Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Z


um Zeitpunkt des Mauerfalls war
Hannah Kluge noch nicht mal in Pla-
nung. Auch Niklas Apfel, ihr Kommi-
litone, wurde erst Mitte der 90er
Jahre geboren. Zwei junge Menschen,
zwei Nachgeborene, die im Frühling
dieses Jahres mit elf anderen Studie-
renden in der Illustrationsklasse der Universität der
Künste sitzen und sich Gedanken machen zu den
Ereignissen im Herbst 1989, zu der Zeit davor und
kurz danach. Wie lässt sich Geschichte zeichnen?
Sie sollen sich selbst ein Bild machen, das ist die
Aufgabe.
Henning Wagenbreth ist der, der ihnen die Auf-
gabe stellt. Seit 1994 ist der Grafiker und Zeichner
Professor an der UdK. 1989 war er gerade zwei
Jahre mit dem Studium fertig, Absolvent der Kunst-
hochschuleWeißensee,hatteersteJobs,machteAni-
mationsfilme für den Abendgruß im „Sandmänn-
chen“, illustrierte Schulbücher für einen sorbischen
Verlag. Als die Welt, die er bis dahin kannte, sich
grundlegend zu verändern beginnt, setzt auch Wa-
genbreth seine Fähigkeiten anders ein. Mit drei an-
deren Illustratoren gründet er 1989 die „PGH Glü-
hende Zukunft“ in Anlehnung an die in der DDR
verbreiteten „Produktionsgenossenschaften des
Handwerks“. Zu viert gestalten und drucken sie
Flyer, Cover, Plakate für die Umweltbibliothek.
Ohne Auftraggeber, so, wie sie wollen. „Das war
eine Frage der Selbstbehauptung, wir wollten uns
nicht mehr alles bieten lassen, wollten eine eigene
Stimme finden.“
Heute,gibtWagenbreth zu, ist er dasThema Mau-
erfall fast schon ein wenig leid. „Ich hatte das zu oft
gehört, dachte ich erst.“ Dass er sich dann doch
noch mal damit beschäftigt, zusammen mit seinen
Studierenden, liegt an Niels Beintker, Journalist des
Bayerischen Rundfunks und UdK-Gastdozent für
ein Semester. „Er hat gesagt, das sei nun das letzte
Mal für die nächsten 20 Jahre, dass so ausführlich
darüber geredet wird. Und es hat mir gefallen, dass
meine Studenten fast alle nach dem Mauerfall gebo-
ren sind. Das erinnert mich daran, wie meine Eltern
vom Krieg erzählt haben – so ähnlich komme ich
mir heute vor.“
Dreieinhalb Monate undviele Arbeitsstunden spä-
ter liegt dasErgebnis ihrer gemeinsamen Arbeit vor:
„Fall 89“, eine studentische Zeitschrift, etwa im
A3-Format, 225 Exemplare, die sie im Sommer
beim Rundgang, dem Tag der offenen Tür der UdK,
verkaufenundan verschiedeneMedien undEinrich-
tungen verschicken. Auf 36 Seiten gibt es zwölf
Blickwinkel auf den Alltag dies- und jenseits der
Mauer, historische Ereignisse, Familiengeschich-
ten. Eine Spurensuche, gezeichnet und geschrieben,
denn die angehenden Illustratoren haben auch
selbst Texte produziert. Mit ihrem Projekt tasten sie
sich an eine Zeit heran, als sie „Quark im Kon-
sum-Schaufenster“ waren, wie es im Vorwort heißt.
Hannah Kluge, Niklas Apfel und die anderen be-
ginnen ihre Recherchen in der Mauer-Gedenkstätte
an der Bernauer Straße, beobachten die Menschen
und wie sie sich bewegen an diesem Ort, der die
Erinnerung wachhalten soll. „Viele verweilen ein-
fach, picknicken“, sagt Niklas Apfel. „Es ist ein ganz
anderer Umgang mit der DDR als in Hohenschön-
hausen.“ Auch dorthin fährt die Klasse, ins ehema-
lige Stasi-Gefängnis, das ebenfalls als Gedenkstätte
vom dunkelsten Kapitel des SED-Staates erzählt.
„Da habe ich vieles erfahren, das mir vorher nicht so
klar war, das war bedrückend.“ Ein Kommilitone
verarbeitet das Gesehene in einem Beitrag über Gil-
bert Furian, der einst Gefangener war und heute Be-
sucher durch die Anlage führt.
Aus den Eindrücken von der Bernauer Straße ent-
stehen mehrere Illustrationen, die in der Mitte des
Hefts auf einer Doppelseite versammelt sind, alle in
Blassrotund Taubenblau gehalten (sieherechts).Ni-
klas Apfel zeichnet einen Teil der Anlage, damals
Todesstreifen, heutegeballtes Leben:Autos, Radfah-
rer, ein Bus im Verkehrstrubel, Menschen auf Seg-
ways, Menschen mit Rollator und Kinderwagen.
Nur die Mauerreste verweisen auf die Vergangen-
heit. Hannah Kluge zoomt ran, zeigt einen verlasse-
nen Roller vor bemalter Mauer. Der Geschichtsort
ist eben auch Freizeitort.
Für ihr Thema in der Projektzeitschrift hat die
21-Jährige in der eigenen Familiengeschichte ge-
kramt,hatihre ElternundGroßelternnach persönli-
chen Objekten gefragt, die sie mit der DDR in Ver-
bindung bringen. „Da stellt man noch mal ganz an-
dere Fragen, als wenn man einfach nur so über die
Zeit spricht.“ Der Großvater legt ihr einen Papier-
umschlag vor, darin ein Brief aus dem Jahr 1967.
„Das dünne, gelbliche Durchschlagspapier hat meh-

rere Risse, doch der ‚sozialistische Gruß‘, die
Schlussformel des Schreibens, ist noch deutlich zu
lesen“,heißtes in ihrem Text, den sie mit zehn Illus-
trationen versehen hat.
DieMotive zeigenihre Großeltern inderendama-
liger Wohnung in Telschow, einem Dörfchen in der
Prignitz. Mit klaren Konturen, quasi in Schwarz-
weiß, zeigt Kluge die spartanische Bude ohne Bad
undKüche, dafürmit PlumpsklobeimKuhstall,Koh-
leofen, feuchter Decke und Ratten. Freiwillig lebte
das junge Paar dort nicht: Kluges Großvater wurde
nach seinem Lehramtsstudium verpflichtet, in Tel-
schow zu unterrichten. Aber die Großmutter, da-
mals schwanger, konnte von dort ihr Studium nicht
fortsetzen, also schickte der junge Familienvater ei-
nen Brief an Walter Ulbricht, mit der Bitte, woan-
ders eingesetzt zu werden. Die Antwort kam nicht
vom Staatsratsvorsitzenden, natürlich, sondern aus
dem Kreisschulrat Pritzwalk und ging direkt an das
Lehrinstitut des Bittstellers – eine Abfuhr, eine Er-
mahnung,es brauche Lehrer, die „echte Mitkämpfer
für unsere gemeinsame Sache werden“.
Die Familie schlägt sich so durch, als zwei Jahre
später Stasi-Mitarbeiter vor der Tür stehen und ein
verlockendes Angebot machen: Umzug in eine Neu-
bauwohnung nach Pritzwalk und ein Auto – wenn
der Großvater Stasi-Mitarbeiter wird und alle Kon-
takte zu den Verwandten im Westen abgebrochen
werden. Kurzzeitig träumen Kluges Großeltern von
den Annehmlichkeiten, sind „auf Wolke sieben“, wie
ihre Enkelin die Geschichte im UdK-Heft auch beti-
telt. Am Ende entscheiden sie sich aber dagegen. Die
Familienbande wollen sie nicht kappen.
Dies und wie ihr Leben auf der östlichen Seite der
Mauer weiter verlief, hat Kluge aufgeschrieben, pa-
rallel dazu gezeichnet: Die Stasi-Mitarbeiter, die
Mauer, Schabowski am 9. November 1989 im Fern-
sehen, den Großvater mit Motorrad auf dem Weg
von Zwickau nach Güstrow, über seinem Kopf eine
gigantische Fledermaus. Die Illustrationen zeigt sie
zwischendurch ihrer Familie, die auch mal erwi-
dert: Nein, dieses sah eigentlich so aus und jenes so.
Aber die Enkelin ist keine Historikerin, erlaubt sich
künstlerische Freiheit. „Da ist ja nun mal ein großer
Teil Fantasie dabei, wie man sich das vorstellt.“
Die Illustrationen, die ihr Professor zur Zeit des
Mauerfalls anfertigte, erzählen keine Geschichten
nach, sondern sind selbst historische Zeugnisse.
„PGH Glühende Zukunft“, das ist ein blasphemi-
scher Name für eine blasphemisch arbeitende
Gruppe. Ein Motiv Wagenbreths, das damals be-
kannt wird, zeigt Radfahrer, die laut Schriftzug
„nichts zu verlieren haben, außer ihre Ketten“ – eine
AnspielungaufdenSatzaus dem „Manifestder Kom-
munistischen Partei“, der die Ketten der Proletarier
meint und den Wagenbreth und seine Freunde nicht
mehr ertragen. „Die Plakate haben wir auch selbst in
Ost-Berlin aufgehängt, da hatte ich schon Schiss“,
erzählt der 1961 Geborene, grinst dabei aber. Hat es
zugleich Spaß gemacht? „Nun, es war das erste Mal,
dass ich auf das, was ich mache, eine echte Reaktion
bekommen habe.“ Er erinnert sich, dass sie auch Pla-
kate in den Fenstern leerer Ladengeschäfte in Prenz-
lauer Berg anbrachten, die als Ateliers dienten. „Da
wurden Scheiben eingeschlagen, Plakate herausge-
rissen, das waren sicher keine Fans von uns.“
Die aufgekratzte Stimmung jener Tage scheint in
der Geschichte seines Studenten Niklas Apfel
durch: „Die Geheime Aufnahme“ ist halb Protokoll,
halb fiktive Nacherzählung der Ereignisse am9. und


  1. Oktober 1989, als in Leipzig Tausende Men-
    schen auf die Straßen gingen und Aufnahmen der
    Proteste am nächsten Tag im Westfernsehen zu se-
    hen waren, gefilmt angeblich von einem italieni-
    schen Filmteam – eine Schutzbehauptung, denn tat-
    sächlich stammte das Material von zwei DDR-Bür-
    gern, Aram Radomski und Sigbert Schefke. Wagen-
    breth kennt Radomski von früher und organisierte
    seinem Studenten nun den Kontakt. „Wir haben uns
    drei Stunden unterhalten, daraus habe ich die Ge-
    schichte einer Verfolgungsjagd entwickelt.“ Ra-
    domski und Schefke standen längst unter Stasi-Be-
    obachtung. Um unbemerkt von Berlin nach Leipzig
    zu kommen, mussten die beiden einigen Aufwand
    betreiben.
    „Der Plan ist perfekt: Ulli wird hinten in der So-
    phienstraße stehen, wir kommen vorne an den Ha-
    ckeschen Höfen an, raus aus dem Auto, durch die
    Höfe, dann zu Ulli ins Auto und Abfahrt. Dann ge-
    radeaus Richtung Auguststraße, direkt rechts in die
    Gipsstraße, dann links in die Joachim. In der Linien-
    straße rechts wartet dann Bärbel. Da wieder raus,
    kurz durch die Büsche im Hof und bei Bärbel rein.
    Alles klar, das müsste doch klappen.“ So berichtet
    es Radomski in dem Heft. Niklas Apfel fertigte dazu
    zweifarbige Zeichnungen mit weichem Bleistift an.
    Die kindlich-naiv wirkenden Kritzeleien verleihen
    der Geschichte einen Hauch von Slapstick, aber
    auch Abenteuer. „Radomski hat mir hinterher ge-
    sagt, dass sie sich damals wie Geheimagenten ge-


fühlt haben“, erzählt Henning Wagenbreth. „Sie
dachten, sie hätten die Stasi ausgetrickst. Aber
Schefke hat Akten aus der Stasi-Unterlagenbehörde
bekommen und alles, was sie gemacht haben, steht
in den Protokollen. Beide wundern sich bis heute,
dass sie nicht verhaftet wurden.“
Auch die anderen Studierenden der Illustrations-
klasse stoßen auf interessante Themen für das Heft:
Anton Ohlow recherchiert die Geschichte der bei-
den letzten Defa-Produktionen, illustriert Filmsze-
nen mit geografischen, verspielten Formen. Das
„Wettrüsten“ zwischen Zoo und Tierpark greift Mat-
tis Bettels auf, traf dafür Jan Mohnhaupt, Autor des
Buchs „Der Zoo der Anderen“, reicherte seinen Text
durch wilde Zeichnungen an. Dagegen setzt Ofri Ya-
niv einEssayüber die Ost-Plattenbauarchitektur, das
siemitkühlen, schmucklosen Darstellungen vonBlö-
cken und langen Korridoren ergänzt. Marie Schwab
befragte Zeitzeugen zum DDR-Humor und stellte
dazu knallige Illustrationen, auch einen kleinen Co-
micstrip, der einen beliebten Witz nacherzählt:
„Hallo, Erika!“
„Tach ooch!“
„Scheiße, Erika, ist jemand gestorben?“
„Nö, wieso?“
„Aber...was willst du dann mit dem Sarg?“
„Ach, den hab ich grad gekauft, weil’s welche
gab.“
Hannah Kluge ist das Thema Mauerfall auch nach
dem Projekt nicht leid, erzählt sie. Zwar sei das
Thema in ihrer Schulzeit eingehend behandelt wor-
den,aber durchdieUni-Recherchen, „durchdie per-
sönlichen Geschichten ist die Zeit für mich noch
mal lebendiger geworden“. Sie hat sich ein eigenes
Bild gemacht.

Als Opa mit


der Stasi sprach


„Durch


die persönlichen


Geschichten ist


die Zeit für mich


nochmal


lebendiger


geworden.“ Hannah Kluge


Stillstand und Verkehr.
An E-Scooter war zu Mauer-
zeiten noch nicht zu denken,
die Illustration von Hannah
Kluge zeigt denn auch einen
traditionellen Roller am „anti-
faschistischen Schutzwall“.
Bei Niklas Apfel dagegen ist
der ehemalige Todesstreifen
bereits zu einer Art Haupt-
verkehrsachse geworden.

Henning Wagenbreth,1962 in Eberswalde
geboren, ist Professor der Illustrationsklasse
an der Universität der Künste. Mit seinen
Studierenden, darunterHannah Klugeund
Niklas Apfel, hat er ein Semester lang zum
Thema DDR und Mauerfall gearbeitet. Das
Ergebnis: „Fall 89“ – eine studentische Zeit-
schrift im DIN-A3-Format, Auflage: 225 Stück.


Geschichte, zweifarbig.
Ausnahmslos inBlassrot und
Taubenblausind die Bilder
gehalten, die die Studierenden
der Illustrationsklasse der
Berliner Universität der Künste,
beauftragt von ihrem Professor
Henning Wagenbreth, geschaffen
haben. In der studentischen
Zeitschrift „Fall 89“ werden
so auf 36 Seiten zwölf Blicke
auf den Alltag diesseits
und jenseits der Mauer, auf
historische Ereignisse und
Familiengeschichten geboten.

Hannah Kluge und Niklas Apfel waren noch nicht einmal geboren, als die Mauer fiel.


Für ihren Professor hingegen änderte sich damals alles. 30 Jahre später


lässt er die Studierenden seiner Illustrationsklasse zur Zeitenwende arbeiten –


und die eigenen Familiengeschichten neu entdecken.Von Angie Pohlers


Foto: Kitty Kleist-Heinrich

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