Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Charlotte Tjaben:Wie ist es damals dazu gekommen,
dass du am 4. November 1989 auf der großen Demo
auf dem Alexanderplatz eine Rede gehalten hast?
Marianne Birthler:In der Gethsemane-Kirchengemeinde gab
es seit Anfang 1989 ein Kontakttelefon der Oppositionsgrup-
pen. Das war so etwas wie eine alternative Nachrichtenzen-
trale. Zusammen mit anderen war ich für dieses Telefon verant-
wortlich. Wir sammelten dort Informationen und gaben sie an
andere weiter – es gab ja noch kein Internet, auch keine
Smartphones. Viele Leute kannten die Nummer, und als es am



  1. und 8. Oktober 1989 zu Gewalt gegen Demonstranten kam,
    riefen unsdiejenigen an,diedas beobachtet hatten. Sie berichte-
    ten von Misshandlungen und vielen Verhaftungen. Als tags da-
    rauf die ersten wieder frei waren, kamen sie zu uns und erzähl-
    ten, wie übel ihnen mitgespielt wurde.Daraufhin haben wiralle
    gebeten, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und zwar mög-
    lichst bald. Denn wenn du eine Geschichte fünf Mal erzählt und
    andere gehört hast, dann verändert sie sich. Schließlich hatten
    wir ungefähr 300 Berichte beisammen. In vielen davon war von
    zügelloser Gewalt die Rede, auch gegen Jugendliche.
    Kann ich kurz eine Zwischenfrage stellen? Wie ist man
    denn an so eine Telefonnummer rangekommen?
    Die hat sich herumgesprochen. Es war erstaunlich, dass sich
    manche Nachrichten und Informationen auch ohne die Tech-
    nik, die wir heute haben, sehr schnell verbreiten ließen. Da sich
    keiner darauf verlassen durfte, dasser die wichtigstenNeuigkei-
    ten abends auf Twitter lesen wird, musste man mit anderen
    Menschen direkten Kontakt aufnehmen und sich treffen. Das
    hat damals gut funktioniert. Wir waren allerdings auch nicht so
    überflutet mit Informationen, wie wir das heute sind.
    Ja, das kann ich mir vorstellen. Und wie lief das
    dann ab mit deiner Rede?
    Nachdem wir mit den Berichten der Betroffenen an die Öffent-
    lichkeit gegangen waren und bewiesen hatten, dass es sich um
    geplante und systematische staatliche Gewalt gehandelt hatte,
    baten mich die Theaterleute, die die Demonstration am 4. No-
    vember planten, auf der Demo darüber zu berichten. Da ich
    überhaupt nicht gewöhnt war, vor vielen Leuten zu sprechen,
    hatte ichzunächst Hemmungen und hätte sehr gerneabgelehnt.
    Doch sie ließen nicht locker, also sagte ich zu. Vorsichtshalber
    bin ich am 4. November schon eine Stunde früher auf den Alex
    gegangen, damitich meine Angstverliere und ein Gefühl für die
    Atmosphäre bekomme. Das war gut, denn die Leute, die da
    allmählich den Platz füllten, haben mir sehr imponiert. Sie hat-
    ten so tolle Transparente! Im Stillen habe ich mich bei ihnen
    entschuldigt,denn ich hatte ihnen das gar nicht mehr zugetraut:
    So viel Mut und so viel Witz.
    Wie hast du es damals geschafft, so viele Menschen
    von deiner Meinung zu überzeugen?
    Darum ging es gar nicht so sehr. Innerhalb der Opposition und
    erst recht auf der Demo am 4. November gab es viele verschie-
    dene Ansichten. Wenn man die Demonstranten gefragt hätte,
    wieDeutschlandoder Berlinin 20Jahrenaussehensoll,hättees
    wahrscheinlich 50 verschiedene Antworten gegeben. Stattdes-
    sen wussten die meisten ganz genau, was sie nicht mehr woll-
    ten: Die Gängelung und die Enge der Diktatur. Wir wollten
    nicht mehr, dass in allen Zeitungen dasselbe steht. Wir wollten
    Freiheit – darin waren sich die meisten einig. Wie das dann
    wirtschaftlich oder politisch aussehen würde, darüber gab es


noch wenig konkrete Vorstellungen. Wichtig war erst mal, die
allgegenwärtige Macht der SED infrage zu stellen. Das hat den
Menschen Energie und Mut gegeben. Du bist ja auch an Protes-
ten beteiligt! Was hat dir den Anstoß dafür gegeben?
Ich gehe oft zu Fridays for Future. Als ich das erste
Mal da hingegangen bin, wusste ich noch gar nicht,
was das genau ist. Aber meine Freundinnen und
Freunde erklärten mir den Grund und fragten, ob ich
mitkommen wollen würde. Als ich dann das erste Mal
dort war, fand ich die Bewegung gleich total toll!
Besonders die Atmosphäre! Alle verfolgen das gleiche
Ziel, auch wenn man sich sonst gar nicht treffen würde
und komplett verschieden ist. Daraufhin dachte ich,
dass ich da jetzt öfter hingehen sollte. Das ist also durch
meine Freundinnen und Freunde gekommen.
Auf meinem Weg in die Politik haben meine Freunde auch eine
wichtige Rolle gespielt. Sie haben mich sehr beeinflusst. Meis-
tens wird man zunächst irgendwie mitgenommen oder eifert
jemandem nach. Bei politischen Aktivitäten sind Freunde und
Verbündete extrem wichtig, gerade auch, wenn es Rückschläge
gibt oder zwischendurch mal mühsam wird. Ich bewundere,
was ihr bei Fridays for Future macht. Man kann sehen, was
die Demos für eine Wirkung haben. Plötzlich haben viele
Respekt vor Halbwüchsigen und wollen sich vor ihnen nicht
als Klimasünder blamieren. Und klar – sie wollen ja auch mal
von euch gewählt werden, das gehört auch zur Wahrheit. Ich
habe immer Angst, dass ihr irgendwann die Energie verliert,
frustriert oder enttäuscht seid. Aber es sieht im Moment
noch nicht danach aus.
Ich glaube, wir haben noch viel Hoffnung und
das wird auch erst mal noch anhalten. Hast du erst
durch die vielen Menschen auf dem Alexanderplatz
am 4. November so viel Hoffnung geschöpft –
oder kam die schon vorher aus dir selbst heraus?
Beides. Dass Menschen sich treffen und zusammen etwas ma-
chen, soll ja auch Hoffnung erzeugen, so ging es auch mir.
Wenn man heute die Nachrichten liest, kann man oft genug
eher deprimiert sein als hoffnungsvoll. Dagegen kann man nur
etwas machen, wenn man sich mit anderen verständigt und
trifft, die ähnlich denken, wenn man sich gegenseitig Mut
macht und gemeinsam erfährt, dass sich etwas verändern kann.
Das war damals nicht anders. Wer in der DDR einfach nur zu
Hause gesessen hat, konnte depressiv werden, und das sind
viele auch geworden. Erst wenn man rausging und Kontakt
suchte, hatte man die Chance, Hoffnung zu entwickeln. Deswe-
gen waren die Kirchen, also die einzigen Räume, in denen man
sich legal versammeln konnte, auch immer so voll. Viele, wahr-
scheinlich die meisten, waren gar keine Christen, sie brauchten
aber Ermutigung und Gespräche. Sie gingen rein, haben sich
umgeschautundkamenmit LeuteninsGespräch. Plötzlich fühl-
ten sie sich nicht mehr allein. Dieses Gefühl hatte ich auch auf
dem Alex, als ich da hochkletterte und auf die Menschen auf
dem Platz sah. Alle sahen so schön aus, schöner als im Alltag
auf der Straße. Weil Menschen, die Hoffnung haben oder die
ihre Angst überwinden konnten, irgendwie strahlen. Das siehst
du ja auch, wenn du auf deiner Demo bist, obwohl es um ein
sehr schwieriges und bedrohliches Thema geht. Aber da ist das
Gefühl: Ich tue was und ich tue es nicht allein! Das ist ganz gut
vergleichbar, glaube ich.

Du hast gerade das Thema „Angst“ angesprochen.
Greta Thunberg möchte, dass die Leute in Angst
und Panik versetzt werden. Das ist ihr Ziel, damit
die Leute aus der Angst und der Panik heraus handeln.
Ich schätze Greta Thunberg sehr, aber ich glaube, Panik ist
nicht konstruktiv. Ängste sind berechtigt und notwendig, weil
sie uns in Bewegung setzen. Aber Angst kann auch lähmen.
Und in Panik erstarrt man und macht das Falsche oder gar
nichts mehr. Sorge und produktive Angst finde ich gut – und so
verstehe ich Greta Thunberg eigentlich auch. Ein unglaublich
wichtiger Schritt ist, die Angst zu überwinden und aus dem
privaten, persönlichen Bereich heraus in die Öffentlichkeit zu
gehen. Sonst passiert gar nichts.
Ich weiß dazu auch noch, dass ich ziemliche Angst
hatte, nachdem ich zum ersten Mal zu Fridays for
Future gegangen bin. Ich hatte Angst vor den
Konsequenzen in der Schule am Montag danach.
Es wird ja viel debattiert, ob der Schulstreik, manche nennen es
Schwänzen, eine gute Idee ist. Aber das gehört ja auch zu den
wichtigen Erfahrungen: mal zu riskieren, dass irgendwer die
Augenbrauen hochzieht, dass das eigene Handeln auch unange-
nehme Konsequenzen hat. Und dann gehört es auch dazu, mit
den Eltern zu sprechen, die nicht damit einverstanden sind,
dass ihr zu den Streiks geht und ihnen zu schildern, warum eure
Teilnahme von großer Bedeutung ist.Ichdenke,diese Erfahrun-
gen sind wichtig. Daran, dass du deine Angst überwunden hast,
kannst du dich bestimmt noch in 30 Jahren erinnern. Und das
ist sehr wichtig.
Ich stelle mir häufig die Frage, was wir brauchen, um
wirkliche Veränderungen in der Politik zu erzielen.
Ihr habt ja schon eine Menge verändert. Es geht heute nicht um
eine Revolution oder darum, dass wir völlig andere politische
Machtverhältnisse erstreiten. Das würde ich sogar eher skep-
tisch sehen, wenn man sich vorstellt, wer da an die Macht kom-
men könnte. Sondern es geht darum, dass die, die Verantwor-
tung haben, ihr Handeln verändern.
Würdest du, die du nicht mehr zur Schule gehst,
auch mal zu einer FFF-Demo gehen?
Ja, würde ich machen. Ich habe aber das Gefühl, dass es nicht
gut ist, wenn auf euren Demos mehr Erwachsene und Alte sind
als Jugendliche. Deswegen bin ich bislang noch nicht auf die
Idee gekommen. Würdest du dir denn wünschen, dass viele
kommen aus der Eltern- und Großelterngeneration?
Ich fände das wichtig, wenn sie auch zeigen würden,
dass sie es richtig finden.
Würde euch das stärken?
Ja, ich bin der Meinung, dass es uns stärken würde.
Verstehe ich. Und merke ich mir.

Auf die Barrikaden


Charlotte Tjaben(links) undMarianne
Birthlersprechen in der Gethsemanekirche
über Ängste vor öffentlichen Auftritten
sowie Protestkultur einst und jetzt.

Ein Demonstrant auf der Warschauer Brücke Anfang der 90er Jahre. „Die Warschauer Brücke überbrückte mehr als nur Eisenbahngleise“, sagt der Fotograf.

Am 4. November 1989


demonstrierten Hunderttausende


auf dem Alexanderplatz für


Demokratie und Meinungsfreiheit.


Marianne Birthler war damals


eine der Rednerinnen.


In einem Theaterstück


zum 30. Jahrestag


schlüpfte die 14-jährige


Fridays-for-Future-Aktivistin


Charlotte Tjaben nun in die Rolle


der Bürgerrechtlerin.


Vorab trafen sich beide


in der Gethsemanekirche,


um über Protest damals


und heute zu sprechen.


Aufgezeichnet von


Joana Nietfeld und Anna Thewalt


Fotos: Sebastian Hesse; Screenshot:Schubert/Gotscheff

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 WOVON TRÄUMST DU? DER TAGESSPIEGEL 37

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