Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

8 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Meinung


Heike Hänsel, Vizechefin
der Fraktion Die Linke
im Bundestag, war
am Wochenende auf Pil-
gerfahrt in Caracas.
Deutsche Medien haben
nicht darüber berichtet. Doch
wer @HeikeHaensel auf Twitter folgt,
wurde gut informiert.
Erst schickte sie ein Bild von sich mit
Venezuelas Außenminister Jorge Arrea-
za, dem Schwiegersohn des vor sechs
Jahren verstorbenen National heiligen
Hugo Chávez. Ihr Gesprächsthema:
»die aggressive US-Politik«. Als Nächs-
tes postete sie Fotos von sich mit Peace-
Fahne bei einem Straßen umzug zu
Ehren von Chávez, der am vergange-
nen Sonntag 65 Jahre alt geworden
wäre: »eine Manifestation für Frieden
und Solidarität mit #Venezuela«.
Schließlich teilte sie drei Schnapp-
schüsse von ihrer Audienz bei »Staats-
präsident Nicolás Maduro«. Hänsel
sieht darauf aus wie eine Ministrantin
auf Vatikanbesuch, Maduro wie der
Stellvertreter Gottes. Mehrere Dut-
zend Twitter-Nutzer haben unter den
Beiträgen auf das »Gefällt mir«-
Herzchen geklickt, darunter Hänsels
Fraktionskollegen Sevim Dagdelen
und Andrej Hunko.

Worüber @HeikeHaensel nicht
twitterte, ist das Leid von inzwischen
mehr als drei Millionen Venezolanern,
die wegen Hunger, Elend und Verfol-
gung ihr Land verlassen haben. Sie ver-
lor auch kein Wort über den Staats-
streich des angeblichen Staatspräsiden-
ten, der nach seiner Wahlniederlage
das Parlament entmachtete und seither
mit Notverordnungen regiert. Und
dass Maduros Polizei nach Uno-Anga-
ben mehrere Tausend Menschen ge -
foltert oder außergerichtlich hingerich-
tet hat? Für Hänsel kein Thema mehr.
Dabei ist der Bericht der Uno-
Menschenrechtskommissarin kaum
vier Wochen alt.
Wie kommt eine Politikerin, die im
Bundestag Gerechtigkeit und Men-
schenrechte predigt, darauf, den Herr-
scher eines kollabierenden Schurken-
staats anzuhimmeln? Verblendung?
Gehirnwäsche? Naiver Kinderglaube
an Venezuelas »Sozialismus des


  1. Jahrhunderts«, der in Wahrheit
    ebenso krachend gescheitert ist wie
    alle Sozialismusversuche zuvor?
    Auf mich wirkt Heike Hänsel wie die
    Vertreterin einer verrückten Sekte.


An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacher im Wechsel.

Alexander NeubacherDie Gegendarstellung

Wallfahrt nach Venezuela


So gesehen

Urlaubsabbruch


Vom Ferienflüchtling zum
Volkshelden

Waren Sie schon im Urlaub?
Ich war gerade für zwei Wochen in
Großbritannien, auf dem Land. Es
war sehr schön. Aber zu entspannen
und Ennui zuzulassen, das ist schon
auch sehr anstrengend. Man sollte es
eigentlich gar nicht erst versuchen.
Man kommt nur aus dem Tritt,
schlimmstenfalls auf komische Ge -
danken. Sehen Sie sich nur die Papa-
razzi-Fotos von Angela Merkel aus
Südtirol an: So griesgrämig habe ich
noch nie jemanden einen Badeanzug
zum Trocknen aufhängen sehen.
Dabei wusste schon Marx: »Der
Arbeiter braucht Zeit zur Befriedi-

gung geistiger und sozialer Bedürf-
nisse, deren Umfang und Zahl durch
den allgemeinen Kulturzustand
bestimmt sind.« Aber was ist, wenn
der allgemeine Kulturzustand so
trostlos ist, dass man den Geist doch
lieber mit Arbeit beschäftigt? Manch-
mal reicht auch purer Aktionismus.
Horst Seehofer ist da mein großes
Vorbild: Ein paar Tage Ausschlafen
reichten ihm, sagte er einmal. Um der
Zwangsruhe, vermutlich in seiner
Datsche im Altmühltal, zu entflie-
hen, nutzte er diese Woche den tragi-
schen Bahnsteigtod von Frankfurt –
und eilte zu einer Pressekonferenz
nach Berlin. Kaum ein Medium ver-
säumte es, darauf hinzuweisen, der
Innenminister habe dafür »extra sei-
nen Urlaub unterbrochen«. Ausrich-
ten konnte er natürlich nichts, aber
als Volksheld stand er trotzdem da.
Hellsichtig analysierte die »Bild«-
Zeitung: »Der Auftritt an sich war
für viele wichtiger als der Inhalt der
Pressekonferenz. Seehofer zeigte,
dass er die emotionale Ausnahme -
situation verstanden hatte.« Und
zwar nicht nur die des Landes, son-
dern auch die des Urlaubs im
Allgemeinen. Andreas Borcholte
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