Die Welt Kompakt - 01.08.2019

(Brent) #1
KOMMENTAR

JACQUES SCHUSTER

Koste es,


was es wolle


W


as auf dem Frankfurter
Hauptbahnhof geschah,
ist so fürchterlich, dass
man darüber nicht schweigen darf
und nicht sprechen kann. Die Ein-
sicht sollten all diejenigen verinner-
lichen, die seit Montag versuchen,
unter dem Vorwand der Trauer die
Missetat für ihre Zwecke zu nutzen


  • sei es politisch, um an die Mängel
    der Flüchtlings- und Einwande-
    rungspolitik zu erinnern, sei es aus
    Verbandsinteressen, um mehr Per-
    sonal herauszupressen. Die eine wie
    die andere Wortmeldung mag in der
    Sache berechtigt sein (oder auch
    nicht), sie bringt weder den toten
    Jungen zurück ins Leben, noch kann
    sie weitere Verbrechen dieser Art
    verhindern.
    Man kann Bahnhöfe, Marktplätze,
    Kaufhäuser oder Flughäfen in Hoch-
    sicherheitstrakte verwandeln, man
    mag noch die kleinste Ecke mit
    Videokameras samt Gesichtserken-
    nung bestücken. Es wird in naher
    Zukunft sogar Roboter geben, die
    am Verhalten eines Menschen im
    Bruchteil einer Sekunde erkennen,
    wann sie gegen ihn vorgehen müs-
    sen. Nur: Es gibt ein Maß an Macht-
    losigkeit, das bleiben wird.
    Dennoch ist richtig, dass Innen-
    minister Horst Seehofer gelobt,
    alles Erdenkliche zu tun, um die
    Zahl der Gräueltaten so klein wie
    möglich zu halten. Seehofer tat dies
    in professioneller Sachlichkeit, und
    doch spürte man etwas schwer Rin-
    gendes in ihm, das ihn in dieser
    Lage besonders glaubwürdig mach-
    te. Vor allem diejenigen, welche den
    Innenminister noch vor einem Jahr
    öffentlich dafür prügelten, dass er
    angeblich seinen 69. Geburtstag mit
    der Abschiebung von 69 Flücht-
    lingen in Verbindung gebracht hat-
    te, müssten ihn heute für seine
    Nachdenklichkeit loben.
    Seehofer hat erkannt, wie sehr
    sich die Deutschen seit dem 11. Sep-
    tember 2001 und dem Anschlag auf
    den Berliner Weihnachtsmarkt 2016
    nach Sicherheit sehnen. Ohne in
    Aktionismus zu verfallen, fordert er
    mehr Geld für eben diese Sicherheit.
    Sie sollte uns die Millionen Euro
    wert sein. Merkwürdig, dass aus-
    gerechnet der Sozialdemokrat Olaf
    Scholz den Innenminister nun mit
    dem Hinweis auf die Kassenlage
    aufzuhalten sucht, also der Minister,
    der alle finanziellen Bedenken in
    den Wind schlägt, wenn es darum
    geht, die milliardenteure Respek-
    trente seiner Partei durchzufechten.
    Wer jemals am Pariser Gare Mont-
    parnasse sah, dass die Fahrgäste
    nach Bordeaux erst dann das Dreh-
    kreuz auf den Bahnsteig passieren
    dürfen, wenn der TGV bereits steht,
    der sehnt sich wenigstens auf die-
    sem Gebiet nach französischen Ver-
    hältnissen. Koste es, was es wolle.
    [email protected]


DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,1.AUGUST2019 FORUM 15


W


erden Migranten
im Mittelmeer aus
Seenot geborgen,
setzt das zurzeit
eine Reihe von
Ereignissen in Gang, nicht nur, aber
auch im fernen Brüssel, das die Vertei-
lung koordiniert. Erst bitten die Retter
um Erlaubnis, einen Hafen anzufah-
ren, wegen der aktuell favorisierten
Fluchtrouten oft einen italienischen
oder maltesischen. Kommt von dort
überhaupt grünes Licht, dann in der
Regel mit Auflagen: Vor der Landung
muss geklärt sein, welche EU-Staaten
die Geretteten „abnehmen“. Sobald
dann die Zahlen vorliegen – wie viele
unbegleitete Kinder, wie viele Famili-
en, wie viele alleinreisende Männer? –
beginnt in Brüssel ein wildes Hin- und
Hertelefonieren mit den Innenminis-
terien diverser Hauptstädte. Und zwar
jedes Mal von Neuem.
Man muss sich das vorstellen wie
das Schachern auf dem Hamburger
Fischmarkt: „Wenn ihr in Berlin 40
nehmt, dann sind die Spanier bereit,
zwölf zu nehmen und die Franzosen
zehn.“ „Aber nur, wenn Österreich
und Dänemark auch mal wieder mit-
machen.“ „Mit Kopenhagen diskutie-
ren wir noch, Wien hat schon abge-
sagt, weil sie vorletztes Mal über-
proportional dabei waren. Aber wären
fffür euch wenigstens 35 machbar?“ür euch wenigstens 35 machbar?“
Zynisch spricht man in Brüssel vom
„Flüchtlings-Bingo“.
Bundesinnenminister Horst See-
hofer hat es jüngst auf den Punkt
gebracht, als er dieses Ritual ein „er-
bärmliches Schauspiel“ nannte. Ge-
sperrte Häfen, tagelanges Gezerre um
die Aufnahme und Verteilung der Ge-
retteten, Schlagzeilen in den Medien,
hochrangige EU-Beamte und Mit-
arbeiter in nationalen Ministerien, die
genervt einen Großteil ihrer Arbeits-
zeit (auch an Wochenenden) in be-
schämende Verhandlungen um Kopf-
zahlen und Kontingente stecken. All
das darf so nicht weitergehen.
In ihrer Not will die EU nun also
wenigstens provisorisch einen Verteil-
Mechanismus einführen und eine Art
Koalition der Hilfsbereiten aus Län-
dern bilden, die automatisch Kon-
tingente von Geretteten aufnehmen,
ohne dass dafür jedes Mal ein Anruf
nötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-
rettete ankommen, sollen diese nur
erstversorgen, registrieren und eine
Sicherheitsprüfung durchführen. Dann
sollen die Menschen auf andere EU-

Länder verteilt werden. Bisher ist das
nicht zuletzt am Widerstand von Ita-
lien und Malta gescheitert, obwohl
diese beiden Länder besonders laut
jammern. Aber auch in Osteuropa ist
die Bereitschaft gleich null, ein solches
System zu akzeptieren, selbst wenn es
keinerlei eigenes Mitwirken erzwänge.
Als Argumente führen Gegner wie
Ungarns Premier Viktor Orbán oder
Italiens Innenminister Matteo Salvini
gern ins Feld, dass der Solidaritäts-
mechanismus ein „Pull-Faktor“ sei
und sich dadurch nur noch mehr Men-
schen auf den Weg machen würden.
Italien will außerdem durchsetzen,
dass ausnahmslos alle Ankommenden
aaabgenommen werden und nicht nurbgenommen werden und nicht nur
jene, bei denen Aussicht auf Asyl be-
steht. Das wiederum wollen mehrere
der hilfsbereiten Länder nicht akzep-
tieren. Orbán wiederum will am liebs-
ten überhaupt keine Flüchtlinge mehr
in der EU aufnehmen. Das Geld für
deren Rettung und Versorgung solle
die EU lieber in europäische, christli-
che Familien investieren, damit diese
„so viele Kinder bekommen können,
wie sie wollen“, so seine Forderung.
Horst Seehofer ist zwar optimis-
tisch, dass die EU-Innenminister im
September doch noch eine Einigung
auf den Solidaritätsansatz hinbekom-
men. Woher er seine Zuversicht
nimmt, ist indes sein Geheimnis. Und
selbst wenn Seehofer wider Erwarten
recht behalten sollte: Der „europäi-
sche Notfallmechanismus“ wäre nichts
anderes als ebendies – eine Notlösung.
Und zwar keine gute.
Eine Koalition einiger weniger Wil-
liger widerspricht dem Selbstver-
ständnis der EU. In der Union, so
wollten es die Gründerväter und so
steht es in den Verträgen, sollen alle
gemeinsam profitieren, aber auch die
Lasten schultern. Wird dieses Prinzip
verraten, dann schwindet die Zu-
stimmung der Bevölkerung, die zu-
letzt wieder etwas gestiegen war.
Nicht nur der Rückzug aus der See-
notrettung ist unvereinbar mit den

Schluss mit dem


Flüchtlings-Bingo


Eine Einigung in der EU über die künftige


Verteilung von aus dem Mittelmeer Geretteten


schien zuletzt zum Greifen nah. Aber die


Gräben innerhalb der Union sind tief. Es werden


wohl wenige Länder vorangehen müssen


HANNELORE CROLLY

LEITARTIKEL

WWWerten der EU, sondern auch daserten der EU, sondern auch das
VVVerweigern der Aufnahme jener, dieerweigern der Aufnahme jener, die
ein Recht auf Asyl haben.
Bisher hat rund die Hälfte der EU-
Länder die grundsätzliche Bereit-
schaft signalisiert, den Mechanismus
durchzuwinken. Doch das heißt noch
nicht, dass diese Staaten auch alle
bereit sind, aktiv mitzumachen. Da
haben bisher nur acht Länder den
Finger gehoben, neben Deutschland
und Frankreich noch Finnland,
Luxemburg, Irland, Kroatien, Litauen
und Schweden, außerdem das Nicht-
EU-Land Norwegen. Andere Länder,
die einst wesentlich liberaler in
Flüchtlingsfragen waren, beispiels-
weise Dänemark, haben bereits einen
Schwenk vollzogen, aus Angst, dass
ihnen die Bürger sonst ganz von der
Fahne gehen.
Doch wenn die EU in der Migrati-
onsdebatte tatsächlich eine Gesamt-
lösung sucht, die alle befriedigt, kann
sie letztlich nur scheitern. Die Union
ist längst zu polarisiert, die Gräben zu
tief zwischen Staaten mit einer eher
liberalen Asyltradition und jenen, die
die EU komplett abschotten wollen.
Migrationsexperten wie der Erfinder
des Türkei-Flüchtlingsdeals, Gerhard
Knaus, werben zwar für komplexe
Ansätze wie zentrale Aufnahmelager
am Rand der EU. Nötig wären zu-
gleich Abkommen mit Transit- und
Herkunftsländern, damit diese die
aaabgelehnten Asylbewerber wiederbgelehnten Asylbewerber wieder
zurücknehmen. Dafür müssten dann
aaaber auch Anreize geliefert werden:ber auch Anreize geliefert werden:
legale Wege zur Arbeitsmigration und
Investitionen in die Wirtschaft. Also
viel Geld.
Der Widerstand Italiens zeigt aber
auch, warum selbst solche Lösungen
keinerlei Chance haben in der Debat-
te. Jeder konstruktive Ansatz gefähr-
det das Geschäftsmodell von Rechts-
populisten wie Matteo Salvini. Es geht
um Wählerstimmen. Der italienische
Minister und Lega-Chef kann aus
AAAktionen wie jener von Sea-Watch-ktionen wie jener von Sea-Watch-
Kapitänin Carola Rackete viel innen-
politisches Kapital schlagen. Daher
wird seine Regierung weiter mit der
Migration taktieren, wie es ihr gerade
beliebt. Zwar sind die Zahlen der bin-
nen zwölf Monaten in Italien Ange-
landeten von über 40.000 auf unter
9 000 abgesackt. Rom beschwört trotz-
dem bei jedem herannahenden Ret-
tungsschiff das Bild der nationalen
Notlage herauf und klagt Brüssel so-
wie alle anderen EU-Staaten an, Ita-
lien „im Stich“ zu lassen. Dabei hat
Italien schon in der Vergangenheit
zwar viele Menschen aufgenommen,
aaaber eben auch sehr viele ohne Prü-ber eben auch sehr viele ohne Prü-
fffung und Asylantrag Richtung Nordenung und Asylantrag Richtung Norden
durchgewinkt.
Als neue EU-Kommissionschefin, so
hat Ursula von der Leyen versprochen,
werde sie einen neuen Anlauf wagen
und den gordischen Knoten durch-
schlagen. Doch das kann nicht gelin-
gen, solange Populisten vom Schlage
Salvinis in Italien, Ungarn oder Polen
regieren. Aus dem Dauerkrisenthema
Migration lässt sich nun einmal her-
vorragend Zustimmung generieren.
WWWarum also dieses Pfund aus derarum also dieses Pfund aus der
Hand geben? Es geht um eigene Inte-
ressen, nicht um Erbarmen mit
Flüchtlingen oder Migranten.
[email protected]

РЕЛ


ИЗП

ОДДrr

ГrrrrГОООettete ankommen, sollen diese nurettete ankommen, sollen diese nurТ

ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-Тötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-
ettete ankommen, sollen diese nur

Т
ettete ankommen, sollen diese nur

nnötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ОООВИ
Л

hne dass dafür jedes Mal ein Anruf
Л

hne dass dafür jedes Mal ein Anruf
ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-Л

hne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein AnrufАА
ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-

А
ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-

hne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein AnrufГРУУП

ingente von Geretteten aufnehmen,
П

ingente von Geretteten aufnehmen,
hne dass dafür jedes Mal ein Anrufhne dass dafür jedes Mal ein AnrufП

ingente von Geretteten aufnehmen,ingente von Geretteten aufnehmen,ingente von Geretteten aufnehmen,ingente von Geretteten aufnehmen,ППА

"What's

ettete ankommen, sollen diese nur
"What's

ettete ankommen, sollen diese nur
e"What's e"What's rstversorgen, registrieren und einerstversorgen, registrieren und eine

News"

ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-
News"

ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-
ettete ankommen, sollen diese nurettete ankommen, sollen diese nurNews"

VK.COM/WSNWS

ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-

VK.COM/WSNWS

ötig wäre. Die Staaten, in denen Ge-
ettete ankommen, sollen diese nur

VK.COM/WSNWS

ettete ankommen, sollen diese nur
rstversorgen, registrieren und eine
VK.COM/WSNWS

rstversorgen, registrieren und eine
SSVK.COM/WSNWSVK.COM/WSNWSicherheitsprüfung durchführen. Dannicherheitsprüfung durchführen. Dann
Free download pdf