Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

E


s war der frühe Abend des


  1. November 1989, als SED-
    Spitzenfunktionär Günter
    Schabowski seinen berühmt-
    berüchtigten Versprecher zum
    gelockerten Reisegesetz in die Mikrofone
    derJournalisten stammelte. Ein Verspre-
    cher, der weitreichende Folgen nach sich
    ziehen sollte: In Massen strömten die
    Ost-Berliner nocham selben Abendzu
    den Grenzanlagen undverlangten, inden
    Westendurchgelassen zu werden. Aber
    nicht nur zu Fußwaren Zehntausende un-
    terwegs – auch auf den S-Bahnhöfengab
    es schnell kein Durchkommen mehr. Ihr
    Reiseziel:GoWest(undwieder zurück)!
    Esgabnur ein Problem: Mitdem Mau-
    erbau war auchdas Berliner S-Bahn-Netz
    geteilt worden; alle Linien waren anden
    Nahtstellen zwischen Ost undWest unter-
    brochen – mit Ausnahmeder Stadtbahn
    und der Nordsüd-S-Bahn,die am Bahnhof
    Friedrichstraße miteinander verknüpft
    waren. Aber auch von dort durfte keine
    S-Bahn mehr vomOstteil der Stadt in den
    Westen und umgekehrt durchfahren. 28
    Jahre lang hieß es daher am Grenzbahn-
    hofFriedrichstraße sowohl aus Richtung
    Westen wie aus RichtungOsten: „Dieser
    Zugendet hier und fährt zurück“.


Was damals passiert war, verrät ein kur-
zer Blick in die Geschichtsbücher:Gegen
Mitternacht des 13. August 1961platz-
te Otto Arndt, Direktionspräsident der
Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR,
die injenen Tagen das Gesamtberliner
S-Bahn-Netz betrieb,in die Leitstelle. Sei-
ne unglaubliche Nachricht: Der Verkehr
mit West-Berlin wird sofort eingestellt!
Zurgleichen Zeit öffnete der Fahrdienst-
leiter am Bahnhof Friedrichstraße einen
Briefmit derselben Nachricht und stell-
te das Ausfahrtsignal auf Halt. Schlag
auf Schlagwurden in den kommenden
Stunden Eingängezugemauert, Strom-
schienen abgebaut und Gleisstücke her-
ausgesägt, um den Verkehr von Ost nach
West zu unterbrechen. Ganze Bahnhöfe
wurden von einem Tagauf den anderen
stillgelegt und verkamen zu „Geister-
bahnhöfen“,die ohne Halt durchfahren
wurden.
Was den S-Bahnern nun – 28Jahre
später – zugute kommen sollte: Bis 198 4
wurdendiebeiden S-Bahnteilnetze in Ost
und West durch die Deutschen Reichs-
bahn(DR)der DDR gesteuert. Und selbst
nach der Übernahme des Westnetzes
durch die BVG imJahr 1984 hatte sich
die Reichsbahn der DDR die Möglichkeit
offengehalten, Züge zwischen Ost und
West überführen zu können. So konn-
ten über die beiden Fernbahngleise des
Grenzbahnhofs Friedrichstraße bei Be-
darf S-Bahnzüge zwischen beiden Stadt-
hälften ausgetauscht werden – natürlich
ohne Fahrgäste. Es brauchte nur kurz-
zeitigder Strom eingeschaltet zu werden,
und schon warenÜberführungsfahrten
zwischen Wannsee und Schöneweide
möglich.
Hinzu kommt: Viele West-Kollegen
von damals hatten 19 8 4 nur die Uniform
gewechselt und arbeitetenjetztfür die
BVG. Auch auf Arbeitsebene beider Bahn-
betreiber wurde weiterhin sachlichunter
Berücksichtigungderpolitischen Verhält-

D


a waren sich die beiden S-Bahn-
Betreiber BVG und Reichsbahn
schnell einig. Zwar hatte man
aufbeiden Seiten der Mauer erst in
den 1980ern neue Züge(im Westen die
Baureihe 480,im Osten die Baureihe
270, heute 485) entwickeln lassen, die-
se wurden den neues Betriebsanforde-
rungen aber nicht mehrgerecht.
Heute bilden die 500 Viertelzüge
der Baureihe 481,die von 1996 bis
2004 ausgeliefert wurden, das Rück-
grat der Berliner S-Bahnflotte – und
werden es dank eines besonderen Mo-
dernisierungsprojekts, das die Länder
Berlin und Brandenburggemeinsam
stemmen, auch noch lange blieben.
Nach 15Jahren im täglichen Betrieb
sorgt das nun angestoßene Projekt
Langlebigkeit dafür, dass mindestens
noch einmal 15Jahre hinzukommen.
Dazu werden sämtliche Viertelzüge
der 4 8 1 in der S-Bahn-Werkstatt Schö-
neweide aufHerz und Nierengeprüft,
bei Bedarf saniert und mit einer neu-
en, modernen Inneneinrichtungaus-
gestattet.
Welche Züge die Modernisierung
bereits hinter sich haben,können Sie
übrigens leicht erkennen: Von außen
erhältdie Baureihe 481 nämlichei-
nen neuen Look, der sich am Design
der brandneuen S-Bahn-Baureihen
4 83/484 orientiert, die ab 2021 auf
Berliner Gleisen unterwegs sein wird:
mehr Ocker, weniger Rot, die Türen
schwarz lackiert.

Auf der einen Seite die BVG, auf der anderen


die Reichsbahn der DDR: Der Mauerfall


am 9. November 1989 traf auch die geteilte


S-Bahn völlig unerwartet. Wie schnell


und unbürokratisch damals gehandelt wurde,


um dem Massenansturm Herr zu werden,


zeigt: Eisenbahner bleibt Eisenbahner



  • egal ob Ost oder West


Schon kurz nach dem


Mauerfall stand fest:


Ein wiedervereinigtes


S-Bahn-Netz in einer


wiedervereinigten


Hauptstadt braucht eine


einheitliche, moderne


Baureihe!


Kind der


Wieder-


vereinigung


S-BAHN BERLIN
Verantwortlich für den Inhalt
S-Bahn Berlin GmbH
Vorsitzender der Geschäftsführung:
Peter Buchner,
Elisabeth-Schwarzhaupt-Platz 1,
10 115 Berlin
Redakteur:Jens WiesnerTexte:Jens Wiesner
Fotos:Michael Müller, Matthias Arndt,
S-Bahn Berlin

IMPRESSUM

S-BAHN BERLIN


nisse zusammengearbeitet, so dass viele
Dinge aufaufdem kurzen Dienstweg ge-
regelt werden konnten. Diese Kollegialität
unter Eisenbahnern,dieser„kurze Draht“
zueinander, sollte sich nun bewähren.
Denn schnell wurde klar: Mit dem norma-
len Nachtfahrplan war dieser Menschen-
masse kaum Herr zu werden.

„Der Bahnsteig in Friedrichsstraße war
schwarz (vor Menschen)!“erinnertsich
Triebfahrzeugführer Dieter Müller, der
damals Nachtschicht hatte. Müller ge-
hörte zu den wenigen Ost-Eisenbahnern,
die die Staatsgrenze zwischen Berlin-Ost
und Berlin-West überqueren durften.
Kurz hinter der Grenze am alten Lehrter
Stadtbahnhof (hier befindet sich heute
der neue Hauptbahnhof) musste nämlich
ein Ost-Reichsbahner den Zugaus dem
Westen übernehmen und zum Bahnhof
Friedrichsstraße hin und wieder zurück
pendeln – bis zu 30 Mal während einer
Schicht. Mit diesem Personalwechsel soll-
te sichergestellt werden, dass sich keine
Flüchtlinge aus der DDR in den Wagen
versteckten.
Doch statt sich in diejubelnden Massen
einzureihen, blieb Müller aufseinem Pos-
ten – auchunter widrigsten Bedingungen.
„Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr
auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich
sahwie ‚Schlumpi‘ aus undwar mit Sekt

„Beim Führerstands-


wechsel, als ich so am Zug


entlang ging und mir


meine Fahrgäste in den


einzelnen Wagen betrach-


tete, fiel mir auf, daß viele


Fahrgäste, die eben mal


kurz "drüben" waren, eine


Westzeitung lasen. Für


mich war es einungewohn-


ter und unvergesslicher


Anblick gewesen.“


Wiedervereinigung auf der Strecke


Wie die S-Bahn in den Strudel der Geschichte geriet


ANZEIGENSONDERVERÖFFENTLICHUNG

Dieter Müller
Triebfahrzeugführer der ostdeutschen
DR-S-Bahn, im Pendelverkehr zwischen
Lehrter Stadtbahnhof und Friedrichstraße

Henning Brendel
Triebfahrzeugführer
der ostdeutschen
DR-S-Bahn

„Das tritt nach meiner


Kenntnis ... ist das sofort,


unverzüglich.“


ten, wurden die Ost-Wagen in die Mitte
der West-Züge eingereiht. Und sofuhren
sie erstmals seit 1984 wieder Seit an Seit,
die S-Bahn West und die S-Bahn Ost.
Wer allerdingsglaubte, dass der An-
sturm mit der ersten Nacht nachlassen
sollte, wurde bald eines Besseren belehrt.
Alles, was sich irgendwie auf die Schie-
ne bringen ließ,fuhr nun; die S-Bahn-
Fahrpläne in Ost und West wurden aufs
maximalmögliche erweitert. Schließlich
hatte nun auch noch das Wochenende
begonnen – undganz Berlingenoss die
neue Reisefreiheit. In vollen Zügen, aber
glücklich. Der Tagesspiegel vom 11. No-
vember berichtet von chaotischen Zustän-
den und Gedrängel auf den Bahnsteigen
der Friedrichsstraße – wohlgemerkt in
beide Richtungen – und zitiert einen älte-
ren Herren: „Det hab ick ooch noch nich
erlebt,daß ma anstehen,um wieder rin
zu kommen“,
Und auch sonst bewegte sich in diesen
turbulenten Tagen so einiges, was über
Jahre nicht so einfach umzusetzen war.
Spontane Absprachen zwischen BVG,
Reichsbahn und DDR-Grenzern waren in
der Euphoriedes Moments möglich,die
vorher undenkbar schienen. Dr. Wolf-
Ekkehart Matthaeus,1989 Betriebsleiter
bei der DR-S-Bahn, erinnert sich, wie lapi-
dar ein Grenzkommandant reagierte, als
eine Signalschaltungangesprochen wur-
de, die einen schnelleren Verkehrsfluss
zwischen Lehrter Bahnhof und Friedrich-
straße seit 1984 verhindert hatte:„Baut
das Dingdoch aus“.

Doch bei der spontanen Zusammenar-
beit sollte es nicht blieben.Als mit der
Währungsunion am 1.Juli 1990 auch alle
Grenzkontrollen abgeschafft wurden, war
klar: Die Wiedervereinigungdes Berliner
S-Bahn-Netzes ist nicht mehr aufzuhal-
ten. Gleise,die seit dem Mauerbau unter-
brochen waren,wurden nun wiederher-
gestellt - und zwar in Rekordzeit! Bereits
amfrühen Morgen des 2. Julifuhr mit
„Berta 7“ der erste Zugaus dem Osten
über den Bahnhof Friedrichstraße wieder
in RichtungWesten – aufGleisen, die zu-
letzt 1961genutzt worden waren. Ironie
der Geschichte: Mit im Wagen saß aus-
gerechnetjener Triebfahrzeugführer, der
am Tagdes Mauerbaus den letzten Zug
nach West-Berlin überführt hatte.

Als wieder


zusammen-


wuchs,


was immer


zusammen


gehörte


bespritzt von ‚Hacke bis Nacke‘.“ So wie
Müller verhielten sich viele Lokführer –
im Osten wie im Westen. Sie meldeten
sich freiwillig zu Zusatzdiensten (oder
konntenfreundlich dazu überredet wer-
den)und legten zahllose Überstunden ein.
Spontan umdisponiert wurde auch auf
der Leitungsebene: Statt im Zehn-Minuten-
Taktfuhren diegerammelt vollen S-Bah-
nen im Westen nun teils alle fünf Minuten
die Nachthindurchundwurden, wo es
ging,aufacht Wagen verstärkt. Doch wo-
her die zusätzlichen Wagen nehmen? Die
Idee lagfern und doch so nah: Aus dem
Osten natürlich! Kurzerhand bat die BVG
bei der Reichsbahn um Verstärkung.
Der Ruf wurde erhört: Schon am
Abend des 10. November trafen via Fried-
richstraße zwei S-Bahn-Vollzüge der DR
in West-Berlin ein, um den Wagenpark
der BVG zu verstärken – die ersten von
vielen. Weil ihr Funksystem allerdings
nicht kompatibel mit dem der Westfahr-
zeuge war und die Schilderkästen die
Westhaltestellen nicht anzeigen konn-

„Ich setzte mich zuhause


hin und entwarf Konzepte,


wie am bevorstehenden


Wochenende der zu erwar-


tende Ansturm auf die


S-Bahn bewältigt werden


könnte. ( ... ) Als erstes habe


ich am nächsten Tag die


geplanten Wochenend-


Bauarbeiten abgesagt, was


mir anfangs noch Ärger der


betroffenen Stellen eintrug.


Erste Vorbereitungen zu


deren Ausführung waren ja


schließlich getroffen


worden.“


Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus
198 9 Betriebsleiter bei der
ostdeutschen DR-S-Bahn

„In der Nacht vom 9. zum



  1. November 1989 hatte ich


Nachtdienst. Ich kam in


Friedrichstraße mit meinem


Halbzug an und der Bahn-


steig war schwarz. Ich


konnte zum Führerstands-


wechsel nicht mehr nach


vorne durch und musste


dann seitlich auf der bahn-


steigabgewandten Seite


des Zuges entlang laufen.


Vorne angekommen, kam


ich nicht in den Führerstand


hinein. Also fragte ich die


Fahrgäste: ‚Wollt ihr in den


Westen?‘ – ‚Ja!‘ – ‚Dann


müsst ihr mich aber erst


rein lassen – sonst fährt hier


nichts.‘ Man machte mir


Platz und bot mir auch gleich


noch an, aus den mitge-


brachten Sektflaschen einen


Schluck zu nehmen, was


ich ablehnte. Die nächtliche


Betriebspause fiel aus und


wir fuhren die ganze Nacht


mit dem Halbzug hin und


her. Ich hatte zum Schluss


keinen Hut mehr auf, keinen


Knopf mehr an der Jacke,


ich sah wie ‚Schlumpi‘ aus


und war mit Sekt bespritzt


von ‚Hacke bis Nacke‘.“


Ost knutscht West:
In den Tagen nach dem Mauer-
fall wurden S-Bahn-Wagen
der DR (l.) und der BVG (r.)
zusammengekuppelt.

1 984 gab es am Bahnhof
Friedrichstraße noch
strikt getrennte Gleise
für die Züge Richtung
Osten und Westen.

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