Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

G


astfreundschaft war zugesagt
und jetzt heißt es: Türken raus!“
DieseWorte fand der Rockmusi-
ker Cem Karaca fünf Jahre vor
dem Mauerfall, im Jahr 1984.
Karaca, 1945 in Istanbul geboren, lebte seit
Ende der 1970er in Köln im Exil. Dort be-
sangerauchin deutscher Sprache die vielen
negativen Erfahrungen, die sogenannte
Gastarbeiter und andere Migranten in der
Bundesrepublikmachten: vongesellschaftli-
cher Ablehnung und täglichen Anfeindun-
gen bis hin zu körperlicher Gewalt.
All das nahm mit der Wende drastisch zu.
Was viele als den glücklichsten Moment in
der deutschen Geschichte beschreiben, die
Grenzöffnung am 9. November 1989, läu-
tete für zahlreiche Migranten in Ost und
West eine Zeit höchster Verunsicherung
ein. In der DDR lebten damals 94000 „Ver-
tragsarbeiter“, die meisten aus Vietnam.
Eine Mehrheit davon wurde schnell nach
der Wende in ihre Heimatländer abgescho-
ben. Für sie platzte mit dem Ende der DDR
oft ein Traum auf ein besseres Leben. Doch
auch im Westen änderte sich vieles für die
Migranten im Land. Waren sie gerade noch
von der Gesellschaft halbwegs akzeptierte
Mitbürger, Kollegen und Nachbarn, wurden
sie wie über Nacht plötzlich für uner-
wünscht erklärt. Vielerorts hieß es ganz of-
fen „Deutschland den Deutschen“ – im
Chor gebrüllt mit dem Zusatz: „Ausländer
raus!“
Gut an die Zeit erinnern kann sich Safter
Çinar vom Türkischen Bund Berlin-Bran-
denburg (TBB). Über die Tage nach dem
Mauerfall, als die Menschen in Berlin auf
der Straße tanzten, sagt er: „Die Euphorie
der Mehrheitsgesellschaft hat damals auch

die Minderheitsgesellschaft erfasst.“ Für
viele Migranten sei die Grenzöffnung nicht
nur ein Grund zur Freude gewesen. Zahlrei-
che türkeistämmige Menschen hätten darin
auch eine persönliche Chance für sich gese-
hen, sagt Çinar. Als später im Zuge der Wie-
dervereinigung die westdeutschen Ber-
lin-Subventionen wegfielen, hätten viele
Türkeistämmige ihr wirtschaftliches Glück
in den neuen Ländern versuchen wollen –
mit der Eröffnung eines Geschäfts etwa.
„Doch nach Hoyerswerda und anderen Fäl-
len rechter Ausschreitungen hatten sie
Angst, in den Osten zu gehen“, sagt Çinar.
„Sie fürchteten sich um ihre Sicherheit und
um die ihrer Kinder.“
In der sächsischen Stadt Hoyerswerda
tobte im September 1991 die rechte Ge-
walt, gerichtet gegen „Vertragsarbeiter“
und Asylbewerber. Es folgten rassistische
Exzesse im ganzen Land, in Rostock-Lich-
tenhagen, Solingen, Mölln. Die Namen der
Städte stehen bis heute für die Neo-
nazi-Welle, die damals durch Ost und West
rollte. 198 Todesopfer rechter Gewalt zählt
die Amadeu-Antonio-Stiftung seit 1990.
Thanh Huu Nguyen kennt die Bedrohung
aus eigener Erfahrung. 1986 kam er als Stu-
dent der Wirtschaftswissenschaften aus Vi-
etnam in die DDR, in ein „schönes, friedli-
ches Land“, wie er heute sagt. Nach der
Wende schrien ihn Menschen am Berliner
S-Bahnhof Schöneweide an: „Wir wollen
euch in unserem Land nicht!“ Dann schlu-
gen sie zu.
Völlig neu war die Gewalt nicht. „Schon
im Sommer 1975 gab es in Erfurt über Tage
hinweg ausländerfeindliche, pogromartige
Ausschreitungen“, sagt der Migrationsfor-
scher Patrice Poutrus. „Die DDR-Regierung

vertuschte und tabuisierte das aber.“ An-
ders nach der Wende: Da „offenbarte sich
eine Sprache und Gewalt, die so vorher
nicht möglich war“. Hatten rechte Strafta-
ten bis dahin „weit außerhalb des politi-
schen Konsenses“ stattgefunden, trafen im
nationalen Taumelder Wendezeit dieForde-
rungen der Schläger und Brandstifter plötz-
lich auf viele offene Ohren – in der breiten
Bevölkerung genau wie im Parlament in
Bonn.
„In den neunziger Jahren nutzte die Poli-
tik die rassistischen Ausschreitungen für
die Legitimierung des eigenen Handelns“,
sagt Poutrus, der an der Universität Erfurt
forscht. „Das Ergebnis waren die massiven
gesetzlichen Verschärfungen im Asylkom-
promiss.“ Im Dezember 1992 schränkte der
Bundestag mit den Stimmen von Union,
FDP und SPD das deutsche Asylrecht stark
ein, nachdem die Zahl der Asylanträge mit
dem Fall des Eisernen Vorhangs kräftig ge-
stiegen war.Die Politikwollte vor allemver-
hindern, dass weiterhin Bilder von Hitler-
grüßen, brennenden Häusern und bluten-
den Menschen von Deutschland aus um die
Weltgingen.Stattjedocheine härtere Gang-
art gegen rechts einzuschlagen, sollten
mehr Abschiebungen und Rückweisungen
ausländischer Staatsbürger das Neo-
nazi-Problem im Land lösen.
Auch Menschen mit gesicherten Aufent-
haltstiteln habe die „Asyldebatte“ der 90er
Jahre in Angst versetzt, sagt der Wissen-
schaftler Poutrus. Würde sich die Stim-
mungbald auch gegen sie wenden? „Sie frag-
ten sich: Wann sind wir dran?“
Integrationspolitisch seien die Nach-
wende-Jahre eine Zeit des Rückschritts ge-
wesen, sagt der Aktivist Çinar: „Bundeslän-

der wie Hamburg oder Bremen hatten be-
reits das kommunale Wahlrecht für Auslän-
der beschlossen. Mit der Wende sind solche
Themen allerdings schnell in den Hinter-
grund gerückt, die Wiedervereinigung hat
alles überlagert.“
Vor dem Mauerfall habe man sich in der
Bundesrepublik vor allem als Bürger der
freien, der westlichen Welt definiert, sagt
Poutrus. Das änderte sich mit dem Ende der
DDR. „Auf einmal wurde die Abstammung
das zentrale Kriterium, über das Menschen
eine Daseinsberechtigung verliehen
wurde.“ Deutschland sollte in den Augen
vieler nur noch „den Deutschen“ gehören -
und allenfalls „Aussiedlern“ mit deutschen
Wurzeln. Vor den Häusern mancher Arbei-
tersiedlungen verabredeten sich die Väter
türkischer Familien indes zur gemeinsamen
Nachtwache, um im Falle eines Anschlags
die eigenen Kinder schnell retten zu kön-
nen.
Noch verschärft habe sich die prekäre
Lage,als dieFreude überdiefriedliche Revo-
lution der Vereinigungskrise und dem Treu-
hand-Frust wich, sagt Poutrus. Die Migran-
ten seien „schnell zu Sündenböcken ge-
macht“ worden. „Die vorher schon latent
vorhandene Feindlichkeit schlug dann vie-
lerorts offen durch.“
Vielleicht ist das der Grund, warum der
Ökonom Nguyen aus Vietnam bis heute
nichts Schlechtes über die DDR sagen will:
„Nicht alles war so schlimm, wie viele es
heutzutage darstellen.“ Safter Çinar beob-
achtet diese Einstellung auch in der türki-
schen Community in Berlin, wo einige Äl-
tere, die ehemaligen „Gastarbeiter“, bis
heute sagten: „Als die Mauer noch stand,
war es besser für uns.“

Für die ganze Welt kam die Maueröffnung
am Abend des 9. November 1989 überra-
schend, vor allem auch jener Satz von Gün-
ter Schabowski, wonach „seines Wissens
nach“ die neue Reiseregelung ab sofort, un-
verzüglich, gelte. Waren Sie auch überrascht?
Momper:Nein, so überrascht war ich nicht, denn
wir hatten am 29. Oktober ein Treffen mit Günter
Schabowski, das Manfred Stolpe vermittelt hatte.
Bei diesem Treffen hat er, am Ende eines sehr lan-
gen und aufschlussreichen Gesprächs, gesagt: Im
Übrigen, wir werden Reisefreiheit geben. Da habe
ich ihn angeschaut und gefragt: Was meinen Sie
denn damit? Na ja, sagte er, jeder, der reisen und
abhauen will, kann reisen und abhauen. Und je-
der, der zurückkommen will, kann auch wieder
zurückkommen. Dann fragte ich ihn, wann sie
dasmachenwollten. NochvorWeihnachten,ant-
wortete Schabowski. Sie wüssten noch nicht, ob
das als Gesetz oder Verordnung kommen würde,
da arbeiteten sie noch dran. Dann haben wir ge-
fragt, ob sie denn auch schon praktisch etwas ver-
anlasst hätten. Da kam raus, sie hatten überhaupt
noch nichts veranlasst und auch noch nicht inten-
siv darüber nachgedacht. Sie hatten keine Vorstel-
lung, was das bedeuten und was sich daraus erge-
ben würde. Wir waren interessiert, eine Einschät-
zung zu bekommen, wie viele Menschen an die-
sem ersten Tag wohl aus Ost-Berlin und der DDR
nach West-Berlin kommen würden. Denn dann
könnten wir abschätzen, ob die Stadt überlaufen
werden wird. Und dann haben wir so geschätzt
unter uns Pastorentöchtern und kamen zu dem
Schluss: 500000 werden kommen.


Am ersten Tag?
Ja, am ersten Tag. Wir haben nur 300000 öffent-
lichzugegeben,tatsächlich kamenaber an den ers-
ten Tagen eine Million, und das sah man schon in


der kleinen Stadt West-Berlin. Allein auf dem Tau-
entzien und dem Kudamm waren 300000 Men-
schen. Da waren die meisten, es verteilte sich na-
türlich in der Stadt. Aber man sah überall Men-
schen, die sich was zeigen ließen auf der Karte –
also, die Stadt war richtig voll.

Wie ging es weiter bei dem Gespräch am


  1. Oktober?
    Wir fragten Schabowski: Was glauben Sie, wie
    viele Menschen kommen werden? Er antwortete:
    Och, da sollten wir uns mal keine Sorgen machen.
    Das könnten sie steuern. Es hätten überhaupt nur
    zwei Millionen DDR-Bürger einen Pass, und bis
    die alle ihr Visum hätten, das würde dauern. Da
    sagte ich zu ihm: Sie machen das doch bloß,
    weil der Druck so groß ist. Schabowski meinte:
    Na ja, das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich
    dachte: Na ja, deine Sorge ist es wirklich. Scha-
    bowski sagte noch: Ein moderner Staat ist ohne
    Reisefreiheit nicht mehr denkbar und möglich.
    Und ich dachte: Wie wahr, wie wahr. Kommt
    zwar ein bisschen spät, aber ist trotzdem ganz
    richtig, die Einschätzung. Wir sind so verblie-
    ben, dass er uns rechtzeitig Bescheid geben
    würde. 14 Tage vorher wäre schön, sagten wir
    ihm, ein paar Tage weniger würde auch noch
    gehen, aber dann würde es schon knapp wer-
    den – die Bonner würden alle anreisen wollen,
    mit großem Bahnhof, und es wäre ein großes
    Ereignis, für ihr Land, für unser Land. Dann
    haben wir noch praktisch verabredet, dass wir
    ein paar mehr Grenzübergänge bräuchten. Die
    elf, die es gab, reichten nicht aus. Das sah
    Schabowski sofort ein, und am nächsten Tag
    trafen sich gleich die Besuchsbeauftragten beider
    Seiten, der Senatsrat Kunze von uns und der Bot-
    schafter Müller vom Außenministerium der
    DDR, um zu bereden, welche Grenzübergänge


man schnell öffnen könne und bei welchen es et-
was länger dauern würde. Das rollte an. Wir ha-
benam Montaggleichin derStaatssekretärskonfe-
renzArbeitsgruppeneingerichtet, proRessortim-
mer eine, die alle Fragen klären sollten, was auf
uns zukommen würde, immer unterstellt, es kä-
men 500000 Besucher.

Das war ja nun keine Kleinigkeit.
Es gab ein paar große Probleme, die man der
Reihe nach benennen konnte. Das wichtigste war
natürlich: Wie transportieren wir die Leute? Die
BVG sagte gleich: Wir können das. Die hatten den
alten Smogalarmplan aus West-Berliner Zeiten,
und die BVG hatte damals schon mehr U-Bahnen
als heute. Die Rechnung war so: 250000 von den
500000 müssten abgeholt werden oder müssten
laufen, wie auch immer, und 250000 würden mit
Bahn und Bus fahren. Dann haben wir so gerech-
net, dass auf die 1,5 Millionen, die die BVG da-
mals am Tag auf der U-Bahn beförderte, eben ein
Dritteldraufkommen würde– 250000morgens in
die Stadt und 250000 am Abend wieder raus. Die
BVG-Leute sagten: Das geht, mit allem, was rollen
kann. So war das dann auch mit Zweieinhalb-Mi-
nuten-Verkehr auf der U-Bahn und mit den Bus-
sen, man kam so blitzschnell durch die Stadt wie
sonst nie.

Die BVG muss damals besser funktioniert ha-
ben als heute.
Die hatten mehr Fahrzeuge als heute, da war kein
Mangel dran, aber die haben das schon ganz gut
hingekriegt.

Das hört sich jetzt so einfach an – „wir
brauchten neue Grenzübergänge“. Das konn-
ten Sie doch ohne die West-Alliierten über-
haupt nicht machen.
Doch, doch, das haben wir einfach gemacht. Wir
haben die unterrichtet, was wir da machen, wie
wir sie über alles unterrichtet haben, was wir so
machten, was im Ost-West-Verhältnis von Bedeu-
tung war. Aber fragen mussten wir sie nicht. Es
war eine Verbesserung der Situation, das fanden
die schon gut.

Wie kam es überhaupt zu diesem Treffen
am 29. Oktober 1989? Es muss doch eine
Vorgeschichte gegeben haben.
Ja, die gab es. Manfred Stolpe wollte das so
haben...

...der zu diesem Zeitpunkt für die Kirche in
der DDR die ganzen Fragen der menschli-
chen Kontakte verhandelt hat.
Genau. Damals sagten wir immer, er war der, der
den Menschenhandel machte. Da ging es vor al-
lem um Wehrdienstverweigerer in der DDR und
andere Leute, die nicht systemkonform waren. Er
musste mit der obersten Spitze über die Frage re-
den, ob das so weitergemacht wird wie bisher.
Was es genau war, weiß ich nicht mehr, wir haben
da überhaupt nicht mehr zugehört, nachdem wir
das mit der Reisefreiheit erfahren hatten. Stolpe
und Schabowski und der Generalsuperintendent
Krusche haben sich allgemein unterhalten, über
die DDR, und haben sich mokiert mit großer Of-
fenheit sowohl über Honecker als auch über den
Alkoholismus von Harry Tisch und dergleichen.

Manfred Stolpe wollte Sie mit dabeihaben,
weil er ahnte, dass es um mehr gehen würde
als um die Ausreise einiger Systemgegner?
Ja, Stolpe meinte, das wäre für uns wichtig. Die
Leute auf der Ost-Berliner Seite waren neu im
Amt, und es war wirklich interessant, wie offen
Schabowski herzog über die Verhältnisse in der
DDR. Er erzählte zum Beispiel, dass er einen Tag
in der Woche nur damit beschäftigt war, irgend-
welche Knappheitslagen in Ost-Berliner Betrie-
ben zu überwinden. Da ruft ein Firmenleiter an
und sagt, ich habe keine Schrauben mehr. Entwe-
der du schaffst welche ran oder die Produktion
steht in zehn Tagen still. Das wollte natürlich nie-
mand. Also telefonierte er rum. In Suhl gab’s
Schrauben, also rief er den Bezirksleiter der SED
in Suhl an. Der hat gesagt: Was kriegen wir dafür?
Und was bekam der dafür? Natürlich Südfrüchte,

denn die gab’s in der Hauptstadt, aber nicht in
Suhl. Also wurde ein Lastwagen mit Apfelsinen in
Bewegung gesetzt, der brachte die Apfelsinen
nach Suhl und auf dem Rückweg die Schrauben
nach Berlin, und schon lief die Produktion weiter.

Haben Sie Schabowski vor diesem Gespräch
gekannt?
Nein, ich kannte Erhard Krack, unter anderem
von einem Konzert der Berliner Philharmoniker
in Ost-Berlin, da gab es hinterher einen Empfang.
Der war ganz offen. Schabowski hingegen galt als
ausgesprochen selbstkritisch, er war in der DDR
nicht sehr beliebt, er galt auch als Wendehals. Das
kann ich so nicht sagen. Ich habe ihn als den Effi-
zientesten kennengelernt und auch als den Kri-
tischsten. Der hielt auch uns gegenüber mit seiner
Meinung nicht hinterm Berg. Erhatuns dannauch
erklärt, wie das war mit diesem einen Kommentar
im „Neuen Deutschland“, in dem überhaupt das
erste Mal von der Fluchtbewegung die Rede war.
Dahatte ErichHonecker,der den Kommentar vor-
her zur Genehmigung bekam, mit Bleistift selber
reingeschrieben: „... und weinen wir denen keine
Träne nach“. Dieser Satz wirkte natürlich wie eine
Fackel im Heuhaufen. Gerade die Leute, die nicht
gehen wollten, waren sauer darüber. Erich Hone-
ckerwar amweitestenvon derRealitätseines Lan-
des entfernt und konnte überhaupt nicht kalkulie-
ren, was das bedeutet. Na ja, und dann hat er noch
über den Alkoholismus von Harry Tisch, dem Ge-
werkschaftschef, hergezogen. Der war kurz vor-
her in Stuttgart gewesen und hatte auch so blöde
Sprüche über die Fluchtbewegung gemacht, die
die Leute nur auf die Palme brachten.

Wie mussich mirdie Atmosphäredieses Ge-
sprächsam29. Oktober vorstellen?
Ach,daswarnett.ErstmalgabeswasOrdentliches
zu essen, dann hat Schabowski diese Geschichten
erzählt,eswarsehroffen.WirhabenunsereInteres-
sen, also mehr Grenzübergänge, angemeldet, das
hat er auch sofort kapiert, das war unproblema-
tisch.NurdasmitderReiseregelungselbstfielihm
schwer. Das, was da am 9. November verlesen
wurde, war gar nicht die Reiseregelung, das war
nur die Presseerklärung dazu. Die Reiseregelung
selbstgabeszudiesemZeitpunktnochnicht.Vorge-
sehen war, dass die Leute erst den Pass vorlegen
müssen,danneinVisumbekommenunddannüber-
haupt erst fahren dürfen. So war das gedacht, und
soistüberhauptderetwasschiefeundnichtkonse-
quente Text dieser Verlautbarung zu erklären. So
hatten die das vor. Die wollten kein ungeregeltes
Rüberlaufen. Das kam erst dadurch, dass Scha-
bowski diesen wenig vorbereiteten Zettel verlesen
hat.

Da waren Sie als Regierender Bürgermeister
offenbar näher an der Realität als Scha-
bowski. Sie ahnten, dass die Leute nicht war-
ten würden, bis der Pass gestempelt wird.
Klar,daswardochoffenkundig.Wirrechnetenda-
mit,dasseinesTagesderSturmvonhintenüberdie
Grenze kommen würde, eigentlich, seit Otto von
Habsburg und die Pan-Europa-Union am 19. Au-
gust 1989 das Paneuropäische Picknick an der
Grenze zwischen Ungarn und Österreich gemacht
hatten, in Sopron. Da kamen Hunderte. Es war
doch bescheuert, dass die Leute aus der DDR über
UngarnundÖsterreichdieGrenzeüberquerensoll-
ten,wenndirektbeiihneneinGrenzübergangwar.
Damit haben wir gerechnet. Nur haben wir immer
befürchtet,esgibtdaeineSchießereiundeinfurcht-
bares Blutbad und viele Tote. Das hat es Gott sei
Dank nicht gegeben, es war alles absolut friedlich.
Aber das war natürlich dem Umstand geschuldet,
dass Schabowski mit seiner Erklärung die Grenze
freigegeben hatte. Es war so, dass die Leute am 9.
November so ab 20 Uhr an die Grenze gingen und
mitdenGrenzernanfingenzudiskutierenundsag-
ten: Der Schabowski hat gesagt, wir können rüber.
Da haben die Grenzer gefragt: Haben Sie einen
Pass, haben Sie ein Visum? Ohne das gibt’s keine
Ausreise. Und dann haben die Leute gesagt: Der
Momperhat’saberauchgesagt,imFernsehen.Aus
deren Sicht hatte der Westpolitiker die höhere
Glaubwürdigkeit. Ich war am Abend zum SFB ge-
fahren,nachSchabowskisRede,undhabedassoin-

terpretiert und habe gesagt: Ihr könnt jetzt alle
kommen, wir freuen uns darüber, aber kommt
bitte nicht alle mit dem Auto.

Das haben Sie im SFB-Fernsehen gesagt?
Ja, in der Berliner Abendschau. Ich war bei Sprin-
ger, die hatten eine Aufzeichnung, der Chefredak-
teur der Morgenpost, der Herr Waltert, spielte
mir das vor, es kam nur auf die letzten fünf Minu-
ten an, und als ich das sah, wurde mir klar: Der
Schabowski hat das auch zum ersten Mal gese-
hen. Wir wissen heute aus Schabowskis Erinne-
rungen, dass er das in seinem Papierstoß ir-
gendwo verbuddelt hatte, und überhaupt nicht
mehr dran gedacht hat. Und als die Fragen nach
den Reiseregelungen kamen – eswar klar,die wür-
den eine machen.

Zu Springer hatten Sie sowieso Kontakt,
denn Sie hatten nach dem Gespräch in
Ost-Berlin am 29. Oktober die völlig richtige
Idee, die Leute würden kommen und sich
nicht auskennen, und Karten haben sie auch
keine, also brauchen wir Stadtpläne.
Wir brauchten 250000, und Springer konnte das
farbig drucken, den Stadtplan mit dem BVG-Netz.
Der Tagesspiegel konnte das damals nicht, die ha-
bendas dannnachts dergedruckten Zeitungbeige-
legt. Als Schabowski sagte, das gilt auch für
West-Berlin, und das gilt ab sofort, unverzüglich,
war klar, was passieren würde. Durch Zufall wur-
den die Dinger am Abend des 9. November fertig,
ich sollte noch das Vorwort schreiben.

Da hatten Sie richtig Glück mit den Vorberei-
tungen.
Ja, in den Stadtplänen war auch alles drin, was
man als Tourist so braucht: Was tue ich, wenn
mein Kind verloren geht? Was mache ich, wenn
ich krank werde? Was finde ich wo? Wir hatten
auch die Zahlstellen vorbereitet. Es musste jeder
die 100 Mark bekommen, das Begrüßungsgeld
für alle DDR-Besucher. Wir wollten natürlich
nicht, dass die alle an einer einzigen Zahlstelle
anstehen in einer Schlange bis nach Reinicken-
dorf. Wir haben mit dem Bankenverband gere-
det, die verstanden das sofort und wollten öff-
nen, an sieben Tagen und 24 Stunden. Dann
habe ich mit der Postgewerkschaft gesprochen,
die sagten auch, machen wir, rund um die Uhr.
Dann hatte ich noch ein Gespräch mit dem
Hauptpersonalrat der Betriebe Berlins, das war
natürlich das schwierigste, aber die machten
auch mit, damit jede Berliner Behörde eine Zahl-
stelle aufmachte. Also jede Kita, jedes Polizeire-
vier, allein im Rathaus Schöneberg waren vier
Zahlstellen.

Und dann?
Dann kamen die Leute, nahmen ihr Geld, das
ging ganz schnell, aber die gaben es nicht aus,
denn sie bekamen alles geschenkt, Taxe, Bana-
nen und alles. Nach drei oder vier Tagen kam
der Chef der Landeszentralbank zu mir und
sagte: Herr Momper, es kommt kein Geld in den
Kreislauf zurück. Bei einer Million Besuchern in
so kurzer Zeit war das Geld fast alle. Die Ameri-
kaner mussten über Nacht mit einem Militärflug-
zeug vier Tonnen Frischgeld aus Frankfurt am
Main einfliegen, dann waren wir wieder flüssig.

Eigentlich hat Ihr Senat also hervorragend
gearbeitet.
Wir haben das gut im Griff gehabt, das lief wie am
Schnürchen. Und dann kam noch ein Zufall. Einer
unserer Staatssekretäre mit westdeutschem Aus-
weishatteinOst-BerlineinenWest-Journalistenge-
troffen,derihmsagte:Passtmalauf,diebehandeln
heute im Politbüro die Reiseregelung. Na, das war
nicht ungewöhnlich, dass das kommen würde,
wussten wir ja von Schabowski. Aber ich sagte
Horst Wagner, dem Verkehrssenator, der neben
mir saß: Ruf doch mal bei der BVG an, dass die in
der Lage sind, heute wie am Wochenende zu fah-
ren. Damals fuhren die nur am Wochenende mit
der U-Bahn die ganze Nacht durch. Na, das haben
die bei BVG auch vorbereitet, wir konnten ihnen
aber nichts Genaues sagen. Und das hat auch ge-
klappt.

„Schabowski zog offen her


über die DDR.“


Patrice Poutruspromovierte an
der Viadrina und arbeitet als Migrations-
forscher an der Universität in Erfurt.

Ausgegrenzt


Safter Çinarwar 2014/15 einer
der Bundesvorsitzenden der Türkischen
Gemeinde in Deutschland.

Wie viele Leute kommen denn?


Für Migranten in Ost und West änderte sich mit dem Mauerfall alles. Plötzlich bestimmte


rassistische Gewalt den Alltag.Von Muhamad Abdi und Paul Starzmann


Wo sie zu Hause sind –
in den Straßen von Berlin.
Eine typische Kreuzberger
Szene, noch lange vor
Fotos: Nelly Rau-Häring, Christoph Schmidt/dpa, privat dem Mauerfall.

„Ach, das war nett.“ Am 29. Oktober 1989 trafen Günter Schabowski (links), Walter Momper (rechts) und weitere Vertreter Ost- und West-Berlins
im Palasthotel aufeinander, darunter Manfred Stolpe (Mitte). Nach dem Gespräch fing der Momper-Senat an, für den Fall einer Grenzöffnung zu planen.


30 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? – 30 JAHRE MAUERFALL NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 31


Schon Ende Oktober 1989


traf sich Walter Momper


mit Günter Schabowski.


Der SED-Kader kündigte an:


Wir geben Reisefreiheit.


Momper war West-Berliner


Bürgermeister und


nun offiziell vorgewarnt –


Erinnerungen an historische


Wochen einer Stadt.


Mit Walter Momper sprach


Gerd Appenzeller


Foto: akg-images / ddrbildarchiv.de / Lange
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