Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

V


or kurzem sah ich in einer Ausstel-
lung die Mauerfall-Bilder von
Christian Schulz. Die Aufnahmen
vom November 1989 und der Zeit
danach ähneln sich ja alle, sie zei-
gen Mauerspechte, offene Gren-
zen, glückliche Gesichter im Blitz-
licht – es war schließlich Nacht. In der Ausstel-
lung hing auch ein Bild von der Kundgebung am



  1. November im Schöneberger Rathaus, darauf
    sind der damalige Regierende Bürgermeister Wal-
    ter Momper, Außenminister Hans-Dietrich Gen-
    scher und Altkanzler Willy Brandt zu sehen.
    Brandtistdereinzige,dersichnichtfreut.Erschaut
    ehertraurigundbesorgt RichtungKamera.
    AufderKundgebungwarauchHelmutKohl.Als
    Bundeskanzler war er so gut wie erledigt, und
    nun gestattete ihm die Geschichte eine Atem-
    pause. Als Kanzler der Einheit blieb er dann bis
    1998 im Amt. Genau das sieht man in Willy
    Brandts Gesicht. Dass die beiden Deutschlands
    eher konsumistisch zusammenwachsen würden,
    dass die D-Mark, der Eins-zu-Eins-Umtausch,
    die Läden, die Autos bald im Vordergrund ste-
    hen würden.
    Am Abend des 9. November sah ich mit Aysun,
    meinerdamaligenFreundinundheutigenFrau(die
    deutsch-türkische Filmemacherin Aysun Badem-
    soy/d.Red.)imFernsehen,wiedieMauergeöffnet
    wurde.MeineElternkommenausderDDR,ichrief
    sie gleich an, sie waren außer sich vor Freude. Ay-
    sun und ich machten uns auf zum Grenzübergang
    Bornholmer Straße. Es war aufregend, die Men-
    schenkamen unsentgegen,ich war sehr gerührt.
    Wir gingen dann ganz in der Nähe im Wedding
    zur Party einer DFFB-Kommilitonin, ich studierte
    ja an der Film- und Fernsehakademie. Vom Balkon
    aus schauten wir zu, wie die Ost-Berliner in den


Westteil der Stadt strömten. Wir selber besuchten
den Osten erst in der Zeit danach, ein bisschen so,
als gingen wir ins Museum. Am 9. November war
es umgekehrt: Ganz West-Berlin wurde zur Fuß-
gängerzone, und wir da oben auf dem Balkon
wurden neugierig beäugt.
Aysun winkte einer Gruppe Jugendlicher zu
und rief, sie sollten doch hochkommen. Es war
sehr nett mit ihnen, das Partybuffet war sicher
anders als Partybuffets in der DDR. Bis einer
der Ost-Berliner, sie waren vielleicht 18 oder
19, zu Aysun sagte: Es ist wirklich toll, aber ihr
habt ganz schön viele Ausländer hier. Da meinte
Aysun: Vielleicht wird es doch nicht so gut mit
Deutschland nach dem Mauerfall.
Ganz schön viele Ausländer – der Satz blieb
hängen. In dem Moment verdichtete sich die
Geschichte, unsere erste Begegnung in der
Nacht des 9. November nahm sie vorweg. 30
Jahre später hat sich der Satz bewahrheitet. Wo-
beider Neonazismus und der Alltagsrassismus ge-
gen die Vietnamesen, Kubaner oder Mosambika-
ner schon damals in der DDR existierte. Woran
das liegt? Der Defa-Regisseur Frank Beyer hat mir
einmal erzählt, wie er 1968 in Prag als Dozent

arbeitete, es habe dort drei Tage ’68 gegeben.
Dann war Schluss. Die Studentenbewegung, der
Aufbruch, der in der Bundesrepublik ja schon mit
den Frankfurter Auschwitzprozessen begann, hat
inderDDRnichtstattgefunden.Diekontaminierte
VergangenheitlagineinemBetonsarkophagbegra-
ben,wie inTschernobyl.
Dass ich später mehrere Filme gedreht habe, die
in der DDR spielen oder von Ostdeutschen erzäh-
len, „Yella“, „Jerichow“ und „Barbara“ mit Nina
Hoss,hatwenigermitdemMauerfallzutunalsmit
dem Wahnsinn der deutschen Teilung. Den habe
ich schon als Kind erlebt. In den Ferien fuhren wir
immerzurVerwandtschaftindieDDR,ichwarmit
meinenElternnieinMallorcaoderFrankreich.Nur
einmal am Goldstrand in Bulgarien. Wir wohnten
imHotelNina,undamStrandwareinStacheldraht
gezogen. Wir Westdeutschen hatten Devisen, die
DDR-Urlauber hatten Spielgeld, man traf sich
zwar,abersiemussteninanderenLädeneinkaufen,
in anderen Strandbuden essen gehen. Unsere sa-
hen schöner aus. Selbst am bulgarischen Strand
sah man sofort, wir sind verschieden. Für uns Kin-
der war das sehr verstörend.
Auch die DDR-Besuche waren eher unange-
nehm. Eigentlich waren meine Brüder und ich die
Kings, wenn wir dort zum Spielen auf die Straße
gingen. Wir hatten Wrigley‘s Kaugummi und spä-
ter Walkmen, wir wurden als etwas Besonderes
angesehen und mochten das nicht. Die Verwand-
ten nannten unser Auto „das fahrende Wohnzim-
mer“, es war irgendwie gespenstisch.
NachdemFallderMauerwurdeesnochgespens-
tischer. Harun Farocki, mit dem ich später meine
Drehbücher zusammen schrieb, hatte Ausschnitte
aus der „Tagesschau“ und der „Aktuellen Kamera“
vomOktober’89zusammenmontiert,indenendie
Leute befragt wurden, wie es nach den Ausreisen

vonDDR-BürgernüberUngarnoderPragweiterge-
hen würde. Im Westen wurden Passanten in der
Fußgängerzone befragt, im Osten gingen die
TV-Teams in die Fabrik. Die Referenz des Westens
istderKunde,diedesOstensderArbeiter.ZweiEr-
zählungen und Referenzsysteme trafen aufeinan-
der,und dieFußgängerzone hatgewonnen.
Im Herbst 1990 sagte unser Seminarleiter Peter
Nestler: Ihr fahrt jetzt alle rüber und filmt die ster-
bende DDR. Also fuhren wir in Orte wie Ebers-
waldeoderNiederfinow.ThomasArslandokumen-
tierte, wie der Mauerstreifen verschwindet, ich
filmteinBiesenthalanderBundesstraße2,dievon
AachenbisStettingeht.AufdemAsphaltlagentote
Hunde, die Tiere dort waren so viel Verkehr nicht
gewohnt.
EinesMorgensbrachenwirschonum5Uhrfrüh
mit dem orangefarbenen DFFB-Bus auf, als uns
noch in Berlin ein gut gekleideter, sturzbetrunke-
ner Mann anhielt. Er wollte ins Forum-Hotel am
Alexanderplatz. Wir sagten, wir seien kein Taxi,
aber er meinte nur, los, ihr kriegt 100 Mark. Er
hatte eine kleine Videokamera dabei, kaufte Filet-
grundstücke, sondierte das Gelände. „Ich filme
diese ganze Scheiße“, sagte er wörtlich, „dieses
hässliche Land.“
Ein paar Jahre später hat Heiner Müller in sei-
nem Langgedicht „Mommsens Block“ festgehal-
ten, wie der Historiker Theodor Mommsen den
vierten Band seiner „Römischen Geschichte“
nicht zu schreiben vermochte, weil er die Deka-
denz und den Untergang nicht beschreiben
konnte. Heiner Müller hatte dieselbe Blockade: Er
konnte den Untergang der DDR nicht beschrei-
ben. Aber der westdeutsche Immobilienhai hatte
kein Problem, ihn zu filmen.
UnserfranzösischerKommilitoneBernardMan-
giantehatdasschnelleEndedesNovember-Glücks

in seinem großartigen Film „Inventur wegen Ge-
schäftsaufgabe“ 1990 festgehalten. Er befragt da-
rin unter anderem die Künstler Gundermann oder
BarbaraThalheim.Siehabenallesverloren,ihrPu-
blikum, ihre Sprache, ihre Geschichten. Worüber
sollten sie jetzt singen? Sie wussten, dass ihnen
lange keiner zuhören würde.
Die Euphorie des 9. November war vorbei. Poli-
tisch, weil das Neue Forum und der Runde
Tisch verschwunden waren, aus der Berichter-
stattung wie aus der Realität. Gesellschaftlich
wegen der Fußgängerzone, weil die Schnäpp-
chenjäger und die „blühenden Landschaften“
schnell alles überdeckten. Dann kam die Treu-
hand. Die friedliche Revolution mündete in eine
Niederlage, im Konkurs.
Das utopische Moment gab es trotzdem. Meine
schönsteErinnerungist der Edeka-LadeninKreuz-
berg, Reichenberger Ecke Forster Straße. Den hat-
ten Freunde aus der DDR aufgemacht, gleich


  1. Sie waren eigentlich Fußballer, einer spielte
    beim FC Dynamo, sie hatten eine tiefe Sehnsucht
    nach vermischtem Leben, vermischten Systemen.
    Und tatsächlich versammelte ihr Laden Menschen
    ausallen Nationenundallen Schichten. Dort beka-
    men auch die Obdachlosen und Alkoholiker was
    zu trinken, aber nur, wenn sie den alten Leuten,
    die nicht mehr auf die Straße konnten, ihre telefo-
    nisch bestellten Lebensmittel nach Hause brach-
    ten. Es war ein fantastisches System, ein Organis-
    mus fernab des Staats, der den sozialistischen Ge-
    nossenschaftsgedanken in die Tat umsetzte.
    Von Walter Benjamin gibt es die Geschichte,
    dass die Revolutionäre von 1789 aufdie Turmuh-
    ren geschossen haben, um die Zeit anzuhalten,
    nachzudenken und einen Plan machen zu können.
    Auch im Jahr 1989 hätte jemand auf die Uhren
    schießenmüssen.


Auf


die Uhren


schießen


„Ihr fahrt jetzt alle rüber und filmt die sterbende DDR.“ Christian Petzold studierte an der Berliner Film- und Fernsehakademie, als die Mauer fiel.

Es gab das utopische Moment.


Doch das Neue Forum verschwand,


und die Schnäppchenjäger kamen.


Über eine Revolution,


die im Konkurs mündete.


Von Christian Petzold


Willy Brandt schaut skeptisch bei
der Kundgebung im Schöneberger Rathaus
am 10. November 1989, neben Walter Momper
und Hans-Dietrich Genscher. Dieses und weitere
Fotos von Christian Schulz sind noch
bis 28. November im Hotel de Rome zu sehen.

Christian Petzold
ist Regisseur,
er stammt aus NRW.
Seine Filme „Yella“,
„Jerichow“ und
„Barbara“ erzählen
ost-west-deutsche
Geschichten.

Fotos: Christian Schulz, Sebastian Hesse, Marco Krüger/Schramm Film

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 WOVON TRÄUMST DU? DER TAGESSPIEGEL 13

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