Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

I


n meinen ersten Monaten in
Deutschland hörte ich einen
Witz aus den 90er Jahren: Was ist
der Unterschied zwischen einem
Türken und einem Sachsen? Der
Türke spricht Deutsch und hat Arbeit.
Ich frage mich, was mir dieser Witz
vermitteln sollte. Sollen Türken darauf
stolz sein, dass sie besser als Sachsen
sind? Oder sollen Sachsen mehr arbei-
ten und Hochdeutsch lernen, damit sie
zumindest wie Migranten behandelt
werden können? Sachsen warenmit die-
sem Witz bestimmt nicht glücklich.
Wenn ich Empfehlungen von West-
deutschen über Ostdeutschland be-
komme, lauten sie meistens: „Geh nicht
dorthin.“ Wir verbinden mit den östli-
chen Bundesländern nicht eine Ge-
schichte von Befreiung und Einheit,
sondern rechtsextremistische Angriffe
und Neonazis. Auch diejenigen meiner
Freunde und Bekannten, die noch nie
im Osten waren, die nicht in Deutsch-
land aufgewachsen oder so wie ich erst
vor wenigen Jahren nach Deutschland
gekommen sind, empfinden das so.
Ihre Vorstellungen über den Osten ha-
ben sich zu Vorurteilen entwickelt.
Es stimmt, nach der Wende hat der
Rechtsextremismussein Gesicht im Os-
ten stark gezeigt. Rechtsextremistische
Ideen können in einer Gesellschaft, in
der viele mit Armut und Arbeitslosig-
keit kämpfen, leichter wachsen. Und in
solchen Situationen suchen viele einen
Sündenbock – in diesem Fall sind das
die Flüchtlinge. Aber man findet in al-
len Ländern Sündenböcke!
Anfang der 90er Jahre waren Kurdin-
nen und Kurden die Sündenböcke in
der Türkei. In den kurdischen Gebieten
litten die Menschen unter den militäri-
schen Auseinandersetzungen zwischen
dem türkischen Staat und der PKK.
Viele mussten ihre Dörfer verlassen


und sind in den Westen der Türkei ge-
wandert, wo es Arbeit, Wirtschaft und
Infrastruktur gab.
Bis dahin waren die Grauen Wölfe,
die türkischen Rechtsextremisten, eher
eine nationalistische Bewegung, die
den Kommunismus bekämpfte. Nach
dem Ende der Sowjetunion, als die Kur-
den in der türkischen Gesellschaft stär-
ker sichtbar wurden, wandten sich die
Grauen Wölfe und deren Partei MHP
gegen die Kurden. Kurden konnten we-
der ihre Sprache sprechen, noch sich
selbst als Kurden bezeichnen. Bis heute
können sie das nur mit Einschränkun-
gen tun. Die MHP ist übrigens Koaliti-
onspartner der Regierungspartei AKP.
Es gibt also Vorurteile gegenüber
Menschen aus dem Osten Deutsch-
lands, ebenso wie es Vorurteile gegen-
über Menschen aus dem Mittleren Os-
ten gibt. Wir haben etwas gemein-
sam: Menschen neigen dazu, andere
Gruppen pauschal zu verurteilen. Pau-
schale Urteile sind aber immer falsch.
Klar, Rechtsextremisten organisieren
sich häufig im Osten. Wir wissen aber,
dass es auch im Osten Menschen gibt,
die demokratische Werte hochhalten,
die progressive Bewegungen organisie-
ren und sie verbreiten wollen. Ich
träume davon, dass sie irgendwann er-
folgreich sein werden, im Osten
Deutschlands und in der ganzen Welt.
Deswegen ist es so wichtig, dass
das Einkommensgefälle zwischen dem
Osten und Westen abgeschafft wird –
dann wird auch der Einfluss der
Rechtspopulisten zurückgehen. Die
Menschen im Osten dürfen nicht im
Regen stehen gelassen werden. Wir
brauchen eine interkulturelle Gesell-
schaft, in der die Menschen sich nicht
nur gegenseitig respektieren, sondern
auch gut miteinander umgehen und
leben. Davon träume ich! „Wir sind
das Volk“ war ein Protestmotto. Das
soll aber nicht heißen, dass die ande-
ren nicht zum Volk gehören.

V


or vier Jahren hätte ich mir
nicht vorstellen können,
dass ich jemals eine Verbin-
dung zur deutschen Ge-
schichte haben könnte – und
noch vor einem Jahr hatte ich keine
wirkliche Vorstellung von der Ge-
schichte der Mauer. Das änderte sich
erst, als ich das Glück hatte, bei einem
Studentenausflug mitder Kiron Univer-
sity die East Side Gallery in Friedrichs-
hain besichtigen zu dürfen.
Es war ein trockener, windiger Tag,
und um die East Side Gallery herum
herrschte viel Betrieb, als wir mit den
vielen anderen Touristen um die Reste
der Mauer herumgingen, fotografierten
und unserem Stadtführer zuhörten. Er
erzählte uns von dem einzigartigen Er-
eignis des Mauerfalls und dem histori-
schen Hintergrund, und ich wurde von
meinen Gefühlen überwältigt. Meine
Gedankendrehtensichum den Kolonia-
lismus, um die vielen Filme und Ge-
schichten, die ich über die Sklaverei in
Afrika gesehen und gehört habe.
Ich habe drei Jahre lang im Dreilän-
dereck zwischen der Schweiz, Frank-
reich und Deutschland gelebt. Dort
habe ich zwar von der Mauer gehört,
aber ich konnte keine Vorstellung da-
von gewinnen, wie es für die Deut-
schen war, eingesperrt und getrennt
von ihren Liebstenzu leben, wiesie den
Mauerfall unddie EinheitDeutschlands
erlebt haben. Erst vor einem Jahr bin
ich nach Berlin gezogen. Meine Woh-
nung ist nur einige Gehminuten vom
Mauerpark entfernt, von der Gedenk-
stätte Berliner Mauer und der berühm-
ten Bernauer Straße. Dort gehe ich oft
spazieren und vertiefe mich in die Bil-
der und Geschichten, die dort ausge-
stellt sind.
Kurz nach meinem Umzug nach Ber-
lin war ich bei einer Weihnachtsfeier in
Brandenburg eingeladen. Der Großva-
ter meines WG-Mitbewohners erzählte
mir von seinen Erfahrungen während
der Zeit, als die Mauer stand und fiel.
Durch meine Gespräche mit ihm erfuhr
ich aus erster Hand, wie sehr die Berli-
nerundDDR-Bürgerin dieser Zeitgelit-
ten haben. Das hat mir wehgetan. Denn
es erinnerte mich an die 22 Jahre Dikta-
tur in meinem Land. Ich hatte immer
gedacht, Deutschland sei ein hoch ent-
wickeltes europäisches Land – mir war

nicht klar, dass es auch hier so furcht-
bare Zeiten gegeben hat.
Für viele Berliner war der Tag der
Maueröffnung der schönste Tag ihres
Lebens: der Tag, an dem sie nach einer
friedlichen Revolution ihre Stadt und
ihreFreiheitzurückgewannen.Das erin-
nert mich an den Tag vor zwei Jahren,
alsmein Land dasEnde derDiktaturfei-
erte – wie gerne wäre ich dort gewesen,
um in den Straßen von Banjul mit den
anderen Gambiern zu feiern!
Der Fall der Mauer am 9. November
1989 ist aus meiner Sicht nicht nur ein
Fest für Deutsche, sondern auch für
Migranten und Flüchtlinge. Es gibt im
Englischen die Redewendung „He who
feels it knows it“ (Wer es fühlt, weiß es)


  • wenn Menschen so tiefgreifende Er-
    fahrungengemacht haben wiedieDeut-
    schenmit der Teilung und Wiederverei-
    nigung,dann kann dasdie Toleranz und
    das multikulturelle Verständnis för-
    dern. Aber sind wir ein Teil dieser Ge-
    schichte, wir,die Migrantenund Flücht-
    linge? Auch drei Jahrzehnte danach
    wird die Geschichte von Mauerfall und
    Wiedervereinigung vor allem als eine
    weiße deutsche Geschichte gesehen.
    Meine Hoffnung, mein Traum ist, dass
    der Gedanke der Einheit weiter gefasst
    wird und alle einschließt. Wir sind viel-
    leicht kein Teil Deutschlands von An-
    fang an, aber ich träume davon, dass
    Deutschland ein kosmopolitischeres
    Land werden wird, in dem alle Flücht-
    linge und Migranten Bewegungsfrei-
    heit genießen und Aufenthaltserlaub-
    nisse erhalten.


— Aus dem Englischen übersetzt
von Dorothee Nolte.

S


eit fast zwei Jahren lebe ich im
Osten Berlins und arbeite im
Westteil der Stadt. Jeweils zwei
Stunden täglich verbringe ich
damit,in öffentlichen Verkehrs-
mitteln hin- und herzufahren. Am liebs-
ten sitze ich am Fenster und betrachte
die Straßen, Gebäude und Bahnhöfe,
die Geschichten aus der Vergangenheit
erzählen und immer noch Zeugnis von
der früheren Teilung der Stadt ablegen,
wiezum Beispielder Bahnhof Friedrich-
straße.
Mir fällt dann auf, wie mühelos ich
mich fortbewege – und ich versuche
mir vorzustellen, wie die Menschen
zwischen1961 und 1989diese schreck-
lichen Barrieren und Kontrollen erlebt
haben. Schnellen Schrittes trage ich
meinen Rucksack die Rolltreppe hinun-
ter zum Bahnsteig der S1, ohne Angst
und ohne die Erlaubnis von irgendje-
mandem, meinen Weg fortzusetzen.
Manchmal kommen mir in diesem
Bahnhof die Tränen, einfach so, wie
Zehntausenden von Menschen, die sich
in den Jahren der Teilung am Tränenpa-
last von ihren Liebsten und Freunden
verabschieden mussten. Vielleicht kom-
menmeine Tränen aberauch aus einem
anderenGrund: durchdenStaub der Er-
innerungen, die mich als Syrer an die-
sem Ort heimsuchen. Wie früher in
Deutschland gab es auch in Syrien eine
Belagerung. Im östlichen Teil von
Aleppo und im östlichen Teil von Da-
maskuslebten Hunderttausende Zivilis-
ten im Widerstand gegen Assads Herr-
schaft. Nach fünf Jahren, im März
2018, endete die Belagerung durch As-
sads Streitkräfte und seine russischen
Verbündeten mit der Vertreibung der
Bewohner von Ost-Ghouta nach
Nord-Syrien.
Ein Freund von mir war dabei, als die
Busse aus Ost-Ghouta eintrafen. Einem
Paar, das mit seinem fünfjährigen Kind
ausstieg, gab er Essen und Wasser und
dem Kind eine Banane. Das Kind, so er-
zählte er mir, habe die Banane geges-
sen, ohne die Schale zu entfernen. Es
hatte noch nie vorher eine Banane gese-
hen, geschweige denn gegessen. Es
kannte nur die Bomben und Raketen,
die täglich vom Himmel fielen.
Der in den Bahnhof einfahrende Zug
vertreibt den Staub der Erinnerung und
trocknet die Tränen in meinen Augen.
Ich setze meinen Weg fort, lasse mei-
nen Blick über die mitfahrenden Passa-
giere schweifen und verteile Lächeln.

Manche lächeln zurück, andere sehen
mich stirnrunzelnd an. Und ich denke
bei mir: „Mag sein, dass die Berliner
Mauer vor 30 Jahren gefallen ist, aber
in vielen Köpfen gibt es noch so man-
cheÜberbleibsel davon.“ Beton zuspal-
ten und Eisen zu entfernen scheint mir
vergleichsweise einfach – einfacher je-
denfalls als dieEiswände derAngst wie-
der zum Schmelzen zu bringen, die sich
in den Köpfen der Menschen gebildet
haben, die die Teilung damals erlebten.
Ich jedenfalls habe oft das Gefühl,
dass es noch immer eine unsichtbare
Mauer gibt. Die meisten Geflüchteten
lebenheute wie ichim Ostteilder Stadt,
entweder in Wohnheimen für Geflüch-
tete oder in Privatwohnungen. Nur sel-
ten sind sie in den Sozialraum inte-
griert; es gibt im Osten Berlins weniger
Organisationen oder Projekte, die die
Kommunikation zwischen Geflüchte-
ten und ihren deutschen Nachbarn un-
terstützen, als im Westteil der Stadt.
Dort gibt es Dutzende von Initiativen
und Projektmaßnahmen, die Geflüch-
tete und Deutsche verbinden. Dies ist
so wichtig, denn Vorurteile können am
besten durch direkte Kommunikation
und gegenseitiges Kennenlernen besei-
tigt werden. 30 Jahre nach dem Fall der
Mauer sehen viele Menschen immer
noch eine imaginäre Mauer, die sie von
früheren Generationen geerbt haben.
Ich hoffe und träume davon, dass sie sie
nicht an ihre Kinder weitergeben wer-
den,denndiese Welthat genugSpaltun-
gen erlitten.

Auch wir sind das Volk


Die Zeit bleibt
zurück. Ein Blick
auf den alten
Bahnhof Ostkreuz
in Richtung
Warschauer Straße
und Alexander-
platz. Die alte
Überführung und
der Wasserturm
liegen im Rücken.

Isa Can Artar (26)
stammt aus der Türkei
und lebt seit drei Jahren
in Berlin. Er studiert
Publizistik und Kommu-
nikationswissenschaft
an der FU Berlin.

Nyima Jadama (26)
ist Print- und Radio-
journalistin aus Gam-
bia. Sie ist seit 2018
Volontärin der Medien-
anstalt Berlin-Branden-
burg bei ALEX Berlin.

Hareth Almukdad (32)
lebt seit vier Jahren in
Berlin. Er studierte in
Damaskus Journalismus
und arbeitet bei der Zeit-
schrift „KulturTür“des
DRK Berlin-Südwest.

#jetztschreibenwir ist das Exiljournalisten-Projekt des Tagesspiegel. Unsere Autorinnen und Autoren sind zu jung,


um den Mauerfall selbst miterlebt zu haben, auch kamen sie erst später nach Deutschland.


Trotzdem fühlen sie sich zugehörig. Hier schreiben sie, was die Wende für sie bedeutet – und für ihre Herkunftsländer.


Von Isa Can Artar, Nyima Jadama und Hareth Almukdad


Fotos: Sebastian Hesse, privat (3)

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 WOVON TRÄUMST DU? DER TAGESSPIEGEL 25

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