4 POLITIK 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47
W
äre es in Zeiten des Kli
mawandels nicht eine
gute Idee, wenn für jeden
Menschen ein persön
liches CO₂Konto einge
richtet würde, zum Bei
spiel mit einem Grund
betrag für Emissionen bis zum Jahre 2035? Man
könnte dann selbst bestimmen, wofür man sein
Guthaben verwendet: für Flugreisen in ferne Län
der etwa oder für den Verzehr von Dry Aged Beef
oder für sonntägliche Touren mit einem Aston
Martin DB11.
Man könnte den verfügbaren Grundbetrag
durch eine klimaschonende Lebensweise aber auch
erhöhen: Der Einzug in ein Passivhaus, das nur
durch Sonneneinstrahlung und durch die Abwärme
von technischen Geräten und von Menschen be
heizt wird, oder ein intelligentes Mobilitätsverhal
ten, das Busse, Bahnen, Fahrrad und CleverShuttle
kombiniert, würde den Grundbetrag an Emissio
nen erhöhen, der zur freien Verfügung steht.
All das müsste, wenn man das Gedankenexperi
ment noch weiter treiben will, für jede Person na
türlich systematisch erfasst und kontextsensibel
bewertet werden. Die dazu notwendige Erhebung
von Daten würde alles übersteigen, was bislang an
permanenter Verhaltenskontrolle üblich ist. Aber
wer wollte dem widersprechen? Will nicht eine
überwältigende Mehrheit dazu beitragen, den An
stieg der mittleren Erderwärmung auf 1,5 Grad
gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begren
zen? Wer wollte schon sein persönliches Verlangen
nach Datensouveränität über die Überlebensfrage
des Klimawandels stellen? Die Bürgerin würde ja
für umweltschädliches Verhalten nicht bestraft,
sondern könnte ihre Teilhabe am Klimawandel
selbst dosieren und durch den Erwerb zusätzlicher
Optionen nach eigenem Gutdünken optimieren.
Könnte eine solche Variante der digitalen Ge
sellschaftssteuerung bei uns Akzeptanz finden?
Bloße Utopie ist das nicht. In China erlebt die
Bevölkerung die Sammlung persönlichkeitsbezoge
ner Daten zur politischen Gestaltung der Zukunft
derzeit nicht als skandalöse Überwachungsmaschi
ne, sondern offenbar vor allem als Chance für jeden
Einzelnen, sich durch aktive gesellschaftliche Teil
habe Privilegien für die private Lebensgestaltung zu
sichern. Wer sich dort so verhält, wie es die Füh
rung der Kommunistischen Partei vorgibt, und dies
im Rahmen des Sozialkreditsystems, das gerade ein
geführt wird, auch digital dokumentiert, der wird
belohnt. Für parteigefälliges Wohlverhalten winken
Berechtigungsscheine für eine größere Wohnung,
für einen Kindergartenplatz in der Nähe oder für
die Nutzung von Flugzeug und Schnellbahnen.
Das Prinzip dieses Modells der Gesellschafts
steuerung lautet: Sicherung von Massenloyalität
durch die Vergabe von Privilegien. Es ist das eine
Modell für die Gestaltung der digitalen Zukunft.
Das Gegenmodell dazu stellen die USA dar.
Eine zentrale Vergabestelle für Privilegien ist in
dem Land unvorstellbar, in dem jede Person das
verfassungsmäßige Recht hat, ihr Glück zu suchen.
Was aber hält dann ein Land zusammen, das im
Zeichen sozialer und politischer Polarisierung
mehr und mehr aus ein an der fällt? Die Antwort von
Google, Face book, Amazon und Apple lautet: Die
Menschen werden mit weitgehend kostenlosen
Lebensassistenzangeboten versorgt, die ihnen die
Führung eines eigenen Lebens ermöglichen. Das
Internet mit seinen kommunikativen und kom
merziellen Angeboten wird zum Medium, das ei
nen buchstäblich im Spiel hält. Das geht mit
GrünkohlChips, ThunfischSteaks und Aware
ness Tools genauso wie mit XXLBurgern und
BilligOpioiden. Ungeachtet des jeweiligen Le
benszuschnitts ist eine Existenz in der Gesellschaft
ohne mobilen Rechner kaum mehr möglich. Man
zahlt mit seinen Daten und erfreut sich an der un
geheuren Bequemlichkeit des digitalen Anschlus
ses an die Welt. Massenloyalität wird hier durch
die Gratisversorgung mit digitalen Lebenshilfen
gesichert. Und für den Zugewinn an Bequemlich
keit wird die persönliche Datensouveränität be
reitwillig geopfert.
Das ist die amerikanische Option, die mit der
chinesischen in scharfem Wettbewerb um die Vor
herrschaft in der Welt von morgen steht.
In beiden Modellen wird auf spezifische Weise
für Zukunft mobilisiert: In China herrscht eine
futuristische Stimmung, die lieber alles in die Luft
sprengen würde, als sich von falschen Bedenken
über die Wahrung ewiger Kulturgüter, humanisti
scher Maßstäbe oder ontologischer Ehrfurcht von
irgendetwas abhalten zu lassen. Die Privilegien für
den Einzelnen werden so an das Vorangehen der
ganzen Gesellschaft gebunden. In den USA heißen
die modernen Propheten der Zukunft »Chief In
novation Evangelist« und sind bei Google ange
stellt. Einzelne sind aufgerufen, im Silicon Valley,
wo sogar die Sterblichkeit nicht von vornherein als
unumstößliche Wahrheit akzeptiert wird, die Zu
kunft für eine Gesellschaft zu produzieren, die sich
im Netz über ihren eigenen Untergang hinweg
tröstet. Am Ende bleibt das Versprechen einer
Singularität, die sich in den TargetingMethoden
der Werbung erfüllt: Du bist gemeint! Deine Ge
schichte soll erzählt werden! Deine Stimme zählt!
Gibt es in dieser Systemkonkurrenz zwischen
China und den USA noch einen dritten Weg, wo
möglich einen europäischen? Was hätte Europa,
was hätte Deutschland in einem Konflikt um die
globale Zukunft in die Waagschale zu werfen?
Sind wir schon festgelegt auf ein Modell, das Le
benschancen in der digitalen Gesellschaft nur
mehr entweder als kommerzielle Dienstleistungen
oder als soziale Privilegien zu gestalten vermag?
Bleibt nur die Wahl zwischen Huawei oder Apple
und Face book?
Die europäische Erfahrung sozialer Teilhabe und
gesellschaftlichen Reichtums beruht auf der Idee
sozialer Rechte. Man gewinnt die Hingabe der Ein
zelnen für die gemeinsame Zukunft weder dadurch,
dass man individuelle Entfaltung an Gehorsam
bindet, noch dadurch, dass man bei ihnen immer
wieder die frontierErwartung schürt, ein neues und
unbekanntes Land zu erobern und sich untertan zu
machen. Europa macht die Einzelnen zu Trägern
unveräußerlicher Rechte, die ihrem Stolz genügen,
ihren Einsatz fordern und sich dabei gemeinsam an
einer Idee des guten Lebens orien tie ren. Ich fühle
mich nicht groß, weil ich ein Vorrecht genieße oder
ein Held bin, sondern weil ich Teil einer Solidar
gemeinschaft bin, in der man für ein an der aufkommt
und so die gemeinsame Zukunft gestaltet.
Rechte schaffen Vertrauen, verwirklichen sich
in wechselseitiger Verpflichtung und ermöglichen
gemeinsames Handeln. Sie können aber auch als
ein selbstverständlicher Besitz abgebucht werden,
aus dem sich Ansprüche ableiten und der Enttäu
schungen mit sich bringt: Wer garantiert das Recht
auf eine bezahlbare Wohnung, wer kommt für die
kostenlose Bildung auf, was ist in Zeiten hoher
Arbeitslosigkeit mit dem Recht auf Arbeit? In die
sem Fall sind Rechte nicht die Quelle inniger Ver
bundenheit, sondern der Treibstoff für Konflikte,
die die Gesellschaft beleben.
In der Auseinandersetzung über die Zukunft
des Kapitalismus ist die europäische Position die
schwächste und die stärkste zugleich.
Schwach ist sie, weil ziemlich unklar ist, welche
Rechte im digitalen Zeitalter überhaupt noch ein
klagbar sind. Digitale Rechte, die dem Einzelnen
trotz der Abhängigkeit von den Daten anderer ein
Gefühl von Autorschaft über sein eigenes Leben
verleihen, sind zwar in Gestalt der Datenschutz
Grundverordnung der EU verbrieft, aber die
Wirklichkeit dieser Rechte ist noch höchst zweifel
haft. Der Bürger ist heute zuerst Konsument. Mit
der Bewegung im Netz unterzeichnet er den un
geschriebenen Vertrag, dass seine Daten zur Opti
mierung seiner Situation als Nutzer dienen. Dass
er oder sie als Bürger irgendwann Stopp sagt und
zum Beispiel das Recht auf einen digitalen Neu
anfang einfordert, ist weder normativ noch tech
nisch vorgesehen.
Diese Schwäche ist zugleich eine Stärke, weil
sie die Behauptung erneuert, dass Gesellschaften
nur dann ihre innovative Kraft aufrechterhalten,
wenn die Einzelnen einander vertrauen können
und als Teile eines Ganzen eine Zukunft verkör
pern, an die man glauben kann.
So wie in der deutschen Industrie längst eine
Rekombination von industriellen, digitalen und
dienstleistenden Elementen stattgefunden hat,
sind in Europa die Voraussetzungen für die im
vollen Gang sich befindende dritte Stufe der Evo
lution des Netzes gegeben: Nach dem kommuni
kativen Netz mit den sozialen Netzwerken, dem
kommerziellen Netz mit den Internetkaufhäusern
befinden wir uns weltweit jetzt im Aufbau eines
industriellen Netzes der Dinge.
Wie der Mensch sich hier als vernetzter Produzent
mit verteilter Intelligenz, als disponierender Kon
sument mit einer Vielfalt händlerischer Möglich
keiten und als konstitutiver Bürger ganz neu und
anders zur Geltung bringt – das ist das Pfund, mit
dem Europa und Deutschland in den Kampf um die
Zukunft der nicht mehr westlichen Welt ziehen.
Es geht dabei um die Frage, ob offene Gesell
schaften individuelle Freiheit und kollektive Hand
lungsfähigkeit als die zwei Seiten einer gemeinsamen
Anstrengung noch einmal zum Schwingen bringen
können. Man kann die Talente, den Willen und
den Mut der Einzelnen bewundern und trotzdem
an die Macht aller glauben, die sich im Wettbewerb
voranbringen, die sich in gemeinsamer Freude be
flügeln und ohne Zwang und Anreiz ein an der
Schutz bieten. Aus der Individualität kommt die
Bewegung, aus der Solidarität die Form. Das ist der
europäische Weg.
Heinz Bude lehrt Soziologie an der Universität Kassel,
Philipp Staab an der HumboldtUniversität in Berlin
G
erade drei Wochen ist es her, da konnte
man eine Linkspartei erkennen, die man
eigentlich nicht mehr zu kennen glaubte.
Eine Partei, die strategiefähig war, geschickt in der
öffentlichen Kommunikation, die planvoll und zu
alledem auch noch geschlossen agierte.
Für Bodo Ramelow bedeutete dies 30 Prozent
und einen Regierungsauftrag in Thüringen. Für
den Rest der Partei allerdings nicht mehr als eine
Ausnahme von der Regel. Denn von all dem, was
die Thüringer Linke stark machte, kann man in
der Bundestagsfraktion, also dem eigentlichen
Machtzentrum der Partei, das Gegenteil antref
fen. Statt Geschlossenheit regiert hier die Zwie
tracht und statt des Aufbruchs eine gut gereifte
Apathie.
Dabei sollte in dieser Woche eigentlich alles
anders werden. Im März hatte Sahra Wagen
knecht angekündigt, sich vom Fraktionsvorsitz
zurückzuziehen. Sie war zermürbt von den
Kämpfen in der Linken, der Dauerrivalität zwi
schen der Partei und der Fraktionsführung, dem
Richtungsstreit, der zum Machtkampf wurde
und andersherum.
Nun hat die Linksfraktion eine neue Vorsitzen
de. Gemeinsam mit Dietmar Bartsch wird Amira
Mohamed Ali die Fraktion führen, die sich am
Dienstag gegen ihre Mitbewerberin Caren Lay
durchsetzte.
Doch zur Tragik der Linken gehört es, dass
auch die neue Führung kaum Zusammenhalt ver
spricht. Bereits in den vergangenen Monaten war
zu erkennen, dass der Rückzug Sahra Wagen
knechts zwar eine personelle, nicht aber eine in
haltliche Klärung bedeuten würde. Die soge
nannte Milieudebatte, die die Linke in den ver
gangenen Jahren lähmte und die, aufs Wesent
liche reduziert, in der etwas akademischen Frage
bestand, ob man eine Partei für die Deklassier
ten oder für die urbane Avantgarde sein wollte,
wurde mit erstaunlicher Ergebnislosigkeit weiter
geführt. Jedes Sowohlalsauch endete in einem
Wedernoch, und zuletzt ging es bei alledem
immer weniger um Strategie und Richtung als
um das rituelle Kultivieren der bekannten Gegen
sätze.
Es war also wenig verwunderlich, dass wesent
liche Kräfte in der Fraktion bemüht waren, die
Machtarithmetik der WagenknechtZeit in die
Phase nach ihr zu retten. Jedes Zutrauen hätte
schließlich als ein Scheitern gelten können – und
jede Annäherung als Verrat. So verlief auch diese
Wahl nach dem bekannten Muster: Die Bartsch
Vertrauten und WagenknechtAnhänger stimm
ten wohl gemeinsam – und knapp die Hälfte der
Fraktion stimmte gegen sie.
Am Ende war es eine Mehrheit von zwei Stim
men, mit der die weitgehend unbekannte Abge
ordnete Amira Mohamed Ali zur neuen Vorsitzen
den gewählt wurde. Sie muss nun, nach gerade
einmal zwei Jahren im Bundestag, eine Frak tion
führen, in der die Gräben nach der Wahl noch tie
fer zu werden drohen. Denn während auch ihre
Gegner Wagenknechts Bedeutung für die Links
partei zähneknirschend anerkannten, müssen sie
nun einer Vorsitzenden folgen, deren Führungsan
spruch nicht mehr durch öffentliche Strahlkraft
getragen wird. Sondern, zumindest einstweilen,
bloß von der Zweistimmenmehrheit des Macht
blocks WagenknechtBartsch.
So folgt die Linke mit ihrer Wahl dem großen
Trend zum Weitersoismus. Die SPD schrumpft
vor sich hin, die Union verliert sich in Führungs
romantik und Konservatismuskitsch, und die
Groko findet am Ende immer irgendeinen Kom
promiss, unter dem anschließend mehr oder we
niger gemeinsam gelitten wird. Es ist ein Sog des
Gewohnten, der so stark ist, dass er auch die
Opposition erfasst. In der Linksfraktion wird es,
wenn nichts ganz und gar Überraschendes pas
siert, ebenfalls weiter so gehen. Die Lager werden
sich belauern, und die inneren Kämpfe verschlu
cken, wie gewohnt, einen Großteil der politi
schen Energie. Zufrieden sind damit die wenigs
ten Abgeordneten, einen Ausweg kennen sie
nicht. Aber vielleicht muss sich erst die große
Ordnung verändern, damit sich auch die kleine
ändern kann.
Die Linkspartei hat eine Nachfolgerin
für Sahra Wagenknecht gewählt.
Reicht das für einen Aufbruch aus
der Apathie? VON ROBERT PAUSCH
Sog der
Gewohnheit
Da passt noch was dazwischen
Die USA und China wetteifern um die digitale Weltherrschaft.
Europa könnte mit einem eigenen Modell dagegenhalten VON HEINZ BUDE UND PHILIPP STAAB
Illustration: Vasjen Katro a.k.a Baugasm/Slanted Magazine, aus der Ausgabe „Europa“