N
ach dem antisemitischen Anschlag
auf eine Synagoge in Halle mit zwei
Toten diskutiert das Land über
neue digitale Speicherungs- und
Überwachungsinstrumente für Poli-
zei und Nachrichtendienste. Nur einen Tag nach
dem Ereignis nutzte Bundesinnenminister Horst
Seehofer eine Pressekonferenz in Halle, um ein
bislang auf Eis liegendes Gesetzgebungsvorhaben
aus seinem Haus von Neuem zu bewerben. Er
plant mit dem Gesetz zur Harmonisierung des
Verfassungsschutzrechts eine Ausweitung digita-
ler Überwachungskompetenzen beim Bundes-
amt für Verfassungsschutz, das künftig weitrei-
chende Kompetenzen im Bereich der Quellen-Te-
lekommunikationsüberwachung und der Online-
durchsuchung erhalten soll und bei dem das
Bundesjustizministerium auf der Bremse steht.
Seehofer machte sich dabei zunutze, dass die
Öffentlichkeit spätestens seit dem Mord am Kas-
seler Regierungspräsidenten Walter Lübcke für
ein entschlosseneres Vorgehen gegen Rechtsex-
tremismus empfänglich ist. Die Diskussion über
Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung
und Quellen-Telekommunikationsüberwachung
beherrscht Parlamente und Gerichte. Immer wie-
der beschließt die Politik die Einführung neuer
Befugnisse, um anschließend von obersten Ge-
richten in die Schranken verwiesen zu werden.
Und doch werden bei jeder Gelegenheit geschei-
terte Vorschläge wieder aufs Tapet gebracht.
Dieses Vorgehen ist eines aufgeklärten demo-
kratischen Diskurses über das richtige Verhältnis
von Freiheit und Sicherheit unwürdig. Das Volk
als Souverän hat es verdient, von der Notwendig-
keit und Reichweite neuer Überwachungsmaß-
nahmen mit Sachargumenten überzeugt und
nicht mit Ideen zur Massenüberwachung über-
rumpelt zu werden.
Zu diesem Zweck lässt sich schon seit einigen
Jahren aus der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts ein Vorschlag herauslesen, mit
dem sich die Diskussion über neue Überwa-
chungsinstrumente versachlichen ließe. Wieder-
holt hat das Gericht darauf hingewiesen, dass ei-
ne Maßnahme wie etwa die Vorratsdatenspeiche-
rung nicht nur für sich genommen bewertet
werden kann, sondern immer auch im Zusam-
menhang mit allen anderen Überwachungsin-
strumenten gesehen werden muss.
So führten die Karlsruher Richter etwa in ih-
rem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung aus dem
Jahr 2010 aus, dass der Gesetzgeber „bei der Er-
wägung neuer Speicherungspflichten oder -be-
rechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der ver-
schiedenen schon vorhandenen Datensammlun-
gen zu größerer Zurückhaltung“ verpflichtet sei.
Und weiter: „Dass die Freiheitswahrnehmung
der Bürger nicht total erfasst und registriert wer-
den darf, gehört zur verfassungsrechtlichen
Identität der Bundesrepublik Deutschland.“
Bevor der Staat neue Überwachungsmaßnah-
men einführt, müssen die bestehenden Regelun-
gen in einer Gesamtschau bewertet werden. Das
hätte den Vorteil, dass Bürgerinnen und Bürger,
aber auch Parlament und Sicherheitsbehörden
sehen könnten, inwiefern das Gesamtmaß an
Überwachung das für eine Demokratie erträgli-
che Maß überschreitet. Auch Lücken bei den Be-
fugnissen ließen sich so viel schneller finden.
Stattdessen leistet sich die Bundesrepublik 16
neurotische Schaukämpfe über einzelne Polizei-
gesetze in den Ländern. Daneben auf Bundes-
ebene ein anhaltendes Dauerfeuer an Vorschlä-
gen für neue Überwachungsmaßnahmen – fein
säuberlich getrennt in einzelne Gesetzgebungs-
vorhaben beim BKA, beim Zoll, beim Verfas-
sungsschutz, beim BND und bei der Bundespoli-
zei, die bei bestimmten Anlässen hervorgezau-
bert werden, um zügig durchs Parlament
gepeitscht zu werden. Das Sicherheitsrecht des
Bundes wird auf diese Weise und durch intrans-
parente Verweiskaskaden immer undurchsichti-
ger. Weder die Bürger noch die Behörden kön-
nen auf einen Blick erkennen, wer denn nun was
darf. Eine Gesamtschau wäre nicht nur ein Inne-
halten für die Bürgerrechte, sondern auch ein
Durchatmen für mehr Sicherheit.
Leider scheint es, als hätten weder Union
noch SPD Interesse an einer solchen großen
Revision der Sicherheitsbefugnisse: „Auch Not-
wendiges wird ja oft unzulässig infrage gestellt“,
und: „Man muss Gesetze kompliziert machen.
Dann fällt es nicht so auf.“ Mit diesen angeblich
humoristisch gemeinten Bonmots von Seehofer
wurde eine Debatte über die Intransparenz von
Gesetzgebungsverfahren ausgelöst. Mit einer
Überwachungsgesamtschau könnte die Bun -
desregierung zeigen, dass Seehofer mit seinen
Tipps falsch lag und dass die Politik ein Interesse
an wirksamen und nachhaltigen Maßnahmen
hat.
Keine
Massenkontrolle
Konstantin Kuhle warnt nach dem Anschlag in
Halle vor Übereifer bei der Überwachung.
Der Autor ist innenpolitischer Sprecher der
FDP-Bundestagsfraktion.
Photothek via Getty Images [M]
Bevor der
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Gastkommentar
MITTWOCH, 16. OKTOBER 2019, NR. 199
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