Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

H


eiligabend 1989 klingelt Werner Krätschell
bei dem Mann, der noch ein paar Wochen
zuvor die Macht gehabt hätte, das Leben
des evangelischen Pfarrers zu zerstören.
Beide kennen sich nicht persönlich. Doch
EgonKrenzlässtden PankowerSuperinten-
denten ein, dessen Pfarrhaus über lange
Jahre ein Treffpunkt der DDR-Opposition war. Krenz emp-
fängt ihn mit den Worten: „Wissen Sie, von den Genossen
kommt keiner mehr. Aber mein Pastor.“
Während Ost- und West-Berliner selig das erste gemein-
same Weihnachten nach dem Mauerfall feiern, ist der Pfarrer
seinem „Tick“ gefolgt, wie er heute sagt: Heiligabend geht er
regelmäßig dorthin, wo weihnachtliche Wärme fehlt. „Ich
wusste, zehn Minuten von mir entfernt wohnt Egon Krenz
nach seinem tiefen Sturz.“ Drei Stunden sprechen die Män-
ner miteinander, worüber genau, bleibt beider Geheimnis.
„DerInhalt unterliegt der seelsorgerischen Schweigepflicht“,
sagt Krätschell 30 Jahre später. Nur so viel: Es stellt sich
heraus, dass Krenz getauft und konfirmiert wurde.
Zuhören, miteinander reden, Argumente diskutieren – da-
mit ist der Osten Deutschlands durch die Monate nach Mas-
senprotesten und Mauerfall gekommen, ohne dass es großes
Chaos oder gar Mord und Totschlag gegeben hätte. Die Me-
thode des Ausgleichs zwischen widerstreitenden Kräften ha-
ben die Runden Tische jener Zeit geradezu perfektioniert;
Krätschell ist einer von drei Moderatoren des Ost-Berliner
Gremiums, in dem Vertreter der friedlichen Revolution und
des DDR-Systems vertreten waren. Tagungsort war das Rote
Rathaus. Erzählt der heute 79-jährige Pfarrer im Ruhestand
von den aufregenden Tagen, so ist schnell klar: Die konstruk-
tiveAtmosphäreamRundenTischhätteergernindieheutige
Zeitgerettet.„Worthülsenwarendamalsnichtzuhören“,sagt
er. „Das änderte sich erst, als die Westparteien Einzug im Os-
ten hielten.“ Ihnen hält er obendrein bis heute vor, während
derTeilungzusehraufdieMächtigeninderDDRfixiertgewe-
senzu seinund zu wenig aufsVolk.
„ImSchlossSchönhausenhabendieKlinkengeglüht“,spot-
tetKrätschellüberdiezahlreichenBesuchevonPolitikernaus
derBundesrepublikimGästehausderDDR-Regierung.Keine
fünfMinutenentferntvomgutgesichertenSchloss:dasPanko-
wer Pfarrhaus, in dem sich seit Anfang der 1980er Jahre viele
Mitglieder der DDR-Opposition treffen. Die Stasi hält das
Ganze für so gefährlich, dass sie 30 Inoffizielle Mitarbeiter
spitzelnlässt.AlleinaufKrätschellwarensechsIMangesetzt.
Auch sein Stellvertreter als Superintendent hat Berichte ge-
schrieben, erpresst von der Staatssicherheit.
Trotz der Drangsal zu Mauerzeiten warnt Krätschell heute
davor, dasBild vom Lebenin der DDR aufgrund vonErkennt-
nissenaus Stasi-Akten zumalen. Zum einenhätte die Opposi-
tion – aus naheliegenden Gründen – die eigene Arbeit in den
seltensten Fällen dokumentiert. Zum anderen fehlt in den
Unterlagen des Geheimdienstes etwas Entscheidendes: dass
es „oft menschlich eindrucksvolle Zeugnisse der DDR-Zeit“
gibt, die sich am besten als „aufrechter Gang“ beschreiben
lassen. Nicht „das Dunkle“ dürfe bestimmend sein, sagt Krät-
schell deshalb, vielmehr müsse das „Helle“ in den Fokus ge-
rückt, Neugier auf Theater, Malerei und Musik des Ostens
geweckt werden. Und auf die Predigten in den Kirchen: „Die
waren kernigerunddem Evangelium oftnäher.“
Da ist nur ein Problem: Helle Köpfe, die sich für das Helle
aus DDR-Zeiten interessieren, gibt es nach Meinung Krät-
schellszuwenige.„Aufbiszu80ProzentderFührungspositio-
nen an wichtigen Stellen der Gesellschaft sitzen Menschen,
dienichtinderDDRgelebthaben“,sagtderTheologe.Soent-
steheeinverzerrtesBildvomLebendort.„Ichträumedavon“,
so sagt er deshalb, „dass sich in Ostdeutschland eine ähnliche
DurchmischungvonEinheimischenundZugezogenenergäbe
wie in den westdeutschen Bundesländern“. Dann brauche er
auch nicht mehr „die ewig wiederholte und fast zynische
Frage“ zu beantworten, ob sich die Ostdeutschen als Bürger
zweiterKlasseempfänden.
Geboren und aufgewachsen ist Krätschell im Pankower
Ortsteil Heinersdorf. Sein Vater ist Pfarrer, so wie seit
Generationen mindestens einer aus der Familie. Als Kriegs-
kind hat ihn die Zeit der Bombennächte geprägt, wenn
nicht gar traumatisiert. „Wenn ich den Krieg in Syrien
sehe und eines der Kinder dort, dann denke ich: Solch ein
Kind bin ich auch gewesen.“ Zur Schule ist er erst in
Pankow, später in Wedding gegangen, da war Berlin zwar
schongeteilt, aber dieGrenze noch offen.
Als sich das schlagartig am 13. August 1961 ändert, macht
der junge Krätschell gerade Ferien in Schweden. Illegal ist er
dorthin gereist, ohne die Genehmigung der DDR-Behörden.
Er wählt aber nicht die Freiheit, sondern kehrt zurück nach
Ost-Berlin zu seinen Eltern – und zum Theologiestudium.
Endeder60erJahretrittKrätschelleinePfarrerstellean,inder
alten Heimat Pankow, Ortsteil Buchholz. Ab 1979 ist er dann
Superintendent für 24 evangelische Kirchengemeinden im
Norden Ost-Berlins. Seine Stellung in der Kirche macht es
möglich, dass er zu Mauerzeiten in den Westen reisen kann,
unteranderemnachGroßbritannienundindieUSA.„Ichwar
einseltenerVogel“, sagt er,sich seiner privilegiertenStellung
bewusst. Nicht selten ist er bei den Reisen unglücklich – weil
erdieEindrücke nicht mitFrauund Kindernteilenkann.


Die seiner Meinung nach verengte Sicht auf den Osten
macht der Theologe beispielhaft am Namen einer Institution
fest: „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – da
weiß man doch schon, was kommt“, sagt Krätschell ironisch.
Seine Kritik geht aber noch weiter. Während des Vereini-
gungsprozesses hätten die Westdeutschen zu wenig auf die
Ostdeutschen gehört, was diese sich für ein vereintes
Deutschland wünschen – oder auch nicht. Dass die demogra-
fischen Mehrheitsverhältnisse nicht gerade dafür gespro-
chen haben, lässt Krätschell nicht gelten. Es hätte Anerken-
nung finden müssen, dass die Ostdeutschen stärker für den
Zweiten Weltkrieg gebüßt hätten.
„Das Leben unter dem DDR-System, gerade für uns Kir-
chenleute, war die Folge des Zweiten Weltkrieges“, sagt Krät-
schelldazu.„EinGrundgefühlbeimirundGleichgesinntenzu
DDR-Zeitenwar:WirakzeptierendasDefizitunseresLebens,
weileseinegerechteStrafefürdenHochmutderDeutschenin
derNazizeitwar.“DochdafürhabedemWestendasGespürge-
fehlt.StattdessenhabeerseineMaßstäbeundSpielregelndem
Osten übergestülpt. Darin sieht Krätschell auch einen der

Gründe, weshalb die AfD bei den Landtagswahlen in Bran-
denburg, Sachsen und Thüringen so stark geworden ist.
Über die Monate vor und nach dem Mauerfall hat Krät-
schelleinspannendesBuchgeschrieben. „DieMachtder Ker-
zen“ heißt es, und es beschreibt anschaulich ein Wunder:
dass eine Revolution friedlich verlaufen kann. Von den paar
Blumentöpfen abgesehen, die von den Balkonen neben
Stasi-Leuten niederkrachten, als diese im Wendeherbst ’89
gegen Demonstranten in Prenzlauer Berg vorgingen.

— Beim Gedenkgottesdienst im Dom am 10. November,
10 Uhr, hält Werner Krätschell die Predigt. Anschließend spricht
der britische Historiker Timothy Garton Ash zum Mauerfall.

Sebastian Krumbiegel:Gerade waren wir als Band
amBrandenburgerTor, sindgemeinsam hindurch-
spaziert. Früher stand ich als Kind oft davor und
habe gesehen, dass es nicht weitergeht. Und das
Schöne ist: Das Leben geht immer anders weiter,
als man denkt.
Henri Schmidt:Endlich alles von der Welt zu se-
hen, frei zu sein – das war mein Traum vor 30
Jahren. Was mich heute überrascht: Inzwischen
bin ich länger Bundesbürger als DDR-Einwohner.
So alt bin ich geworden.
Sebastian Krumbiegel:Mein Traum war immer,
MusikzumachenfürmöglichstvieleLeute.Alsdie
Mauerfiel,warenwiralsBandsogrößenwahnsin-
nig zu sagen: Dann werden wir eben gesamtdeut-
sche Popstars. Was wir im Osten angefangen ha-
ben, machen wir im Westen weiter. Dass es am
Ende tatsächlich so gekommen ist, hing natürlich
mit vielen Zufällen zusammen – und mit Men-
schen, die uns geholfen haben. Und hey, wir
haben den Zeitgeist getroffen damals: die
Freude, die Euphorie – alle lagen sich weinend
in den Armen und haben gesungen. Aber dann
ist es gekippt. Heute würde ich mir schon wün-
schen, dass wir mehr aufeinander zugehen –
dass Osten und Westen nach dem Gemeinsamen
suchen. Ossi und Wessi – das kommt zurück. Ich
findedassehr schade.
Tobias Künzel:Das liegt eben an der Herkunft. Die
Kinderbekommen die Erfahrungen, auch dieman-
cher Zurücksetzung durch den Westen, von ihren
Eltern mit. Ich glaube, das dauert noch 50, 60, 70,
ach was, 100 Jahre, bis sich das wirklich verwach-
sen hat. Das klingt für manche jetzt sicher wie ein
Albtraum.
Sebastian Krumbiegel:Unterschiede gibt es im-
mer,dasistnichtschlimm.SelbstLeipzigundDres-
den sind sich nicht gleich. Es geht auch nicht um
Gleichmacherei,sondernumgleicheChancen.Da-
rum, dass man den Osten nicht aufgibt, ihn nicht
einfach abtut: Da drüben ist die AfD-Kacke am
Dampfen, lasst uns mal schnell die Mauer wieder
hochziehen. Nein, wichtig ist, die Abwanderung
derjungenLeutezustoppen.UndmehrAustausch
zuhaben.
Wolfgang Lenk:Wenn wir in Ostdeutschland als
Band unterwegs sind, merken wir, was für ein
Glück wir hatten. Für uns als Musiker ging es
nach dem Umbruch erfolgreich weiter, für viele
wardas nicht selbstverständlich.Auchviele Musi-
ker mussten sich durchkämpfen.
Jens Sembder:Unterschiede gab und gibt es eben
auch im Osten. Das sollte keiner vergessen.
Tobias Künzel:Das Schönste heute ist, dass man
überalles reden kann. Manmussnichtmehr heim-
lich träumen.

So viel


Glück!


Der Hell-Seher


von Pankow


Die Prinzenstammen aus Leipzig und
sind eine der erfolgreichsten deut-
schen Musikgruppen – mit Hits wie
„Alles nur geklaut“, „Du musst ein
Schwein sein“ und „Deutschland“.

Sanfter Widerstand.
Viele Kirchen waren
vor der Revolution Orte,
an denen die Opposition
sich traf. Auch in der
Gethsemanekirche in
Prenzlauer Berg fanden
Friedensgebete statt, wie
hier am 9. September 1989.

Werner Krätschell,ehemaliger Panko-
wer Superintendent, war vor 30 Jahren
einer der drei Moderatoren des Ost-
Berliner Runden Tisches, der im Roten
Rathaus tagte.


Die Band „Prinzen“ erfüllte


sich ihren Traum – obwohl


er größenwahnsinnig war.


Aufgezeichnet von Robert Ide


In Werner Krätschells Pfarrhaus traf sich die DDR-Opposition,


drangsaliert von der Stasi. Heute träumt er davon, dass


nicht das Dunkle das Bild vom Osten bestimmt.Von Björn Seeling


Fotos: Rolf Zöllner/Imago, Mike Wolff, Sven Darmer

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 30 JAHRE MAUERFALL DER TAGESSPIEGEL 23

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