Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

A


m 9. November 1989 sei er „ganz nah
dran“ gewesen, sagt Igor Marfut. Der
aus Dnjepropetrowsk in der Ukraine
stammende Offizier der Westgruppe
der sowjetischen Streitkräfte, damals
23 Jahre alt, war in Dresden stationiert.
Und hatte am Abend nicht zu Unrecht
das Gefühl, dass er „Zeuge einer Revolution“ wird.
Entschieden war nichts: „Unsere Bosse erwogen,
schärfste Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Marfut über
die Geschehnisse vor 30 Jahren in der Kaserne.
Als sogenannter „Verbindungsoffizier“ und Dolmet-
scher hatte Marfut die Aufgabe, öffentlich zugängli-
che Quellen auszuwerten – und mit Kameraden zu
verfolgen, was beispielsweise im Radio berichtet
wurde über die Geschehnisse in der DDR. Die Sow-
jetarmee unterhielt eigene Kontakte zur Volkspolizei,
zur SED – und auch zu gesellschaftlichen Organisatio-
nen wie dem Gewerkschaftsbund FDGB. Wladimir
Putin, der zu jener Zeit für den sowjetischen Geheim-
dienst KGB in Dresden war, kannte er nicht, wie er
erzählt.
Marfuts Familie hatte eine Dreiraumwohnung in
einem Plattenbau nahe der Kaserne. Am 9. Novem-
ber wurden er und die anderen Verbindungsoffiziere
ins Hauptquartier einbestellt. Nur ganz kurz durften
alle schlafen, die Fernseher liefen ununterbrochen,
wie er sich erinnert. „Alle warteten auf Befehle aus
Moskau: eingreifen oder nicht?“ Hin- und hergerissen
war Marfut selbst – aufs Äußerste gespannt, was
passieren würde. „Auf der einen Seite war das ermun-
ternd. Auf der anderen Seite sehr bedrohlich“, sagt
er. Erinnerungen wurden wach an den Volksaufstand
in Ungarn 1956 und die Niederschlagung des „Pra-
ger Frühlings“ 1968.
Heute, im Rückblick, erzählt sich alles einfacher:
„Das war ein Super-Tag für Deutschland“, sagt Mar-
fut. „Wie gut, dass sich Kohl und Gorbatschow geei-
nigt haben, dass unsere Truppen nicht eingeschritten
sind. Große Politik war das damals. Und wir waren
dabei.“ Aber ihm ist auch klar, dass die Möglichkeit
real war, die Sowjetarmee könne die Proteste in der
DDR niederschlagen. „Und wir hätten unsere Pflicht
getan“, gibt er zu.
Igor Marfut war zu jenem Zeitpunkt erst gut ein
Jahr in Dresden stationiert. In Moskau an der Militär-
akademie hatte er Englisch studiert. Deutsch lernte er
erst inDresden:an der Volkshochschule sowie per Fern-
kurs, per Kurier hin und her nach Moskau und zurück
gingen die Hausaufgaben. Seine Frau Lena und sein

Sohn Nikita, geboren im Dezember 1988, waren erst
im Juni 1989 nach Dresden gekommen.
Nachdem Mauerfall änderte sich fürIgor Marfut und
seine Familie alles. Seine Bezüge wurden nach 1990 in
konvertibler Währung bezahlt, aus 730 Ost-Mark wur-
den 730 D-Mark, umgerechnet wurden damit aus 250
Rubel nun 2500 Rubel.Der Verbindungsoffizier bekam
neue Aufgaben und musste beispielsweise Journalisten
durch die Kaserne führen, die sich ein Bild vom Leben
dort machen wollten. Selbst in den USA erschien ein
Porträt über Marfut und seine Familie.
Die Nachrichtenagentur dpa veröffentlichte 1991
einen Korrespondentenbericht über den Kasernenall-
tag: „20 Päckchen Zigaretten pro Monat gibt’s um-
sonst. Nichtraucher bekommen eine Extraportion Zu-
cker“, hieß es darin. Die Verbindungsoffiziere erzähl-
ten Journalisten aber auch, dass die deutsche Polizei
nur zuschaue, wenn rechtsextreme Skinheads vor der
Kaserne „Russen-Schweine raus“ grölten. „Das hat
uns schon verblüfft.“
1992, mit dem Zerfall der Sowjetarmee, stand
Marfut vor der Frage, ob er sich als Ukrainer der
russischenArmeeanschließensollte.„Dubistverrückt,
das nicht zu tun“, sagten ihm Freunde mit Blick auf den
inzwischen hohen Sold. Aber er entschied sich anders,
wurde auf eigenen Wunsch aus der Armee entlassen
undnahmeineAusbildungmitbezahltemPraktikuman
der Berufsakademie im nordbadischen Mosbach auf.
Abends und an Wochenenden arbeitete er als Dolmet-
scher und Übersetzer. Ende 1995 stieg er bei einer
kleinen Import-Export-Firma in Mülheim an der
Ruhr ein.
2001 gründete er sein eigenes Unternehmen, die
Eurolinex GmbH in Essen. Die drei mittleren Buch-
staben im Firmennamen stehen für Lena, Igor und
Nikita. Und Euro für „europäisch orientiert“, wie Mar-
fut betont. Medizintechnik in die Ukraine, Holz aus der
abtrünnigen georgischen Teilrepublik Abchasien,
Wodka aus der Ukraine:Esgabdie verschiedensten Ge-
schäftsideen, mit mehr oder weniger Erfolg.
Inzwischen hat sich die Firma auf den Handel mit
Rohstoffen und Stahlerzeugnissen spezialisiert, die
meisten Geschäfte laufen zwischen Deutschland auf
der einen sowie Russland, der Ukraine und Kasachs-
tan auf der anderen Seite. 15 Mitarbeiter hat die
Firma, der Jahresumsatz liegt bei 30 Millionen Euro.
Igor Marfut hat inzwischen einen deutschen Pass.
„Ich freue mich, einen kleinen Beitrag zur
deutsch-ukrainisch-russischen Annäherung geleistet
zu haben“, sagt er.

AufsÄußerstegespannt


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Aus einer besonderen
Perspektive fotografiert,
ist das Sowjetische Ehrenmal
im Treptower Park kaum
wiederzuerkennen.
Ohne seine martialische
Bildersprache wirkt der Ort
fast melancholisch.

Ingo Marfut, 53,
stammt aus Dneprope-
trovsk in der Ukraine,
war Soldat und blieb
nach dem Abzug der
Sowjetarmee in Deutsch-
land. Inzwischen leitet
er seine eigene Firma
und lebt mit seiner
Familie in Essen.

„Wir hätten unsere Pflicht getan“, sagt Igor Marfut. Er verbrachte die Zeitenwende


in seiner Kaserne, als Verbindungsoffizier der Sowjetarmee. Unruhig wartete er auf Befehle aus Moskau.


Würde er aufgefordert werden, zur Waffe zu greifen? Erinnerungen an eine Nacht in Dresden,


nach der für ihn nichts blieb, wie es war.Von Matthias Meisner


Fotos: Sebastian Hesse, Angelika Stehle (Porträt)

28 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019


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