Handelsblatt - 16.10.2019

(Nancy Kaufman) #1

Joachim Hofer Ravensburg


A


bschied, Tod und Trauer“. Der neu -
este Titel aus der Reihe „Wieso?
Weshalb? Warum?“ fällt sofort auf im
Regal von Anuschka Albertz. Schließ-
lich geht es in der bunt bebilderten
Sachbuchserie für Kinder sonst vorzugsweise um Di-
nosaurier, die Feuerwehr oder den Bauernhof.
„Das ist ein sehr mutiges Buch“, gesteht die neue
Chefin des Ravensburger Buchverlags. Mit ihren
Mitarbeitern habe sie lange darüber diskutiert.
Dass sie sich letztlich dafür entschied, dürfte in
dem schwäbischen Familienunternehmen freilich
niemanden überrascht haben.
Die 46-Jährige war schon immer bereit, Neues
auszuprobieren. Das hat sich für Albertz ausge-
zahlt. Erstmals ist sie in diesem Jahr auf der Frank-
furter Buchmesse ganz allein für den Auftritt des
renommierten Kinder- und Jugendbuchverlags ver-
antwortlich. Anfang 2016 übernahm die promo-
vierte Historikerin bereits die inhaltliche Führung
der Buchsparte von Ravensburger, des nach Carl-
sen zweitgrößten deutschen Kinder- und Jugend-
buchverlags. Zu Jahresbeginn hat ihr Vorstandschef

und Gesellschafter Clemens Maier nun auch die
kaufmännische Leitung übertragen.
Sie sei jetzt die „Mrs. Buch und Tiptoi“, scherzt
Albertz. Der Zusatz „Tiptoi“ ist wichtig. Das ist je-
nes interaktive Lernspiel, das sich in den vergange-
nen Jahren zu einem der größten Umsatzbringer
des schwäbischen Familienunternehmens entwi-
ckelt hat. Von Anfang an hatte Albertz einen maß-
geblichen Anteil am Erfolg von „Tiptoi“. Denn sie
betreute die Bücher der Serie. Mit einem elektroni-
schen Griffel können sich Kinder dabei Texte vorle-
sen lassen oder Geräuschen lauschen.
Berührungsängste mit Elektronik hatte sie nie.
„Tiptoi war ein Glücksfall für mich“, meint Albertz.
„Das war immer ein Projekt des Topmanagements.
Dadurch bin ich gesehen worden.“ Nicht zuletzt
deshalb gelang ihr auch der Aufstieg bis in die
zweite Führungsebene des größten und bekanntes-
ten deutschen Spieleproduzenten.
Albertz besaß in den vergangenen Jahren aber
auch ein gutes Gespür für populäre Inhalte und die
richtigen Formate. So kletterte der Umsatz der
Buchsparte von Ravensburger vergangenes Jahr

um knapp acht Prozent auf rund 69 Millionen
Euro. Der Markt legte demgegenüber nur um gut
vier Prozent zu. Kinder- und Jugendbücher stehen
für gut ein Sechstel des gesamten deutschen Buch-
handels. Ravensburger sei ausgesprochen innova-
tiv, lobt Nina Hugendubel, Chefin und Gesellschaf-
terin der Buchhandelskette Hugendubel. Die
Verzahnung von Spielen und Büchern bei Ravens-
burger sei ideal, schließlich verkaufe Hugendubel
ja schon längst beide Warengruppen.
Es ist kein Zufall, dass Albertz gerade jetzt die al-
leinige Führung des Buchverlags übernommen hat.
Vorstandschef und Gesellschafter Clemens Maier
baut das Familienunternehmen gerade grundle-
gend um. Das geht auch einher mit frischem Perso-
nal an den entscheidenden Stellen. Den bislang
streng nach Spielen und Büchern getrennten Ver-
trieb hat der 47-Jährige jüngst unter einem Dach ge-
bündelt. Mit Susanne Knoche, 45, als Vertriebsche-
fin hat Maier dabei eine weitere Schlüsselposition
mit einer Frau besetzt.
Maier löste zuletzt die große Division Spiele auf.
Stattdessen entstanden vier Einheiten: die traditio-
nellen Brettspiele, Puzzles, die Bücher sowie die
Sparte Spielsysteme, die aus der schwedischen
Tochter Brio besteht. „Das ist ein großer kultureller
Wandel, denn wir gehen an gelebte Strukturen he-
ran“, sagte Maier vergangenen Sommer.
Der Unternehmer hofft, mit der neuen Struktur
schlagkräftiger zu werden und global erfolgreich zu
sein. Die Hits für Kinder sollen künftig mit Blick auf
den Weltmarkt entstehen. Der radikale Wandel ist
nicht selbstverständlich, denn Ravensburger ist
beileibe kein Sanierungsfall. Im Gegenteil: Der
Spieleverlag wächst und ist profitabel. Der Kon-
zernumsatz kletterte vergangenes Jahr um rund
vier Prozent auf 492 Millionen Euro, der Gewinn
lag bei 32 Millionen Euro, fast acht Millionen mehr
als im Jahr davor.
Maier ist dennoch fest überzeugt, dass nichts so
bleiben kann, wie es war. Durch einige Akquisitio-
nen gehörten schließlich inzwischen sieben Mar-
ken in fünf Ländern zur Gruppe. Außerdem ist der
Markt schwer in Bewegung. Reihenweise gingen
vergangenes Jahr große Spielwarenhändler pleite.
Am schlimmsten traf die Branche das Aus des US-
Konzerns Toys „R“ Us.
In der Zentrale in Ravensburg sorgte der Umbau
zunächst für erhebliche Unruhe, hieß es im Unter-
nehmen. So mancher der 2 150 Mitarbeiter fürchte-
te um seinen Job. Betriebsbedingte Kündigungen
gebe es jedoch keine, beteuerte Finanzvorstand
Hanspeter Mürle.

Bestseller „Tiptoi“ und Guinnessbuch


Auch Albertz musste ihre Leute von der Restruktu-
rierung überzeugen. Vertreter, die über Jahrzehnte
nur die Buchhändler abklapperten, müssen nun
auch Spielegeschäfte besuchen – und umgekehrt.
„Da ist Potenzial auf beiden Seiten“, verteidigt die
verheiratete Mutter von zwei Kindern den neuen
Kurs. Ihren Bestseller „Tiptoi“ hat die Managerin
über die Jahre hinweg stetig ausgebaut, inzwischen
können Kinder mit dem System auch aufnehmen.
In dieser Woche in Frankfurt allerdings steht das
klassische Buch im Mittelpunkt. An den Publikums-
tagen am Wochenende lädt Albertz auf ihrem Mes-
sestand zu einem Dutzend Lesungen und Signier-
stunden, es treten Autorinnen wie Bianca Iosivoni
oder Jennifer Benkau auf.
Und dann ist da noch Marcel Gurk. Der 22-Jähri-
ge hat sich bislang zwar nicht als Schreiber hervor-
getan. Er kann aber mit dem Fußball jonglieren
wie wenige andere. Am Sonntag wird der Sportler
auf der Messe einen Weltrekordversuch im Free-
style starten – denn auch das gehört inzwischen zu
Albertz’ Bereich: das „Guinnessbuch der Rekor-
de“. Vergangenes Jahr übernahm sie die Lizenz für
das jährlich neu aufgelegte Werk, Gurk ist in der
gerade veröffentlichten Ausgabe 2020 prominent
vertreten.
Literarisch wertvoll ist das Buch gewiss nicht,
aber es lohnt sich für Ravensburger. Und Albertz
sieht darin sogar einen pädagogischen Sinn: „Es ist
schön, dass wir das im Portfolio haben. Es gibt uns
die Möglichkeit, Jungs fürs Lesen zu begeistern.“
Das kann Gurk nur bestätigen: „Als kleiner Junge
habe ich schon in den Büchern geblättert. Ich war
einfach fasziniert von der Vielfalt, die von der Welt
geboten wird.“

Anuschka Albertz


Keine Angst vor


sprechenden Büchern

Die Historikerin scheut weder ungewohnte Inhalte noch


moderne Elektronik. Mit unkonventionellen Produkten machte die


neue Chefin des Ravensburger Verlags Karriere.


Anuschka Albertz:
Historikerin
mit Spieltrieb.

Anja Koehler

Die


Ver zahnung


von Spielen


und Büchern


ist bei


Ravensburger


ideal.


Nina Hugendubel
geschäftsführende
Gesellschafterin
Hugendubel

Familienunternehmen


des Tages


MITTWOCH, 16. OKTOBER 2019, NR. 199


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