Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 POLITIK 3


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enige Tage vor dem
Jubiläum des Mauerfalls,
in einem Bankgebäude
direkt am Brandenbur­
ger Tor. Der amerika­
nische Außenminister
Mike Pompeo ist nach
Berlin gekommen, um den Deutschen zur Ab­
wechslung mal etwas Nettes zu sagen – über den
»Freiheitsgeist« von 1989, über die Bedeutung der
Nato und den gemeinsamen Kampf des Westens
gegen den Autoritarismus.
Die außenpolitische Elite Berlins aus Politik,
Diplomatie und Denkfabriken hat sich auf Ein­
ladung einer großen Stiftung eingefunden, ein Pu­
blikum mehrheitlich aus Anzugträgern, aber im­
merhin auch einige Dutzend Frauen darunter.
Freundlicher Beifall, der die allgemeine Ratlosig­
keit nicht übertönen kann. »Was gilt denn nun? Bei
seinem letzten Besuch hat Pompeo America first
gepredigt, jetzt singt er das Hohelied der Allianz«,
erinnert sich ein Amerika­Experte. »Und für wen
spricht der Mann eigentlich? Für seinen Präsiden­
ten wohl eher nicht.«
Jeder hier im Saal weiß, dass Donald Trump die
Nato für einen Haufen Trittbrettfahrer hält, die
Amerika ausnutzen – die Deutschen dabei in seinen
Augen ganz besonders. In einem Monat will das
Bündnis in London sein 70­jähriges Bestehen feiern.
Weil Donald Trump sich angekündigt hat, herrscht
extreme Nervosität unter den Alliierten. Das wich­
tigste Mitglied ist zugleich der gefährlichste Gegner
des mächtigsten Militärbündnisses der Welt.
Eigentlich vertrackt genug. Aber es geht um
mehr als die Nato.
Die Situation für die deutsche Außenpolitik hat
sich in diesen Herbsttagen dramatisch verschärft.
Trump lässt die Kurden im Stich und sät damit
Zweifel an Amerikas Verlässlichkeit auch für andere
Verbündete. Putin gewinnt den Krieg in Syrien für
sich und seinen Schützling Assad. Der türkische
Premier Erdoğan droht europäischen Kritikern sei­
ner Invasion mit einer neuen Flüchtlingswelle und
atomarer Bewaffnung der Türkei.
Es wäre ein passender Moment, die politische
Fantasie zu mobilisieren und Deutschlands Rolle
in der Welt neu zu bestimmen. Die bisherige Ord­
nungsmacht USA zieht sich zurück und wird zum
Quell von Unsicherheit. Russland schwingt sich
zum Makler im Nahen Osten auf. China baut eine
parallele Weltordnung nach seinen eigenen Inte­
ressen auf. Die EU verliert mit dem absehbaren
Ausscheiden des Vereinigten Königreichs an strate­
gischem Gewicht.
Kein anderes Land ist so sehr von diesen Ent­
wicklungen betroffen wie Deutschland: sicherheits­
politisch abhängig von den USA, energiepolitisch
verflochten mit Russland, handelspolitisch ange­
wiesen auf China und zugleich letzter Garant der
EU. Aber es gibt keine politische Debatte auf der
Höhe dieser Probleme. Warum?


Eine Art Totstellreflex
Ein ausländischer Diplomat, der Deutschland seit
Jahrzehnten beobachtet (und seinen Namen lieber
nicht in der Zeitung lesen will), erklärt sich die »läh­
mende Unklarheit« der deutschen Außenpolitik als
Effekt einer »Dämmerungszeit«. Deutschland be­
finde sich in einem doppelten Übergang: Angela
Merkel könne und wolle offenbar keine Impulse
mehr geben. Das innenpolitische Warten auf einen
Machtwechsel falle zusammen mit der außenpoliti­
schen Übergangszeit, in der die amerikazentrierte
Ordnung zerbrösele, ohne dass eine neue absehbar
werde. Das gesamte System aus Verträgen und In­
stitutionen, dem Deutschland seinen Wiederaufstieg
verdankt, stehe infrage: die EU, die Nato, der Frei­
handel nach WTO­Prinzipien, das Atomwaffen­
kontrollregime. Aus dem doppelten Stress innen­ und
außenpolitischer Verunsicherung flüchte sich
Deutschland in eine Art Totstellreflex. Für die neu­
alte Welt der Großmacht­Rivalität sei die verschämte
Mittelmacht Deutschland nicht gut aufgestellt.
So sieht es offenbar auch der französische Präsi­
dent, der dem Economist soeben ein krasses Interview
gegeben hat. Es ist ein Frontalangriff nicht zuletzt auf
die deutschen Partner, die er zum Bekenntnis zwingen
will: Wofür steht ihr? Was seid ihr bereit einzusetzen?
Gibt es überhaupt eine deutsche Außenpolitik?
Emmanuel Macron hat der britischen Zeit­
schrift gesagt, die Nato sei »hirntot«. Der Chef ei­
nes Think tanks fasst die Lage so zusammen: »Groß­
artig. Jetzt haben wir zwei Präsidenten, die unser
Bündnis runtermachen – einen dummen und ei­
nen smarten.«
Macron hat in seinem Interview allerdings Sor­
gen geäußert, die auch viele deutsche Außenpoliti­
ker umtreiben: Europa drohe »geopolitisch zu ver­
schwinden« und »die Kontrolle über sein Schick­
sal zu verlieren«. Die Europäer müssten ihre »mi­
litärische Souveränität« wiedergewinnen. Man sei
zu abhängig von den USA, zu nachgiebig gegen­
über China, zu passiv in der Russlandpolitik. Ob
der zentrale Artikel 5 des Nato­Vertrags noch gel­
te, nach dem die Mitglieder sich im Fall eines Bei­
tritts gegenseitig beistehen müssen »Ich weiß es
nicht«, so Macron.
Dass der französische Präsident derart rück­
sichtslos sagt, was er denkt, verbindet ihn bei allen
Unterschieden mit Donald Trump – und trennt
ihn von der deutschen Bundeskanzlerin. Deren
Antwort auf seine Provokation beschränkt sich auf
den Hinweis, ein solcher »Rundumschlag« sei
»nicht nötig«.


Das Ende eines Tabus
Die deutsche Politik hat jedoch schwierige Ent­
scheidungen vor sich wie seit dem Ende des Kalten
Krieges nicht mehr. Dabei wird man ohne einen
tabuisierten Begriff nicht auskommen: Interesse.
Deutsche Interessen zu formulieren galt in der deut­


... IN DER WELT


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Sag m i r,


du stehst


Illustration: Doreen Borsutzki für DIE ZEIT

schen Außenpolitik lange als unfein oder gar gefähr­
lich. Gerade das freilich macht die deutsche Außen­
politik für ihre Partner unverständlich und unbe­
rechenbar. Was also sind deutsche Interessen in Be­
zug auf die USA, Russland, China und die EU? In
mehr als einem Dutzend Hin ter grund gesprä chen
mit Außenpolitikern, Diplomaten und Experten
(aus denen im Folgenden meist nicht wörtlich zi­
tiert wird, um unfertige Gedanken freier durch­
spielen zu können) zeigt sich eine neue Bereitschaft,
sich einer ungemütlichen Realität zu stellen.
Falls Donald Trump eine zweite Amtszeit er­
ringen sollte (wofür leider einiges spricht, vor al­
lem der Zustand seiner Gegner, der Demokraten):
Wer möchte darauf wetten, dass er mit der Nato
nicht dasselbe macht wie mit dem Pariser Klima­
abkommen und dem Iran­Deal? Es würde dann
schnell klar, wie günstig die Nato­Versicherungs­
police für das Mitglied Deutschland (derzeit 1,
Prozent vom BIP) in Wahrheit ist. Der ewige Streit
darüber, wie schnell der deutsche Beitrag anwachsen
sollte (1,5 Prozent bis 2024? 2 Prozent ab 2031?),
hätte sich erledigt: Ohne die Kommandostruktur

der Nato und den nuklearen Schutzschirm würde
die deutsche Verteidigung mit Sicherheit sehr viel
teurer als heute.
Es klingt plausibel, dass Deutschland und
Frankreich die »militärische Souveränität« (Ma­
cron) Europas vorantreiben sollten.
Aus deutscher Sicht hat die Sache allerdings
einen Haken: Würde die europäische Verteidi­
gung als Nato­Ersatz (nicht Nato­Ergänzung) ge­
sehen, könnte sie das Ende des Bündnisses noch
beschleunigen. Es wäre geradezu eine Vorlage für
Trump, die USA zurückzuziehen. Und was wird
in diesem Szenario mit den Polen und Balten, die
den Westeuropäern nicht zutrauen, sie alleine ge­
gen russische Aggression zu verteidigen? Würden
sie sich bilateral weiter an die Amerikaner an­
schließen und damit Europa in verschiedene Zo­
nen der Sicherheit spalten? Im deutschen Interesse
müsste diese Fragmentierung um jeden Preis ver­
hindert werden. Die Bundeswehr könnte ihre
Präsenz in Osteuropa im Rahmen der Nato weiter
ausbauen. Das würde zeigen, dass man weiter an
die Notwendigkeit der Nato glaubt, und die öst­

lichen Nachbarn beruhigen, die sich seit der
Krim­ Annexion fragen, ob sie die nächsten Opfer
sein werden.
Die deutsche Russlandpolitik tritt auf der
Stelle. Ihre widersprüchliche Kombination aus
Sanktionen und Pipe lines versteht niemand mehr.
Wie klug ist es, die deutsche Gasversorgung über
eine weitere Ostsee­Röhre an Wladimir Putin zu
binden? Nord stream 2 umgeht die Ukraine als
Transitland für russisches Gas und schneidet
ebenjenes Land, das der Westen gegen russische
Aggression unterstützt, von überlebenswichtigen
Transfergebühren ab. Im deutschen Interesse sollte
der Pipe line­ Bau gestoppt werden.
Putins Einfluss, beobachtet der Politikwissen­
schaftler Herfried Münkler treffend, ist »dort am
größten, wo die Verhältnisse in Unordnung sind«.
Er profitiert vom Ordnungszerfall. Gibt es einen
Weg, Russland an einer stabilen Ordnung in der
gemeinsamen Nachbarschaft zu interessieren?
Macron sagt in seinem Interview, er wolle Putin
ein Angebot zur Kooperation machen, »ohne naiv
zu sein«. Einen Versuch ist es wert, vielleicht ar­

beitsteilig zwischen Deutschen und Franzosen:
Berlin muss sich dafür einsetzen, dass Macrons
neue Ostpolitik nicht über die Köpfe der öst­
lichen Nachbarn hinweg geschieht.
Auch im Verhältnis zu China, Deutschlands
wichtigstem Zukunftsmarkt, gibt es einen Dis­
sens mit Frankreich: Die Bundesregierung ist of­
fen dafür, die Schlüsseltechnologie der kommen­
den Jahrzehnte – die schnelle Datenübertragung
im neuen Standard 5G – von der chinesischen
Firma Huawei in Deutschland installieren zu las­
sen. Sie will Zugriffe der chinesischen Regierung
auf die kritische Infrastruktur durch strikte Vor­
schriften und Kontrollen ausschließen. Macron
hält das für blauäugig. Peking überwacht seine
eigenen Bürger massiv und verpflichtet chinesi­
sche Unternehmen, dem Staat Zugriff auf ihre
Daten zu gewähren. Wer die zentrale Infrastruk­
tur der Zukunft bauen dürfe, meint der französi­
sche Präsident, sei eine Frage der »europäischen
Souveränität«. Er hat recht. Datensicherheit ist
die Basis jeder künftigen Sicherheitspolitik, da­
rum sollte man Huawei ausschließen und eine
europäische Alternative fördern. Auch das liegt
im deutschen Interesse.

Rückkehr der Geopolitik
Alle diese Fälle haben etwas gemeinsam. Sie dre­
hen sich um Strategie, Ordnung, Souveränität:
Die Sprache der Geopolitik kehrt zurück. Die
neue Kommissionspräsidentin von der Leyen hat
am vergangenen Wochenende erklärt, Euro pa
müsse »die Sprache der Macht« lernen. Das klingt
martialisch, aber es geht durchaus nicht nur ums
Militär. Die verschiedenen Machtsorten – öko­
nomische, politische, kulturelle und militärische
Macht – sind in Europa ungleich verteilt. Das ist
eine Schwäche, weil sie sich wechselseitig bedin­
gen. Ohne starke Wirtschaft keine kulturelle Aus­
strahlung, ohne militärische Zwangsmittel kein
politisches Gewicht. Deutschland ist wirtschaft­
lich stark und militärisch schwach, bei Frankreich
steht es umgekehrt.
Die Rückkehr der Geopolitik hat Folgen für
alle Politikbereiche. Klimapolitik, das hat die
Bundeswehr erkannt, ist (auch) Sicherheitspolitik.
Jüngst hat man sich darum mit den Folgen des
Klimawandels für die internationale Ordnung be­
schäftigt. Carlo Masala, Professor an der Bundes­
wehr­Universität in München, glaubt, dass das
Militär sich auf Einsätze vorbereiten müsse, »die
weder der klassischen Bündnisverteidigung noch
der Art der bislang erfolgten Auslandseinsätze ent­
sprechen«. Wenn ganze Staaten und Regionen
durch die Folge klimatischer Veränderungen so­
zial destabilisiert würden, müsse die Bundeswehr
in der Lage sein, mit Partnern Flüchtlingsströme
zu managen und Hilfsaktionen durchzuführen.
Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Si­
cherheitskonferenz, weist auf die geopolitischen
Folgen der deutschen Haushalt­ und Finanzpoli­
tik hin. Was haben wir von der »schwarzen Null«,
fragt er, »wenn die EU wieder in eine Gruppe von
Nationalstaaten zurückfallen sollte«? Sind die
deutsche Schuldenbremse und die prinzipielle
Gegnerschaft zu einer europäischen »Trans fer­
union« noch die richtigen Prioritäten in einem
aus ein an der drif ten den Europa?
In außenpolitischen Debatten heißt es immer
wieder, dieser oder jener Vorschlag diene bloß der
»innenpolitischen Profilierung« (so zuletzt bei
Kramp­Karrenbauers Vorschlag einer »Schutz­
zone« in Nordsyrien). Das ist aber eine fragwürdige
Kritik.
Denn wenn es in der deutschen Außenpolitik
um viel ging, wurde oft erbittert gekämpft –
über die Wiederbewaffnung, den Nato­Beitritt,
die Entspannungspolitik, die Nachrüstung, die
Wiedervereinigung, die ersten Auslandseinsätze
der Bundeswehr, den Irak­Krieg und die Euro­
Rettung. Man schimpfte sich vaterlandsloser
Geselle, Verräter, Kriegshetzer, Kalter Krieger.
Immer ging es dabei auch um die Macht in
Bonn beziehungsweise später in Berlin. Aber
eben nicht nur: Angetrieben wurden diese De­
batten von unterschiedlichen Überzeugungen,
wo Deutschland hingehört.
Weil die Westbindung von Adenauer klar ge­
sichert worden war, konnte Willy Brandt die Ost­
politik in Angriff nehmen. Die Wiedervereini­
gung erntete Helmut Kohl erst, nachdem er das
Ergebnis der von ihm zuvor bekämpften Ent­
spannungspolitik akzeptierte. Die Mitgliedschaft
im west lichen Bündnis brachte Auslandseinsätze
mit sich, ausgerechnet für Rot­Grün.
In den Debatten, die mal die Rechte, dann die
Linke gewann, entstand die außenpolitische
Identität der Bundesrepublik. Fest im Westen
ver ankert, doch zunehmend selbstbewusst gegen­
über den USA; eingebunden in Europa und erst
dadurch souverän; mit einer ausgestreckten Hand
gegenüber Russland, aber nicht auf Kosten der
kleineren östlichen Nachbarn.
Alle diese Festlegungen kamen auf diese Weise
zustande: Es wurde heftig gestritten und dann
mit Mehrheit entschieden. Den späteren Konsens
hat das nicht verhindert. In der großen Koa li tion
ist es umgekehrt: Was in der Verteidigungs­,
Russland­ und Europapolitik nicht bereits kon­
sensfähig ist, wird gar nicht erst bearbeitet, aus
Furcht vor der Kontroverse. Das ist der Kern der
heutigen außenpolitischen Lähmung.
Sie lässt sich überwinden, wie eine Anekdote
über Konrad Ade nau er belegt, die Wolfgang
Schäuble kürzlich erzählt hat. Als Ade nau ers Spre­
cher diesen von der Wiederbewaffnung abbringen
wollte mit dem Hinweis, 75 Prozent der Deut­
schen seien da gegen, soll der Kanzler gesagt ha­
ben: »Da kommt eine Menge Arbeit auf Sie zu.«

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Macrons Ehrgeiz, Putins Machthunger, die Schwäche der Nato:


Deutschland kann sich nicht mehr davor drücken,


die eigenen Interessen zu vertreten.


Wenn es in Berlin darüber zu Streit kommt – umso besser VON JÖRG LAU

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