Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN


»Als ich allein war,


kamen mir die Tränen«


Sind Sie Teil eines politischen Problems? Welcher Politiker hat Ihnen zuletzt leidgetan?


Diese Woche stellen wir unsere Fragen dem Schriftsteller und Publizisten Navid Kermani


1 Welches Tier ist das politischste?
Vermutlich die Ameise. Sie muss ihren
Alltag extrem an der Gemeinschaft aus­
richten.


2 Welcher politische Moment hat
Sie geprägt – außer dem
Kniefall von Willy Brandt?
Ich war ein Kind, sicherlich noch nicht in
der Schule, und saß in Teheran bei meiner
Tante. Ich hatte etwas aufgeschnappt von
Folter und habe einfach gefragt: Was ist
denn das, stimmt das? Plötzlich sagten am
Tisch alle »Pssst!«. Dieses Überraschende



  • es gibt Dinge, die man nicht einmal zu
    Hause ansprechen darf – hat sich mir ein­
    gebrannt. Und die Angst.
    Sie haben selbst einen Moment geprägt,
    nämlich 2014 mit Ihrer Rede zum 65.
    Jahrestag des Grundgesetzes. Hätten Sie
    dieser Rede heute etwas hinzuzufügen?
    Nein.
    Ist in der Flüchtlingspolitik aus Ihrer Sicht
    etwas besser geworden seither?
    Als ich die Rede hielt, gab es im öffent­
    lichen Bewusstsein noch keine Flücht­
    lingskrise, obwohl seit Anfang des Jahr­
    tausends bereits jedes Jahr mehrere Tau­
    send Menschen im Mittelmeer ertranken.
    2015 kamen dann eine Mil lion, und die
    Krise rückte auch ins deutsche Bewusst­
    sein. Inzwischen ist das übergegangen in
    bewusstes Ignorieren. Ich gehöre nicht zu
    denen, die sagen, Türen auf und alle will­
    kommen. Ich glaube, dass es komplexere
    Antworten braucht. Aber die braucht es
    eben, und davon sind wir heute wieder so
    weit entfernt wie 2014.


3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Das ist dann doch der Kniefall von Willy
Brandt. Im Bundestag wurde Brandt da­
für als Vaterlandsverräter beschimpft, aber
meine Familie redete sehr lebhaft und po­
sitiv von ihm. Dass ein Staatsführer, der
doch eigentlich für Stolz, für Macht, für
Männlichkeit steht, aus Scham auf die
Knie ging, verblüffte und beeindruckte
meinen Vater, das kannte er nicht.


4 Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Das war 2006 nach der Rückkehr von
meiner ersten Afghanistan­Reise. Als ich
allein war, kamen mir die Tränen. Das
Elend in Afghanistan war einfach nieder­
schmetternd und die Wirklichkeit in
Europa so unwirklich, unwirklich be­
quem. Dabei habe ich wirklich kein an­
deres Land erlebt, wo die Menschen mir
so extrem herzlich entgegengekommen
sind wie in Afghanistan.


5 Haben Sie eine Überzeugung,
die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
Ich widersetze mich der gendergerechten
Sprache. Wenn man die Schriftsprache
nicht mehr sprechen kann, dann ist das
für einen Schriftsteller vielleicht noch
mal schmerzhafter als für andere – weil
der Sprache Schmerz zugefügt wird.
Sprache ist eben auch Schönheit, ist
Form, ist Klang. Ja, und meine Bücher
halten sich auch noch konsequent an die
alte Rechtschreibung, da bin ich richtig
reaktionär.


6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
1983 bei der ersten Friedensdemo im
Bonner Hofgarten. Diese für mich über­
wältigende Menge von Menschen, dieses
Gefühl: Gemeinsam können wir was be­
wegen. Ich war 15, aber für mich war das
ein ganz erhabener Moment. Das Gefühl
hat sich allerdings schnell verflüchtigt,
denn kurzfristig hat die Friedensbewe­
gung bekanntermaßen nichts bewegt; der
Doppelbeschluss kam. Langfristig hat sie
aber doch das Bewusstsein verändert.


7 Und wann haben Sie sich
besonders ohnmächtig gefühlt?
Ich war 2009 als Reporter für die ZEIT
dabei, als im Iran die Demokratie­
bewegung niedergeschlagen wurde. Als
die Knüppel und das Tränengas kamen,
blieb mir nichts übrig, als einfach zu
rennen, und ich merkte: Ich bin total
ohnmächtig. Ich habe ein Bild vor Au­
gen, wie ein Polizeiknüppel in einen
Schädel hineinfährt und Blut spritzt; das
war fünf Meter entfernt. Ich wusste,
wenn ich da was sage, dann ist mein
Kopf der nächste.


8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Mich um meine Kinder zu kümmern.
Glauben Sie, das letzte Jahr der Welt wäre
ein fröhliches?
Nee, dafür ist die Welt viel zu schön.
Wenn man irgendwann stirbt, weil das


eben der Lauf der Dinge ist, dann kann
man sich damit hoffentlich gut abfinden.
Aber wenn die Kinder nicht mehr das
Schöne erleben könnten, was wir erlebt
haben – das fände ich schrecklich.

9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Lieber dafür, häufiger dagegen.

10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Damals im Hofgarten war ich strammer
Pazifist, aber da hatte ich die Welt noch
nicht bereist. Inzwischen weiß ich, dass es
Konstellationen gibt, in denen der Pazifis­
mus nicht aufrechtzuerhalten ist.

11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Ja.

12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren?
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Nein.

13 Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Täglich das Straßenverkehrsgesetz, als
Radfahrer. Das geht ja gar nicht anders
bei der Art und Weise, wie die Städte ih­
ren Verkehr organisieren.

14 Waren Sie in Ihrer Schulzeit beliebt
oder unbeliebt, und was
haben Sie daraus politisch gelernt?
In der Fünften war ich Klassensprecher,
aber das hat nicht lange gehalten. Seitdem
war ich niemals mehr Anführer.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Mein Vater hielt viel zu lange an der Isla­
mischen Revolution fest. Sogar als meine
Cousins schon politische Gefangene wa­
ren. Diese Phase war schmerzlich und
auch peinlich.

Sie haben zwei Töchter. Haben Sie schon
mal eine politische Meinung ihretwegen
geändert?
Meine jüngere Tochter, zwölf Jahre alt, ist
extrem klimabewusst. Ich respektiere das,
auch wenn ich die Fokussierung auf das
Klima zu eng finde. Es gibt ja auch Pro­
bleme wie Armut. Aber mein Einkaufs­
verhalten hat das schon verändert. Meine
Tochter sitzt mir beim Einkaufen im Na­
cken, sogar wenn sie nicht dabei ist.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Die beste ist immer noch die von Joschka
Fischer: Herr Präsident, mit Verlaub, Sie
sind ein Arschloch! Eine zu Recht mit
Saalverweis geahndete Beleidigung, lässi­
ger Tonfall, guter Duktus und dann noch
der richtige Adressat – Chapeau!

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Vor ein paar Jahren besuchte ich für mein
Buch Entlang den Gräben das Grab von
Mohammed Mossadegh, dem iranischen
Premierminister in den Fünfzigerjahren.
Er war demokratisch durch und durch,
ein Bewunderer Amerikas, in der Schweiz
ausgebildeter Jurist, zugleich in seiner ei­
genen Tradition verhaftet, und er wurde
von den Iranern geliebt. Dennoch wurde
er 1953 durch einen CIA­Putsch ent­
machtet. Dafür brauchte es nur einen ein­
zigen Agenten, und der hat nicht mal die
eine Mil lion Dollar ausgegeben, die er zur
Verfügung hatte – und futsch war die
größte Chance auf Freiheit, die der Iran
in seiner ganzen Geschichte hatte. Der
Putsch wäre nicht möglich gewesen,
wenn all die Iraner, die ihn gewählt hat­
ten, ihm beigestanden hätten. Am Ende
war er – so wie im 7. Jahrhundert der
Imam Hussein, der von seinen eigenen
Anhängern im Stich gelassen wurde –
ganz allein mit wenigen Mitstreitern, als

der bezahlte Schlägertrupp durch Teheran
zog. Seiner gedenken die Schiiten jedes
Jahr an Aschura mit einem Bußritual.
Manchmal denke ich, die Islamische Re­
publik ist die Buße der Iraner dafür, dass
sie Mossadegh alleingelassen haben, nur
dass sie kein Ritual ist, sondern die Wirk­
lichkeit seit 40 Jahren, jeden Tag.

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Niemand.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Leoluca Orlando, der Bürgermeister von
Palermo in Italien. Er ist ein Politiker, der
wirklich was umsetzt. Bekannt wurde er als
Mafiajäger. Dafür hatte er bereits sein Le­
ben aufs Spiel gesetzt – und vielleicht geht
er deshalb als Bürgermeister so beherzt vor.
Unter anderem hat er durchgesetzt, dass
Palermo Flüchtlinge willkommen heißt.
Dabei hat er nicht nur gesagt: »Wir schaf­
fen das«, sondern praktische Maßnahmen
ergriffen, und zwar rechtzeitig. Und er ist
wiedergewählt worden. Trotz und mit
Flüchtlingen blüht Palermo unter ihm auf.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.

21 Finden Sie es richtig, politische
Entscheidungen zu treffen,
auch wenn Sie wissen, dass die
Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Dafür sind Abgeordnete gewählt. Damit
sie innerhalb einer Legislaturperiode al­
lein ihrem Gewissen verpflichtet sind
und nicht Umfragen oder der Mehrheits­
meinung.

22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Der Blick über den Tellerrand. Das Be­
wusstsein für eine, wie Willy Brandt es
genannt hat, »Weltinnenpolitik«. Was in
Syrien passiert, in China, in Mali, ist heute
wichtiger und hat langfristig größere Aus­
wirkungen auf unser Leben als praktisch
jedes Thema, das in den Talkshows rauf­
und runterdekliniert wird.

23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Freiheit oder Sicherheit. Freiheit ist nicht
ohne ein bestimmtes Maß an Unsicherheit
zu bekommen. Und absolute Sicherheit
nicht ohne Einschränkung von Freiheit.

24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Ja. Als Wohlstandsbürger in einem der kli­
maschädlichsten Länder der Welt bin ich
Teil eines globalen politischen Problems.

25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Ich nenne drei. Hannah Arendt: Über die
Revolution, Horkheimer/Adorno: Dialek-
tik der Aufklärung und Timothy Snyder:
Bloodlands. Allein mit diesen dreien hat
man schon viel über den Verlauf der Poli­
tik in der westlichen Moderne gelernt.

26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Der Verrückte, der sich selbst für verrückt
hält, ist ja nicht mehr verrückt. Ich halte
mich also für eins auf dieser Skala, wie
jeder Verrückte. Die Welt würde ich im
Augenblick bei acht einstufen. Wobei ich
ja ein Teil von ihr bin, das ist ein Wider­
spruch.

27 Der beste politische Witz?
Als Siegerländer stehe ich dazu, ein mise­
rabler Witzeerzähler zu sein.

28 Was sagt Ihnen dieses Bild
(siehe das Foto von Paolo Dall’Oglio
links)?
Dass es, wie Pater Paolo gelehrt hat, immer
Hoffnung gibt. Immer! Paolo Dall’Oglio
ist Jesuit und lebte und betete in seinem
christlichen Kloster in Syrien zusammen
mit Muslimen, bis er 2013 vom IS ent­
führt wurde. Es gibt keine Spur von ihm.
Doch sollte er noch leben in diesem Mo­
ment in irgendeinem Verlies, dann hat er
Hoffnung, das weiß ich. Auch für den
Nahen Osten, das zerstörte Syrien, und
selbst für Afghanistan. Und seine Kraft,
gegen alle Wahrscheinlichkeit zu hoffen,
brauchen wir.

29 Wovor haben Sie
Angst – außer dem Tod?
Dass den eigenen Kindern etwas zustößt.

30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Ebenfalls die Kinder. Dass sie es besser
machen als wir. Schau ihnen in die Au­
gen, und du glaubst daran.

Die Fragen stellte Lea Frehse

Jede Woche stellen wir Politikern
und Prominenten die stets selben
30 Fragen, um zu erfahren, was sie
als politische Menschen
ausmacht – und wie sie dazu
wurden. Und wo sich neue Fragen
ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv.

Paolo Dall’Oglio, spurlos
verschwunden (siehe Frage 28)

Kermani auf der Bühne des
Kölner Literaturfestivals

Illustration: Alex Solman für DIE ZEIT; kl. Fotos (v.o.): Hartmut Schwarzbach; Henning Kaiser/dpa

Navid Kermani, 51, lebt in Köln. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Gerade ist sein Buch »Morgen ist da: Reden« erschienen. Kermani ist derzeit auf Lesereise in deutschen Theatern

8 POLITIK 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47

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