Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

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20 wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30


D


ustin Hoffman kennt die
Angst mehr, als ihm lieb
ist. Nicole Kidman, Natalie
Portman und Winona Ry-
der ebenso. Und Ed Shee-
ran, der aktuelle Superstar der Pop-Sze-
ne, hat seinen Freundschaftskreis nach ei-
genen Angaben auf genau vier Men-
schen reduziert und sein Handy ver-
bannt, um seine Gesundheit zu schützen.
Sie alle plagen Ängste, die über das ge-
sunde Maß hinausgehen und sich nicht
so einfach kontrollieren lassen.
Sie sind damit nicht allein: Millionen
Menschen auf der Welt sind psychisch
krank. Hierzulande leiden fünf Millio-
nen an Depressionen, sieben bis acht
Millionen an einer Angststörung. Nicht
selten kommt beides zusammen wie bei
Nicolas Müller. „Panikattacken, generali-
sierte Angststörung und Depressionen“
lautete die Diagnose des Sängers der
Band „Jupiter Jones“, der seit vergange-
nem Jahr durch die Lande zieht und dar-
über öffentlich spricht. Selbst Sigmund
Freud kannte die Angst nicht nur aus
den endlosen Analyse-Sitzungen seiner
Patienten. Auch er litt unter Panikatta-
cken und Agoraphobie, jener Furcht vor
Menschenansammlungen, die vielen
den Atem raubt.
Wer mehr über die oft tabuisierte
Volkskrankheit erfahren will, sollte sich
nach Berlin-Weißensee begeben. Ein we-
nig abgelegen am Stadtrand, umgeben
von alten Bäumen, liegt das Alexianer St.
Joseph-Krankenhaus. In den moderni-
sierten Backsteingebäuden der Jahrhun-
dertwende befindet sich ein Zentrum für
Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie
und Psychosomatik, das von Iris Hauth
geführt wird.
Bei der Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie schlägt auf, wer vor lauter
Angst seinen Alltag nicht wie gewohnt
bewältigen kann: darunter der erfolgrei-
che Unternehmer, der plötzlich einen
Tinnitus bekam und damit eine überbor-
dende Angst vor dem Verlust seiner Leis-
tungsfähigkeit, und die Apothekerin, die
in der Straßenbahn plötzlich eine Panik-
attacke befiel, die sie in einem Strudel
der Angst nach unten zog.
Unnormal sei das alles nicht, sagt die
Klinik-Chefin. „Die psychischen Erkran-
kungen stehen an zweiter Stelle der
Volkserkrankungen nach Beschwerden
in Muskeln und Skelett.“ Ist das ein neu-
es Phänomen? Hauth wiegelt ab: „Viel-
leicht hat sich die Wahrnehmung verän-
dert, und wir sprechen offener über
Ängste – auch in den klassischen und in
den sozialen Medien. Die Daten der
Krankenkassen zeigen eigentlich nur,
dass immer mehr Menschen in Behand-
lung gehen.“ 1998 waren es 20 Prozent,
derzeit sind es rund 25 Prozent der Bevöl-
kerung. Auch die Arbeitsunfähigkeitszah-
len wegen psychischer Störungen stei-
gen. Bei Frühverrentungen stehen die
psychischen Erkrankungen sogar schon
an erster Stelle. Aber: Nach einer Studie
des Robert-Koch-Instituts, die sich nicht
an Behandlungsdaten orientiert, sondern
an eigenen repräsentativen Befragungen,
treten psychische Erkrankungen heute
nicht häufiger auf als 1998.

Dazu kommt ein großes Dunkelfeld
von Menschen mit Angststörungen, die
nicht behandelt werden. Und vor allem
die Männer gehen lieber zum Hausarzt,
klagen über Rücken oder Nacken, an-
statt zu gestehen: „Ich habe Angst.“
Oder: „Ich bin depressiv.“
Iris Hauth hat sich auf Depressionen,
schizophrene Psychosen und postpartale
psychische Störungen spezialisiert. In ih-
rer Klinik in Berlin-Weißensee erprobt
sie immer neue Behandlungsformen. Sie
setzt dabei vor allem auf ambulante Ver-
fahren in Tageskliniken, will, wenn es
nur irgend geht, die Menschen gar nicht
erst aus ihrem Umfeld reißen. 2015 und
2016 war sie Präsidentin der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho-
therapie, Psychosomatik und Nervenheil-
kunde. Kennt sie selbst solche Ängste?
Sie schüttelt den Kopf: Nicht solche,
die außer Kontrolle geraten. Aber natür-
lich kennt sie die Angst als physiologisch
zunächst ganz normale Reaktion, die in
Situationen, die man bedrohlich findet,
im Gehirn eine überlebenswichtige Ket-
tenreaktion auslöst. Sie sorgt für eine
Adrenalinausschüttung, weit aufgerisse-
ne Augen, einen beschleunigten Herz-
schlag, einen hohen Blutdruck und ange-
spannte Muskeln. „Der Mensch ist zur
Flucht oder zum Kampf bereit, damit er
vom wilden Tiger nicht gefressen wird“,
erklärt Hauth. Diese physiologische Re-
aktion schütze uns bis heute im Alltag
vor Situationen, die eigentlich nicht gut
sind. „Wenn ich nicht reiten kann, steige
ich nicht aufs Pferd. Wenn ich einen Job
angeboten bekomme, von dem ich schon
ahne, dass ich den vielleicht nicht schaf-
fen kann, dann schützt mich die Angst
davor, ihn anzutreten.“
Doch können die Ängste auch patholo-
gisch werden: Wenn man Situationen in
ihrer Bedrohung überbewertet und es
dann zu heftigen Angstreaktionen
kommt. „Das Problematische dieser
Angst ist, dass sie eine Generalisierung er-
fährt. Sie haben eine Panikattacke in der
Straßenbahn und leiden fortan unter der
Erwartungsangst, dass das noch mal pas-
siert. Sie fahren beim nächsten Mal mit ei-
nem höheren Spannungspegel Straßen-
bahn, der wiederum einen weiteren An-
fall wahrscheinlicher macht“, sagt die
Neurologin. Das kann sich dann sukzessi-
ve auf andere Lebensbereiche ausdehnen.
Ein wenig so wie bei den Zitteranfäl-
len der Kanzlerin. Vor aller Öffentlich-
keit erlebte sie den körperlichen Kon-
trollverlust und musste von da an mit der
Sorge leben, dass das noch einmal pas-
siert. Sie sei noch in der Verarbeitungs-
phase, sagte sie auf Nachfrage nach ih-
rem Gesundheitszustand nach dem zwei-
ten Anfall. Das heißt: Der erste öffentli-
che Kontrollverlust über ihren Körper
war für sie ein Schock. Ein dritter Anfall
folgte prompt und damit die Vermei-
dungsstrategie. Inzwischen sitzt sie bei öf-
fentlich Auftritten. Keiner weiß, wie es
Angela Merkel wirklich geht. Bekannter-
maßen hat sie ein robustes Nervenkos-
tüm. Aber sie wäre auch nicht das erste
Staatsoberhaupt mit psychischen Proble-
men. Nur: Die Kanzlerin mag nicht
gern darüber reden.

Und das nicht ohne Grund, denn psy-
chische Schwächen stigmatisieren. Dabei
sei das vollkommen unnötig, sagt Iris
Hauth, während sie auf dem Klinikgelän-
de die Stationen erklärt. „Einmal psy-
chisch krank, immer psychisch krank –
das ist längst nicht mehr so.“
Doch Vorbehalte sind bekanntlich hart-
näckig. Bis Ende des 18. Jahrhunderts ha-
ben die Menschen psychisch Kranke aus-
gegrenzt und vorgeführt, in Zirkussen
oder auf Jahrmärkten als wilde Tiere zur
Schau gestellt. Die Erkrankung wurde oft
mit Besessenheit gleichgesetzt, Dämonen
trieben ihr Unwesen in den Hirnen der
Betroffenen. Das Darwin’sche „Survival
of the fittest“, die Eugenik – das alles hat
die Menschen darauf programmiert, psy-
chische Störungen als Makel zu sehen.
Ausgrenzung bis zur Ausmerzung war die
Folge, die im Dritten Reich zur Sterilisie-
rung und Tötung psychisch Kranker führ-
te. Tief hat sich diese Volkswahrnehmung
eingeprägt – nicht nur in Deutschland –
und in verschiedenen Bezeichnungen sei-
nen Ausdruck gefunden: Irrenhäuser, Ir-
renanstalten, Irrenärzte. So spricht man

heute nicht mehr. Aber aus der Stigmafor-
schung weiß man: Obwohl mehr über psy-
chische Erkrankungen gesprochen wird,
hat sich der Grad der Stigmatisierung in
den vergangenen zwanzig Jahren kaum
verändert. Immer noch gibt ein Drittel
der Menschen in Befragungen an, lieber
nicht mit einem psychisch Kranken arbei-
ten, befreundet oder nachbarschaftlich le-
ben zu wollen.
Häufig ist der Arbeitsplatz der Ort,
wo die seelische Störung anfängt: Ar-
beitsstrukturen, die unübersichtlich sind,
die eine schlechte Führung haben, an de-
nen unkollegiales Verhalten herrscht und
es vor allem an Gratifikation und Lob

mangelt. Die Leute, die die Arbeit krank
macht und die deshalb nach Berlin-Wei-
ßensee kommen, sind meistens jene, die
alles richtig machen möchten. Die Hun-
dertfünfzigprozentigen, die sich vor al-
lem über Leistung definieren. Das muss
nicht immer der Top-Manager sein. Das
können vielmehr auch die Kassiererin
und der Müllmann sein, die nie gelobt
werden und doch den Anspruch haben,
ihre Arbeit besonders gut zu machen.
Dass den Menschen ihre Gedanken da-
vongaloppieren und sie sich geistig in Ka-
tastrophenszenarien ergehen, ist kein
neuzeitliches Phänomen. Schon im Alter-
tum befassten sich die griechischen Philo-
sophen damit. Die Denkrichtung der
Stoa etwa zeugt davon. Die Begriffsver-
wendung „Stoiker“ ist heute im allgemei-
nen Sprachgebrauch eine andere als frü-
her, meint das Wort doch all jene, die
sich nicht aus der Ruhe bringen lassen,
und nicht die Vertreter der philosophi-
schen Richtung um Kition und Seneca.
Aber es zeigt, dass sich Menschen über
Jahrtausende damit befasst haben, wie es
um ihre Seele bestellt ist.
Nach der Philosophie kam im 19. Jahr-
hundert die Psychologie dazu, im 20. die
Neurowissenschaft. Ungeachtet der His-
torie werden Angststörungen immer wie-
der auch als Wohlstandsphänomen be-
zeichnet. Stimmt das? Aus alten Publika-
tionen weiß Hauth, dass zumindest in
Kriegszeiten Neurosen weniger häufig
vorkamen. „Neurosen sind Erkrankun-
gen, die vielfach aus gestörten Beziehun-
gen zu sich selbst und anderen heraus
entstehen“, sagt sie. In Phasen materiel-
ler Not bleibt dafür keine Zeit. Heute
geht es um den konstanten Zwang zur
Selbstoptimierung, der die Menschen in
eine dauerhafte Beschäftigung mit sich
selbst treibt. „Man nimmt Neuro-En-
hancer, um seine Konzentration zu opti-
mieren, man stellt sich auf Instagram
dar, um seinen Selbstwert zu erhöhen.“
Da herrsche ein starker gesellschaftli-
cher Druck. Und das nicht nur in westli-
chen Kulturkreisen. Auch erfolgreiche
Manager aus Dubai gehen immer häufi-
ger zur Psychotherapie.
Nicht umsonst ist etwa seit einer De-
kade der Burnout in aller Munde, der of-
fiziell noch keine Krankheit und des-
halb sehr viel gesellschaftsfähiger ist als
eine handfeste Angststörung oder De-
pression. Auch das passt in die Logik un-
serer Zeit. „Diejenigen, die fit und leis-
tungsfähig sind, haben einen Burnout.
Die Schwachen haben eine Depression
oder eine Angststörung. Das wird von
unserer Leistungsgesellschaft oft so ein-
geordnet“, sagt Iris Hauth. Ganz nach
der Devise: Wer für nichts brennt, der
kann auch nicht ausbrennen. Häufig
liegt indes sehr viel mehr hinter der ge-
nerellen Erschöpfung.
Ob Ed Sheeran auf dem Weg der Bes-
serung ist? Wir wissen es genauso wenig
wie bei der Bundeskanzlerin. Der briti-
schen Zeitung „The Sun“ sagte Sheeran
unlängst, er habe in seinem Musiker-
leben schon weit mehr erreicht, als er
sich je habe vorstellen können. „Ich ver-
suche jetzt einfach Spaß zu haben.“
Wenn das so einfach wäre.

Am Arbeitsplatz fangen viele psychische


Störungen an. Immer mehr


Menschen sind betroffen. Das Stigma


weicht trotzdem nur langsam.


Von Inge Kloepfer


Die Konzentration beim Bogenschießen soll
die Patienten ihre Angst vergessen lassen. Der
Fokus liegt auf der Spannung des Bogens.

Das große

Zittern

Im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin suchen psychisch Kranke professionelle Hilfe. Zum Therapieprogramm gehört auch die chinesische Selbstheilmethode Qigong. Fotos Jens Gyarmaty

Iris Hauth leitet die Klinik für psychische Leiden in Berlin-Weißensee.
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