Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Herr Krüger, was war 1989 der wichtigste
Tag für Sie?
Der 7. Mai, der Tag der DDR-Kommunalwahlen.
Damals haben wir uns aufgeschwungen, die Stim-
men nachzuzählen, den Betrug aufzudecken. In
der Invalidenstraße haben wir uns bei der „Kirche
vonunten“getroffenundallesnachdem„Vier-Au-
gen-Prinzip“ zusammengetragen. Nur die Punks
ausPrenzlauerBerghabensichnichtganzdrange-
halten,diekamennachderAuszählungindenWahl-
lokalen nicht alle im Aktionsbüro an, sondern gin-
gen in der einen oder anderen Kneipe verloren.
Dennoch, dieser Sommer war eine Art Empower-
ment: Wir sind über die eigene Grenze gegangen,
ins Risiko. Das Gefühl, dass man selbst ins Räder-
werk der Geschichte greift, ist schon vor dem
Herbstentstanden.


Was haben Sie sich damals erträumt?
Es hört sich absolut banal an: Aber meine Träume
waren die Grundrechte – Meinungsfreiheit, Ver-
sammlungsfreiheit. Das war emphatisch aufgela-
den, ja visionär. Heute denken viele: Grundrechte,
wassoll’s?Wirmüssendasvielmehrwertschätzen.


Dennoch sind die Grundrechte in Kraft –
Ihr Traum hat sich also erfüllt.
Doch schon, aber ich sehe Defizite bei der prinzi-
piellen Akzeptanz des Anderen. Wenn ich an die
Meinungsfreiheit denke, sehe ich viele Einengun-
gen. Rosa Luxemburg hat gesagt: „Freiheit ist im-
mer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Mei-
nungsfreiheit heißt implizit, dass man einer Mei-
nung auch widersprechen kann, aber dass auch
ein AfD-Anhänger oder ein linker Kommunist
seine sagen kann.


Ist das nicht mehr der Fall?
Doch, aber ich habe noch einen zweiten Satz im
Kopf – von Immanuel Kant: „Habe Mut, Dich Dei-
nes eigenen Verstandes zu bedienen.“ Die Beto-
nung liegt auf: eigenen. Es ist nicht mutig, sich der
Meinung der eigenen Gruppe zu vergewissern.
Wir haben heute einen Trend, sich identitätspoli-
tisch einer Sache anzuschließen und alles andere


auszuschließen.Vielwichtigerist,sicheinen eige-
nenGripszu machen,auch malderMeinung eines
Freundes odereines Nachbarnzu widersprechen.

Gibt es heute einen Gruppenzwang, obwohl
es keinen Gruppenzwang gibt?
Die Risse in der Gesellschaft gehen nicht mehr
entlang von Ideologien, sondern von soziokultu-
rellen Milieus. Wir müssen aufpassen, nicht den
Zusammenhalt zu verlieren.

Der Tagesspiegel hat gemeinsam mit der
„Berliner Zeitung“ und Ihrer Bundeszentrale
für Politische Bildung eine zehnwöchige De-
battenserie veranstaltet und am 7. November
ein großes Fest der Meinungsfreiheit in der
Volksbühne gefeiert. Was haben Sie aus die-
ser Aktion gelernt?
Für mich war es beglückend zu sehen, wie nach
dem Vortragen von Position und Gegenposition
sich nicht die einen auf der einen Seite geschart
haben und die anderen auf der anderen. Sondern
dass es noch die dritte, vierte, fünfte Position gab.
Und noch viele Meinungen von Leserinnen und
Lesern. Das ist ja das Besondere an Debatten:
Viele stellen sich vor, es gäbe nur Wahr oder
Falsch, Schwarz oder Weiß. Nein, es gibt auch
Grau. Durch den Prozess der Digitalisierung ist da

vielleicht eineArt Virus in dieGesellschaft gekom-
men: Alles wird aufgeschlüsselt nach 0 und 1. Das
übersieht, dass die Wahrheit komplexer ist. Der
wahre Lernwert dieser Reihe ist: Egal welches
Thema man aufruft, es gibt nicht nur das eine Ar-
gument, sondern ein Spektrum von Meinungen.

In der DDR haben auch Sie im Unterricht
gelernt: Schwarz und Weiß, Böse und Gut,
West und Ost.
Als Ostdeutscher habe ich das nicht vergessen.
Aber die Ostdeutschen denken heute nicht mehr
so,siehaben umgelernt. DiegroßenTransformati-
onserfahrungen hat ja vor allem der Osten ge-
macht. Der Weggang vieler Leute in die Ballungs-
gebiete hat dabei Lücken gerissen. Zudem sind die
Ostdeutschen in Führungspositionen massiv un-
terrepräsentiert, in Unis, Konzernen, der Politik –
das macht was mit den Menschen, wenn sie sich
nicht vertreten fühlen. Hinzu kam der neoliberale
Geist, der nach der Vereinigung in die ganze Ge-
sellschaft getragen wurde: Dabei wurde sogar die
Demokratie nachEffizienz beurteilt. Das ist natür-
lich Blödsinn. Wenn das nächste Bürgeramt 40 Ki-
lometer weit weg ist in Mecklenburg und kein
kommunaler Mandatsträger mehr da ist, bedeutet
das einen Verlust für die Gesellschaft; ein Verlust
anIdeen von1989. Denn unsging esumDemokra-
tie als Teilhabe, weg vom Schwarz und Weiß.

Siewaren nachdemUmbruch Politiker,ha-
benmit einemNacktplakat unkonventionell
aufsich aufmerksam gemacht. WelcheEnttäu-
schungen haben Sieals Politikererlebt?
Wahlniederlagen, das Scheitern politischer Vor-
schläge, ich hab’ alles mitgemacht. Schon in den
90erJahrenhabeichmichfürKinderrechteundJu-
gendpolitikeingesetzt,dasstandnichtgeradeoben
auf der Agenda. Ich war auchengagiertfür die Ehe
homosexueller Paare – damals sind wir bitter ge-
scheitert;20JahrespäteristesNormalität.Michha-
ben Niederlagen immer motiviert, wie in einem
Trainingslager. Ich bin nicht der Typ, der das Glas
halbleersieht.Isteshalbleer,mussichesebenhalb
voll machen. Manchmal reichtein Tropfen.

Mach Dir einen Grips!


Thomas Krügerleitet die Bundeszentrale
für politische Bildung. Von 1994 bis 1998
saß er für die SPD im Bundestag.

Hautnahe Politik.
Im Bundestagswahl-
kampf 1994 ließ Thomas
Krüger die Hüllen fallen
und wurde gewählt.
Zuvor war er in Berlin
Senator für Familie
und Jugend.

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Er ging für Grundrechte ins Risiko – als Aufklärer, später als Politiker. Inzwischen wird für ihn mancher Traum von ’89


eingeengt. Als Chef der Bundeszentrale für politische Bildung kämpft er dagegen an.Mit Thomas Krüger sprach Robert Ide


Fotos: Link/dpa, Zensen/Imago

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