Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1
Was trauen sich die ehemaligen Wirtschaftschefs zu erzäh-
len? Was nicht? Eckhard Netzmann sagt, er sei als Vize-Minis-
ter für Schwermaschinen- und Anlagenbau fristlos entlassen
worden und man könne sich kaum ausmalen, was das für eine
Schande war. Danach brachte er es aber dennoch zum Stellver-
tretenden Generaldirektor des VEB Kombinat Kraftwerksanla-
genbau. „Nach der Wende mutierte die Entlassung zum Glücks-
umstand, ich wurde ja fast Widerstandskämpfer“, sagt Netz-
mann und erntet Gelächter.
Widerstandskämpfer waren er und die anderen vier Wirt-
schaftsbosse ganz sicher nicht. Wieso spricht eigentlich nie-
mand von ihnen über seine SED-Parteimitgliedschaft?
Trostel berichtet, er habe von wirtschaftlichen Problemen
im SED-Staat gewusst. Eines seiner „größten Ärgernisse“ war,
„dass wir den Bürgern nicht die Wahrheit gesagt haben“. Wieso
Produkte nicht erhältlich waren, warum es den Betrieben an
Material mangelte oder der Kaffee plötzlich nach Getreide
schmeckte – dafür gab es in der Diktatur keine Öffentlichkeit.
Dass sie unter Druck standen, sagt keiner der Wirtschafts-
chefs. Nur Bertag erzählt, die Kombinatsleitung sei auch eine
Last gewesen. Und Netzmann berichtet, die Plankommission
vernahm ihn einmal eine Viertelstunde lang, weil er eine Fünf-
jahrplanzahl für Messingschrott nicht eingehalten hatte. Es
klingt wie eine lustige Anekdote, aber hatte er da nicht Angst?

Winfried Noack findet, man müsse nach vorn blicken. Nach der
Wiedervereinigung gründete er mithilfe eines Kredits eine Arznei-
mittel-GmbH.Sie existiert heute noch. Von der Treuhand erhielt
er ein altes Importlager, die Auflage, die 35 bislang dort beschäftig-
ten Arbeiter zu übernehmen und zehn Millionen D-Mark.

Welche Träume hatten die Wirtschaftsbosse im November
1989? Netzmann sagt, er habe eine „unglaublich tiefe Freude“
empfunden. Doch das Versprechen aus Willy Brandts Rede an-
lässlich der Ostverträge 1972 vom „Respekt voreinander“ habe
sich nicht bewahrheitet. Auch Noacks Hoffnung, dass west-
und ostdeutsche Pharmaindustrie „vernünftig zusammenarbei-
ten“ könnten, wurde enttäuscht. Entgegen einer Abmachung
kamen bald Arzneimittel aus Westdeutschland auf den Markt,
Pharmareferenten hätten die Ärzte regelrecht überfallen. „Die
westdeutschen Konzerne haben neue Absatzmärkte erschlos-
sen, ohne Rücksicht auf Verluste“, meint Noack nüchtern. Für
viele Betriebe habe dies das Aus bedeutet.
Schwere Zeiten für die ehemaligen Wirtschaftsbosse, man
spürt es bis heute. Die Aufforderung der Regierung de Mazière,
ihr Kombinat aufzulösen, bekam Christa Bertag als Dreizeiler.
Von mehr als 1000 Mitarbeitern 600 und dann noch einmal
200 entlassen zu müssen, die Erinnerung daran treibt ihr noch
heute Tränen in die Augen. „Ich hatte Albträume“, sagt sie. Nur
wenige Betriebe überlebten. Die fünf Ost-Chefs hadern mit die-
sen Jahren, Bitternis liegt in ihren Worten. Und doch nicken sie,
wenn zum Schluss von „unserer“ Bundesrepublik die Rede ist.

Winfried Noack, Jahrgang
1937, ließ sich zum
Chemiefacharbeiter, dann
zum Chemieingenieur
ausbilden. 1969 wurde er
Direktor des Versorgungs-
kontors für chemische
Grundstoffe, 1979 General-
direktor des Pharma-
zeutischen Kombinats
Germed.

Christa Bertag,
Jahrgang 1942, ist Diplom-
Chemikerin. Drei Jahre
lang studierte sie an
der SED-Parteihochschule
Karl Marx. Ab 1985 war sie
Generaldirektorin des
Kosmetik-Kombinats der
DDR und damit auch Leite-
rin des zentralen Kombi-
natsbetriebs in Berlin.

Uwe Trostel,Jahrgang
1941, war Vorsitzender der
Bezirksplankommission
Magdeburg und ab 1979
Mitglied im Sekretariat
der SED-Bezirksleitung.
Ab 1981 war er Leiter
der Staatlichen Inspektion
für Investitionen bei
der Staatlichen Plankom-
mission.

Eckhard Netzmann,
Jahrgang 1938. Er leitete
ab 1979 das Schwer-
maschinenbau-Kombinat,
war Stellvertretender
Minister für Schwer-
maschinen- und Anlagen-
bau und ab 1986
Stellvertretender General-
direktor des Kombinats
Kraftwerksanlagenbau.

Manfred Domagk,
Jahrgang 1938, begann
nach dem Abitur und
zwei Jahren bei der NVA
eine Lehre als Preis-
kontrolleur auf dem Gebiet
der Preis- und Finanzpolitik
in Leipzig. Ab 1978 war
er Staatssekretär im
Amt für Preise beim
Ministerrat der DDR.

Als die Schlote noch rauchten. Blick auf das Chemiekombinat
VEB Bitterfeld im Februar 1990. Für viele DDR-Betriebe
bedeutete die Einheit kurz- oder mittelfristig das Aus.

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Fotos: akg-images/ddrbildarchiv.de, Thilo Rückeis

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