Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

A


uf die Frage nach Träu-
men und Erwartungen am


  1. November 1989 kom-
    men mir vor allen Dingen
    die starken Emotionen in
    Erinnerung, die mich wie
    viele andere in diesen Ta-
    gen überkamen. Ich habe die Bilder noch
    genau vor Augen: Die vielen Menschen,
    die jubelnd auf der Mauer standen und
    aufden Straßen rund umdasBrandenbur-
    ger Tor, die sich mit Freudentränen
    umarmten. Ein unwirklicher Moment –
    für mich war es ein überwältigendes Er-
    eignis und für meine Generation die wohl
    prägendste Erfahrung.
    Viele Fragen gingen mir in den Tagen
    danach durch den Kopf: Was bedeutet
    das jetzt für Berlin, für das Leben der
    Menschen in unserer Stadt, auch für
    meine Familie und mich ganz persönlich?
    Ich war 1989 24 Jahre alt, hatte meine
    Ausbildung längst abgeschlossen und ar-
    beitete mit meinem Vater in unserer
    Druckerei. Bereits 1981 war ich in die
    SPD eingetreten und im Frühjahr 1989
    frisch in die BVV Tempelhof eingezo-
    gen. Natürlich haben wir hier auch die
    zunehmenden Proteste in Ost-Berlin
    wahrgenommen und die Entwicklungen
    verfolgt und diskutiert. Vieles mit ge-
    mischten Gefühlen, denn es war schwer
    einzuschätzen, wohin das führen würde.
    Es lag etwas in der Luft, aber mit dem Fall
    der Mauer hatte ich, wie viele andere
    auch, nicht gerechnet.
    Die Mauer hatte mich bis dahin fast ein
    Vierteljahrhundert lang begleitet. Sie war
    immer da und auch ein Thema. Aber be-
    droht habe ich mich persönlich durch sie
    nie gefühlt. Das war natürlich die Per-
    spektive eines West-Berliners, der sich,
    im Gegensatz zu den Menschen im Ost-
    teil der Stadt, frei bewegen konnte. Aber
    es gab auch Momente, insbesondere im
    direkten Umfeld der Mauer oder an den
    Grenzübergängen, die einschüchternd
    waren.
    Wieviele Familienhatten auch wirVer-
    wandte in Ost-Berlin und auch in Thürin-
    gen. Die Geschichte meiner Familie war
    somit wie die vieler anderer Familien von
    der Teilung Deutschlands direkt betrof-
    fen. Wir haben regelmäßig Tagesfahrten


über die Grenze unternommen, ob
abendsinsTheater oderzu Familienanläs-
sen – oft auch nach Thüringen. Mit der
Wiedervereinigung verbindet mich so-
mit nicht nur die Euphorie des 9. Novem-
ber 1989, die Aufgeregtheit und Freude
inBerlin, sondernganzpersönlich dieZu-
sammenführung meiner Familie nach 40
Jahren DDR. Ich bin bis heute dankbar
dafür, dass das möglich wurde. Denn wir
allewusstenauch schon damals, dass die-
ser Ausgang der Friedlichen Revolution –
ohne Gewalt – ganz und gar nicht selbst-
verständlich war.
Erwartungen oder besser Hoffnungen
in den Jahren des Umbruchs hatte ich
viele. Der Fall der Mauer bedeutete für
Berlin eine Zeitenwende, einen Aufbruch
in die Freiheit. Schon damals war klar,
dass sich damit die Rolle Berlins in
Deutschland kolossal verändern würde,
nicht sofort, aber langfristig. Dass Berlin
Hauptstadt werden würde, war für mich
als Berliner selbstverständlich, aber ich
hatteeine schnellereEntscheidung erwar-
tet. Was ich unterschätzt hatte, waren die
starken Verharrungskräfte undDiskussio-
nen bei dieser Frage, aber auch die enor-
men Herausforderungen, die auf unsere
Stadt zukommen würden.
Heute können wir sagen: Berlin hat
Wort gehalten, sich als Hauptstadt be-
hauptet und sich zur führenden Metro-
pole nicht nur in Deutschland, sondern

auch in Europa entwickelt. Das war 1989
noch nicht absehbar. Natürlich habe ich
mich damals als junger Mann auch auf
den Weg gemacht, um die ostdeutschen
Länder näher kennenzulernen. Zu Thü-
ringen und hier insbesondere zu Weimar
hatte ich durch die vorherigen Besuche
bei meiner Familie bereits eine enge Ver-
bindung. Und so fuhren mein Vater, mein
Sohn und ich nach dem Fall der Grenze
wieder dorthin.
Es hat mich tief bewegt, dass gerade
diese Stadt nun wieder ein Teil Gesamt-
deutschlands werden könnte, mit ihren
Identitätsfiguren Goethe, Schiller, Her-
der und ihren symbolträchtigen Orten
wie dem Nationaltheater, wo die Natio-
nalversammlung 1919 tagte und sich
die erste demokratische Verfassung gab.
An diesem Ort, der eine so zentrale
Bedeutung in unserer Geschichte hatte
und wo die Errungenschaft der Demo-
kratie und ihr Scheitern so eng beieinan-
derliegen, wird einem die ganze Reich-
weite der Geschehnisse des 9. Novem-
ber 1989 bewusst.
In diesem Jahr konnte ich an den Feier-
lichkeiten zu 100 Jahren Nationalver-
sammlung und Weimarer Reichsverfas-
sung teilnehmen. Für mich war das ein
großes Geschenk und ich habe mich an
diesen Moment in Weimar mit meinem
Vater nach dem Mauerfall noch einmal
zurückerinnert. Natürlich habe ich mich

auch gefragt, wo wir heute eigentlich ste-
hen. Für mich persönlich und meine Fa-
milie haben sich viele Erwartungen und
Hoffnungen, die ich 1989 hatte, erfüllt.
Ich genießemeinefreie,gewachsene Hei-
matstadt Berlin und freue mich, dass nun
meine ganze Familie ihr Leben in Demo-
kratie und Freiheit gestalten kann. Doch
meineFamiliengeschichteistnureinevon
rund 83 Millionen Biografien in Deutsch-
land. Und hinter jeder dieser Biografien
steckt eine ganz eigene Geschichte zum
Umbruch 1989. Die Erfahrungen mit der
Wendesind ebenvielschichtig.
Ich weiß, dass die Folgen für das Leben
der Menschen in Ostdeutschland weitaus
dramatischer waren als für uns in
West-Berlin oder anderen Teilen West-
deutschlands. Unzählige ostdeutsche Er-
werbsbiografien wurden unterbrochen,
viele mussten sich beruflich umorientie-
ren, andere fanden keinen Anschluss,
gerieten in die Arbeitslosigkeit, nicht
selten für Jahre. Sozialer Abstieg und
Existenzängste – auch das waren prä-
gende Erfahrungen für viele und das
wirkt bis heute nach.
Aber nicht nur das: Ich erlebe Men-
schen, die sich in ihrer gesamten Lebens-
leistung und auch im erlittenen Unrecht
auch heute noch nicht wahrgenommen
fühlen. Ihre Stimmen werden jetzt um
den Jubiläumstag laut und das dürfen wir
nicht ignorieren.

Vieles ist in 30 Jahren gelungen, aber
eben nicht alles. Wir haben im Wieder-
vereinigungsprozess Fehler gemacht. Es
ist uns noch nicht gelungen, alle Un-
gleichheiten zwischen Westund Ost kom-
plett abzuschaffen, und ja, damit haben
wir auch Grund zu Enttäuschung gege-
ben.Und genau dasmüssenwir wahrneh-
men und daraus Schlussfolgerungen zie-
hen. Dazu gehört natürlich, dass wir für
gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
Deutschland arbeiten.
In Kürze werde ich den Vorsitz der Mi-
nisterpräsidentenkonferenz Ost überneh-
men und genau das in das Zentrum mei-
ner Arbeit rücken. Darüber hinaus müs-
sen wir gemeinsam – Politik und Gesell-
schaft – denen das Handwerk legen, die
von derEnttäuschung derMenschenzeh-
ren,ihren Populismusdamit nähren, Res-
sentiments schüren und Spaltung betrei-
ben. Auch darin liegt unsere Verantwor-
tung heute – 30 Jahre nach dem Fall der
Mauer: dass wir zusammenrücken und
unsere Freiheit und Demokratie gemein-
sam schützen.
Und dennoch, bei allen Aufgaben, die
noch zu meistern sind: Gemeinsam und
ohne Mauer ein Leben in Freiheit und
Frieden führen zu können, ist ein großes
Glück und keine Selbstverständlichkeit.
Darüber sollten wir uns in diesen Jubilä-
umstagen des Mauerfalls freuen und
dankbar sein.

„Für mich war es ein


überwältigendes Ereignis,


für meine Generation


die prägendste Erfahrung.“


Die Stunde der Erwartungen


Michael Müllerist seit 2014
Regierender Bürgermeister von Berlin.
Der SPD-Politiker ist in Tempelhof
geboren und aufgewachsen.


Dieses Foto sowie
andere dieser Sonder-
ausgabe sind von Nelly
Rau-Häring. Die Foto-
grafin, geboren 1947 in
Basel, hat wie kaum
eine andere das Leben
im Osten und Westen
Berlins von Mitte der
1960er bis in die
2000er Jahre dokumen-
tiert. Dabei folgte sie
zwei Leidenschaften:
der Begeisterung für
Fotografie und der Neu-
gierde auf Menschen.
So wurde sie zu einer
Chronistin der Stadt.
Dieses Bild entstand
1994 in der Nähe des
Potsdamer Platzes.
Die Ausstellung „Ost/
West Berlin – Nelly
Rau-Häring“ eröffnet
am 9. November im
„f3 - freiraum für foto-
grafie“ in der Waldemar-
straße 17 in Kreuzberg.

Mit meinem Vater


und meinem Sohn fuhr


ich nach dem Mauerfall


durch Thüringen.


Die Wende führte


unsere Familie


wieder zusammen.


Das Jubiläum macht


mich dankbar, doch


in 30 Jahren wurden


auch Fehler gemacht.


Von Michael Müller


Fotos: Nelly Rau–Häring, Ottmar Winter

14 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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