Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

1989 war ich mit Oliver Groszer, einem fa-


belhaften Jongleur, zusammen. Seine


Mama,Franziska Groszer,wurde aus politi-


schen Gründen zur Ausreise aus der DDR


gedrängt, als er zehn war. Sie ist Schrift-


stellerin und hat ein sehr zu empfehlen-


des Jugendbuch über diesen Umstand ge-


schrieben, „Rotz und Wasser“.


Oli und ich traten in der neu eröffneten


„Scheinbar“auf, demkleinsten VarietéEu-


ropas – und dem ersten, das wieder auf-


machte, nachdem die Nazis alle Vielfalt


und wundervolle Kultur in Berlin niederge-


metzelt hatten. Oli und ich traten auf, be-


reisten die Welt und lernten Stars des Va-


rietés kennen, Kriss Kremo, Borra, Natha-


lie Enterline, Francis Brunn und viele an-


dere. Mit den Clowns von „Nikelodeon“,


Krissie Illing und Mark Britton, freundeten


wir uns an. Als wir heiraten wollten, damit


Olis Vater aus der DDR zu Besuch kom-


men könnte, fanden sie das wohl genauso


unromantisch wiewir und fragten,ob denn


die Mauer nicht eh irgendwann fallen


würde. Wir verneinten vehement – nicht zu


unseren Lebzeiten!Dawares Januar.


Am 9. November stellte sich ein junger


Nachbar der „Scheinbar“ nach der Show


aufdieBühne: „DieMauerist auf!“Gerade


würde das erste Pärchen an der Brücke an


derBornholmerStraßemitChampagnerbe-


grüßt. Wir sagten gelangweilt belustigt, er


solle da runterkommen, die Show sei vor-


bei.„Bitte! MachtdasRadio an!“


Es war großartig!


Ich fand aber die Wiedervereinigung ein


Jahr später schade. Welch Chance! Ich


hatte naiv gehofft, „die“ machen was Bes-


seres. Aber der Kapitalismus ist verlo-


ckend, gefräßig und ewig hungrig. Neulich


sagte jemand im Radio, auch die im Wes-


ten hätten ja die Chance nutzen können.


Ja, stimmt!


Nun brennt es überall und der Kapitalis-


mus zeigt seine Grausamkeit mit ganzer


Wucht. Es ist Zeit für etwas Besseres.


Jetzt!Meret Becker


Die ostdeutsche Kindergeschichte „Vom Jochen, der nicht aufräumen wollte“
war Caroline Dagny Kaules Lieblingsbuch. Einfach, weil auch sie nicht aufräu-
men wollte. Doch so schlimm kann die Unordnung im Kinderzimmer gar nicht
gewesen sein. Denn wie das Buch hat auch eine Puppe mit dem von der Oma
gestrickten Jäckchen die Generationen überdauert. Als DDR-Erinnerung.
Kauleverdanktdem MauerfallihrenTraumjob.Siebewarbsichinitiativbeiei-
nem Baugrund-Ingenieurbüro. PromptludderChefsieein.„Ergabzu,neugierig
aufmichzusein,weilicham9.November1989geborenbin“,erzähltesieeinmal.
Geboren in Dresden, lebt Kaule heute in Potsdam. Dass es bis zum Tag ihrer
Geburt eine Mauer gegeben hat, spielt für sie heute kaum eine Rolle: „Ich finde,
es existieren heute kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West“, sagt sie.

Ost, West, Nord, Süd: Als Pilot eines Privatjets ist Nico Just heute überall in der
Welt unterwegs, meist fliegt er Manager hin und her. Vor drei Jahren feierte er
seinen Geburtstag in Bangkok. Er war beruflich da, lud seine Frau dazu. Dieses
Jahr wird es ruhiger zugehen: essen gehen mit der Familie, Freunde treffen. „Der
Mauerfall spielt an meinem Geburtstag oft nicht so eine große Rolle“, sagt er.
Just kam am 9. November mittags in Königs Wusterhausen zur Welt, ein paar
Stunden bevor alles sich wandelte. Seine Mutter, erschöpft von der Geburt, be-
kam vom Mauerfall nichts mit. Als der Vater am nächsten Morgen ins Kranken-
hauskamund verkündete, erfahre jetzt in den Westen,machte sie große Augen.
Vor Nico Justs Haustür in Mitte verläuft eine Reihe mit Doppelpflasterstei-
nen. Sie markieren den ehemaligen Verlauf der Mauer, die Just nur kurz erlebte.

Als ich die verwackelten Bilder auf dem


Schwarzweißfernseher meiner WG flim-


mern sah, rutschte mir ein seufzendes


„Tja, das wars dann wohl“ raus.


„Freust du dich gar nicht?“ – „Doch, klar


freu ich mich für meine halbe Verwandt-


schaft, dass die mal was anderes sehen


können, aber die werden vom Westen ver-


schluckt.“ Die ersten Demonstranten woll-


ten nicht „heim ins Reich“, die wollten eine


andere Regierung. Doch die Bundesregie-


rung hat ja schnell klargemacht, wie es


läuft: Wiedervereinigung, keine neue Ver-


fassung, wie es mal angedacht war mit


dem Artikel 146 des Grundgesetzes, son-


dern Beitritt nach Artikel 23.


Man hat die Chance einer grundsätzli-


chen Verfassungsdiskussion vertan, es


gab kein Innehalten, ob es nicht vielleicht


zwei, drei Dinge im Osten gab, die erhal-


tenswert sein könnten, etwa auch die öko-


nomische Gleichstellung der Frauen.


Dafür, dass sie im Sozialismus mitge-


macht haben, müssen sich viele heute


noch erklären, aber für die Verbrechen


des Kapitalismus muss sich keiner recht-


fertigen.Ach, die Deutschen.Mindestens


150 Tote durch rechte Gewalt seit 1990,


deutsche Soldaten im ersten Einsatz


nach 1945 ohne UN-Mandat, der NSU-


Skandal, Verflechtung von Verfassungs-


schutz und Nazistrukturen: Wie wärs


denn mal mit einer Grundsatzdebatte?


Den Artikel 146 gibts noch, man könnte


estun.„Mögenhättichschonwollen,aber


dürfen hab ich mich nicht getraut“, sagte


Karl Valentin. Warum eigentlich nicht? Wir


sinddas Volk.Mark Waschke


War’s


das?





    1. November 1989




Das


war’s!


Hoch hinaus. Um diesen Blick auf den Fernsehturm
festzuhalten, musste der Fotograf sich aufs Dach
der Zionskirche in Mitte begeben. Also auf jenes
Gotteshaus, in dem Bonhoeffer gepredigt hat und
wo in den 90ern Jahren Punkkonzerte stattfanden.

Caroline Dagny Kaule,
geboren in Dresden

Nico Just, geboren in
Königs Wusterhausen.

Meret BeckerundMark Waschke
spielen seit 2015 im „Tatort“ das
Berliner Ermittlerteam Rubin und Karow.
Beide sind auch als Theaterschauspieler
bekannt.

Fotos: Sebastian Hesse, Frederic Kern/Geisler-Fotopress,Superillu, privat

Sie wurden am Glückstag geboren. Und haben Glück im Leben gehabt. Zwei Porträts, ausgestellt im DDR-Museum in Berlin


40 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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