den letzten Zügen meiner Doktorarbeit.
Mit ungläubigem Staunen habe ich gleichzeitig die Ereignisse
im Osten allabendlich in den Nachrichten verfolgt. Als politi-
scher Mensch, der ich nun einmal war, war mir spätestens mit
dem 9. Oktober klar: Hier wird Geschichte geschrieben. Auf
Einladung von Wolfgang Ullmann war ich noch im Winter
89/90 in Potsdam, wo in einer schnell anberaumten Konferenz
über die sich abzeichnende Wiedervereinigung diskutiert
wurde. Mir war schnell klar, dass dies nicht die Zeit für eine
größere wissenschaftliche Arbeit war. Deshalb habe ich der
Universität erst einmal den Rücken gekehrt. Dass es ein Ab-
schied für immer würde, ahnte ich nicht. Meine Träume, mein
Werdegang, meinberufliches Wirkenhaben sichdurchdie Wie-
dervereinigung völlig verändert, dafür bin ich heute dankbar.

Sie wägen Ihre Worte sorgfältig ab. Wie wollen Sie die
Menschen erreichen, wenn andernorts eine ganz andere
Tonlage angeschlagen wird?
Die Welt wird nicht besser, wenn alle auf demselben Kanal zum
Lautsprecher werden. Auf diesen Weg sollten sich Menschen
mitpolitischer Verantwortungmöglichst nicht begebenin einer
Welt, in der die Fliehkräfte stärker werden und die gemeinsame
internationale Ordnung von einigen für wertlos erklärt wird.
Ich bin völlig sicher, dass das, was im Augenblick zum Beispiel
auf der anderen Seite des Atlantiks stattfindet, Schaden anrich-
ten kann und schon angerichtet hat. Aber die Zukunft ist offen.
Ich glaube an Vernunft und Verständigung. Ich glaube, das Be-
dürfnis der Menschen wird wieder wachsen, zurückzukommen
zueinemFundament, aufdem Verständigung über unterschied-
liche Interessen möglich ist – jenseits von autoritärer Pose und
nationalem Egoismus. Dieses Fundament zu stärken, im Klei-
nen wie im Großen, sehe ich als meine Aufgabe.

Demokratie


leben


„Die Wiedervereinigung hat meine


Träume verändert.“


Frank-Walter Steinmeierwar Chef des Bundes-
kanzleramtes, Außenminister und Vizekanzler.
Seit 2017 ist er Bundespräsident. Er wuchs im
Kreis Lippe in Nordrhein-Westfalen auf.

Offener Austausch,


Wertschätzung, Respekt:


Was gegen die Spaltung der


Gesellschaft getan werden muss.


Mit Bundespräsident Frank-Walter


Steinmeier sprachen Mathias Müller


von Blumencron und Georg Ismar


Foto: Thilo Rückeis

10 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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