Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 politik 3


Gegen Autorität


Leben Zu „Nie wieder musst du
dahin“ von Stefanie Nickel (30.
Juni):


Auch in Leipzig gibt es eine gro-
ße Freilernerszene. Als Lehrer
war ich kürzlich zum ersten Mal
mit dem Phänomen konfrontiert.
In dem Gespräch mit den Eltern
wurden ein unheimliches Sen-
dungsbewusstsein deutlich, eine
geschlossene Ideologie wie bei ei-
ner Sekte und die Ablehnung jeg-
licher Regeln und Autorität, weil
diese als Zwang, ja als Gewalt
empfunden werden. Sie empfin-
den die Schule als Ort des Grau-
ens, wie es auch im Artikel durch-
scheint. Dabei geben sich viele
Lehrer große Mühe, auf die Kin-
der und ihre individuellen Bedürf-


nisse einzugehen. Leider sind
manchmal die Rahmenbedingun-
gen wenig geeignet, um allen Kin-
dern gerecht zu werden. Aber
auch so ist das Lernen im Klas-
senverband der Schule allemal
professioneller und vielseitiger,
als es von Eltern zu Hause ge-
währleistet werden kann.
Daniel Riedel, Leipzig

Kino ohne Filme
Feuilleton Zu „Das Verschwinden
eines dunklen Raums“ von Peter
Körte (7. Juli):
Die Filme, die für das Kino ge-
macht werden, sind im Kino oft
gar nicht zu sehen. Bestes Bei-
spiel: Der in den Feuilletons mit
viel Lob bedachte Film „Nuestro
Tiempo“ von Carlos Reygadas ist

nach seinem Deutschland-Start in
Frankfurt am Main nicht zu se-
hen. Dieses Schicksal teilt der
Film etwa mit „The Lobster“ von
Giorgos Lanthimos, der erst Wo-
chen nach seinem Filmstart in
Frankfurt zu sehen war. Traurig
für eine Stadt, die ein Deutsches
Filmmuseum ihr Eigen nennt,
das sich mit großem Engagement
dem Nachlass und den Sammlun-
gen namhafter Regisseure wid-
met, wo sich aber offensichtlich
kein Kino findet, das großartige,
für die große Leinwand produzier-
te Filme zeigt.
Rainer Ortmüller, Frankfurt

Liebeskiller-Charme


Feuilleton Zu „Wer drin ist, ist
drin“ von Tobias Rüther (14. Juli):

Boris Johnson ist „enorm char-
ming“? Der von Ihnen erwähnte
Evelyn Waugh sagt in seiner Ro-
manfigur Anthony Blanche sehr
kritisch zum englischen Charme:
„Charm is the great English
blight. It does not exist outside
these damp islands. It spots and
kills anything it touches. It kills
love; it kills art.. .“ Nun hat der
Charme offenbar mit Johnson
auch den so bewunderten briti-
schen Pragmatismus getötet.
Christoph Harmening, Hannover

Heiliger Magnus
Feuilleton Zu „Die Teilchen“ von
Hans Christoph Buch (14. Juli):
Ihr Artikel zum Wirken von
Hans-Magnus Enzensberger hat
mir einige Freude bereitet. So

halb rechne ich mich, 85 Jahre
alt, ja zur gleichen Generation.
Ich verstehe, dass Sie „Magnus“
für deplaziert halten, weil Sie an
den Wortsinn „der Große“ den-
ken. Alexander der Große, Karl
der Große, Friedrich der Große


  • und als „Sahnehäubchen“ Wil-
    helm der Große, wie Kaiser Wil-
    helm II. seinen Großvater, etwa
    im Bereich des Kyffhäuserdenk-
    mals, zur eigenen Erhöhung
    nannte. Dass heute niemand Mag-
    nus heißt, hat aber mit der Wort-
    bedeutung nichts zu tun, sondern
    mit der stark zurückgegangenen
    Bereitschaft katholischer Famili-
    en, ihren Kindern Heiligenna-
    men zu verpassen. Magnus steht
    im Heiligenkalender. Er war, wie
    die meisten Heiligen, Mönch
    und gilt als Apostel des Allgäus.


Der Name Magnus findet sich
als Vorname vor allem in Skandi-
navien, der Familienname ist von
dem Heiligennamen abgeleitet
und hat also mit Großtuerei
nichts zu tun.
Ulrich Freiherr von Heyl,
Lampertheim

Provinztheater
Feuilleton Zu „Helden leben“
von Simon Strauß (14. Juli):
Wer eine differenzierte Auseinan-
dersetzung mit der Inszenierung
erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Dominiert wird der Artikel vom
Spott über die Stadt und die „hö-
here Provinzgesellschaft“, die ver-
sammelt zu haben Nico Hof-
mann immerhin eingeräumt
wird. Dazu hätte Herr Strauß ei-

gentlich nicht nach Worms kom-
men müssen: Dass Worms für
immer den Stempel „Provinz“
aufgedrückt bekam, hätte er vie-
len Artikeln seit 2002 entnehmen
können. Ja, ich bin Wormser
und lese sogar in der „Provinz“
gern die F.A.S.
Dr. Ulrich Oelschläger, Worms

D


er Komplex Majak im südli-
chen Ural, wo Sibirien an
Europa grenzt, ist eine der
größten Nuklearanlagen
der Welt. Reaktoren, eine
Wiederaufbereitungsanlage für Brennele-
mente, Zwischenlager. 1957 geschah dort
der bis dahin schlimmste Atomunfall der
Geschichte. Es gab eine Explosion, elf-
tausend Menschen mussten umgesiedelt
werden. Auf der internationalen INES-
Skala wurde der Vorfall in Kategorie
sechs eingeordnet, der zweithöchsten.
Nur die Katastrophen von Tschernobyl
und Fukushima übertrafen das später.
Inzwischen ist aus der Sowjetunion
Russland geworden, und wieder liegt ein
Schatten auf Majak. Ein internationales
Team von 69 Wissenschaftlern aus 47 re-
nommierten Institutionen bestätigt jetzt
die schon vor einiger Zeit aufgekommene
Vermutung, im Herbst 2017 habe es in
der Wiederaufbereitungsanlage von Ma-
jak ein weiteres Atomunglück gegeben.
Über große Teile Europas hatte sich da-
mals eine Wolke der hochradioaktiven
Substanz Ruthenium-106 verbreitet. Weil
Majak aber mehr als 4000 Kilometer von
Frankfurt entfernt liegt, war die Strah-
lung auf dem Gebiet der EU nicht stark
genug, um Menschen zu gefährden. Der
Radioökologe Georg Steinhauser von der
Universität Hannover, einer der Koordi-
natoren des Forschungsprojekts, hält es
aber für möglich, dass am Unfallort selbst
Menschen zu Schaden gekommen sind.
Und er fügt einen schwerwiegenden Vor-
wurf hinzu: den der Vertuschung. „Die-
ses Ereignis hätte an die Internationale
Atomenergie-Organisation gemeldet wer-
den müssen“, sagt Steinhauser. Russland
aber streitet bis heute alles ab.
Jetzt hat die Zeitschrift „Proceedings
of the National Academy of Science“,
eine der führenden wissenschaftlichen
Publikationen der Welt, die Studie der
69 Wissenschaftler auf ihrer Website ver-
öffentlicht. Die zentrale Aussage steht
im letzten Satz des Papiers. Der „Nukle-
arkomplex Majak“, heißt es da, müsse
„als ein wahrscheinlicher Kandidat“ für
den Ursprung der Ruthenium-Wolke im
Herbst 2017 betrachtet werden.
Die erste Warnung war damals aus
Italien gekommen. Eine Messstelle in
Mailand stellte das radioaktive Rutheni-
um völlig unerwartet in der Luft fest –


das erste Mal seit Tschernobyl. Mailand
schlug Alarm, und in den nächsten Ta-
gen kamen im Minutentakt weitere Be-
funde aus ganz Mittel- und Osteuropa,
auch aus Deutschland. Zuletzt lagen
1650 Ergebnisse vor. Zeitfolge, Konzen-
tration und Windrichtung machten
schnell deutlich: Die Wolke kam von
Osten, sie kam von weit her, und sie
war groß. Durch die Entfernung hatte
das Ruthenium sich zwar verdünnt, so
dass die einzelnen Dosen immer unter
den Schwellenwerten für Gesundheits-
gefahren lagen. Zusammen aber deute-
ten sie auf eine erhebliche Freisetzung
hin – das Team der 69 hat eine Gesamt-
aktivität errechnet, die einem Siebentel
dessen entspricht, was 2011 in der heuti-
gen Sperrzone um das havarierte japani-
sche Kraftwerk Fukushima niedergegan-
gen ist. Die Bundesregierung ging des-
halb früh von einem Vorfall der Katego-
rie fünf auf der INES-Skala aus.
Gleich nach dem Alarm begann damals
auch das Spiel der Vertuschung. Nach
den ersten Ruthenium-Meldungen fragte
die Internationale Atomenergie-Organisa-
tion 44 Länder, ob auf ihrem Territorium
Ruthenium entwichen sei. Alle antworte-
ten: Bei uns war nichts. Auch Russland
antwortete so. Weil aber jeder wusste,
dass dort, wo der Wind damals herblies,
unter anderem Majak lag, geriet die Anla-
ge früh ins Visier. Schon Anfang 2018 äu-
ßerte die französische Atomsicherheitsbe-
hörde einen entsprechenden Verdacht.
Auch die Bundesregierung ließ wissen, sie
vermute ein Ereignis im südlichen Ural.
Wenn das stimmt, hat Russland ver-
mutlich das internationale „Überein-
kommen über die frühzeitige Benach-
richtigung bei nuklearen Unfällen“ ver-
letzt. Dieser Vertrag verlangt, Atomun-
fälle mit grenzüberschreitenden Folgen
der IAEA zu melden. Allerdings gibt es
hier Deutungsunterschiede. Russland
meint, grenzüberschreitende Freisetzun-
gen unterhalb der gesundheitlichen
Schwellenwerte müssten nicht angezeigt
werden, in Deutschland dagegen
herrscht die Meinung vor, auch niedrige
Dosen seien anzeigepflichtig.
So oder so steht das russische Schwei-
gen in einer langen Tradition. Schon
1957, beim ersten Majak-Unfall, hatte
Moskau alles verheimlicht, und im Fall
von Tschernobyl wurde die Welt auf die

Katastrophe erst aufmerksam, als die
Strahlenwolke Skandinavien erreichte.
Damals gingen im schwedischen Atom-
kraftwerk Forsmark die Alarmsignale an,
weil kontaminierte Mitarbeiter die Anla-
ge nichtsahnend von außen betraten.
Auch jetzt gibt es wieder Hinweise auf
russische Vertuschungsmanöver. Die Rus-
sische Akademie der Wissenschaften bil-
dete zwar eine Untersuchungskommissi-
on, zu der auch internationale Experten
gehörten, aber ihre Möglichkeiten waren
begrenzt. Die schwedischen Teilnehmer
stiegen deshalb aus. In ihrem Abschieds-
brief heißt es, weil Russland keine inter-
nationalen Messtrupps in der Nähe der
vermuteten Verseuchungsquellen erlau-
be, könne die Arbeit nicht fortgesetzt
werden. „Wir haben Messungen durch
ein internationales Team gefordert“, be-
stätigt Florian Gering, der in der Kom-
mission das Bundesamt für Strahlen-
schutz vertrat. „Mit dieser Forderung wa-
ren wir aber nicht erfolgreich.“
Die russische Atombehörde Rosatom
ist trotzdem der Ansicht, die Arbeit der
Kommission habe den Verdacht gegen
Majak zerstreut. In einer Mail an diese
Zeitung teilte sie mit, die Untersuchun-
gen hätten ergeben, dass der „Produkti-
onsverbund Majak nicht die Ursache des
Auftretens des Isotops Ruthenium“ in
Europa sein könne.
Die 69 Wissenschaftler rund um Stein-
hauser und Masson sehen das anders. Sie
weisen auf Majak. Bevor sie aber zu dieser
Folgerung kamen, mussten sie mehrere
Rätsel lösen. So war im radioaktiven Nie-
derschlag von 2017 nur Ruthenium enthal-
ten und sonst nichts. Das war ungewöhn-
lich, denn bei einem Unfall in einem
Atomkraftwerk entweicht typischerweise
eine Unzahl radioaktiver Stoffe gleichzei-
tig. Ruthenium erscheint dann gemein-
sam mit Xenon, Jod, Cäsium oder Tellur,
bei sehr schlimmen Unfällen auch zusam-
men mit Uran, Plutonium und Strontium.
Weil all dies fehlte, fragte man sich,
ob ein Krankenhaus die Quelle der Wol-
ke sein könnte. Ruthenium wird zur
Stahlenbehandlung von Augen-Tumo-
ren verwendet, und es hätte ja sein kön-
nen, dass ein Rest davon versehentlich
in irgendeine Müllverbrennungsanlage
geraten wäre. Aber diese Möglichkeit
schied aus: Dafür war die Gesamtstrah-
lung viel zu hoch. Russland brachte die

Möglichkeit ins Spiel, dass ein Satellit
mit einer Ruthenium-Batterie abge-
stürzt sein könnte. Doch hatte keine ein-
zige von mehreren zuständigen interna-
tionalen Organisationen den Verlust ei-
nes Satelliten gemeldet.
Es blieb die Möglichkeit einer Wieder-
aufbereitungsanlage. In solchen Anlagen
werden aus verbrauchten Brennstäben
von Atomkraftwerken Reste der Kern-
brennstoffe Uran und Plutonium zurück-
gewonnen. Die Stäbe sind fingerdicke,
mit Uranoxid gefüllte Zirkoniumröhren.
Sobald sie ausgebrannt sind und das
Kraftwerk verlassen, werden sie zuerst ei-
nige Jahre gelagert, damit ihre Radioakti-
vität abklingt. Einen Teil der Zeit liegen
sie in Kühlwasser, weil sie sich durch ihre
eigene Strahlung erhitzen. Danach wer-
den sie maschinell zerhackt, Plutonium
und Uran werden durch Säuren herausge-
löst. In einer bestimmten Phase dieses
Prozesses entweicht reines gasförmiges
Rutheniumoxid. Normalerweise wird es
eingefangen und gelagert.
Wenn an dieser Stelle etwas schief-
läuft, kann reines Ruthenium entwei-
chen. Damit spricht auf der Suche nach
dem Ursprung der Strahlenwolke von
2017 vieles für eine Wiederaufbereitungs-
anlage. Aber für welche? Hier halfen die
Atmosphärenforscher im Team der 69.
Sie nahmen sich den Punkt auf der Land-
karte vor, wo man die höchste Luftbelas-
tung in der ganzen EU gemessen hatte,
das rumänische Städtchen Zimnicea.
Von dort verfolgten sie den Wind von
Tag zu Tag zurück und stellten fest, dass
die verseuchte Luft am 25. und 26. Sep-
tember 2017 tatsächlich Majak passiert
hatte. Die Indizien verdichteten sich.
Es gab aber noch ein weiteres Rätsel,
und um es zu verstehen, ist ein wenig
Fachwissen nötig. Wie alle radioaktiven
Stoffe zerfällt Ruthenium-106 im Lauf
der Zeit. In etwa einem Jahr ist dadurch
die Hälfte des Isotops fort. Andere Isoto-
pe des Elements, zum Beispiel Rutheni-
um-103, zerfallen in einem anderen Tem-
po, so dass Fachleute aus dem Mengen-
verhältnis fast auf den Tag genau erken-
nen können, wann eine bestimmte Probe
entstanden sein könnte – zum Beispiel
durch das Abbrennen eines Brennstabs
in einem Atomkraftwerk.
Im Fall der Wolke von 2017 aber stell-
te man etwas Seltsames fest: Das Ruthe-

nium war viel jünger als das, was norma-
lerweise bei der Wiederaufbereitung von
Brennstäben frei wird. Das hieß, dass die
Stäbe, aus deren Aufbereitung es vermut-
lich stammte, nicht wie üblich mindes-
tens vier Jahre abgeklungen waren, be-
vor man sie zerhackte, sondern höchs-
tens zwei. So „junge“ Brennstäbe sind ex-
trem radioaktiv und können bei der Wie-
deraufbereitung unvorhergesehene Pro-
bleme machen. „Wir fragten uns also“,
sagt Steinhauser: „Wieso sollte jemand
auf die Idee kommen, Brennelemente
nur so kurz abklingen zu lassen?“
Es waren die Kollegen aus Frankreich,
die eine Antwort anboten. Sie hatten sich
daran erinnert, dass die italienischen „La-
boratori Nazionali del Gran Sasso“, eine
der größten unterirdischen Kernfor-
schungsanlagen der Welt, den Nuklear-
komplex Majak kurz vor dem Auftritt
der Wolke um eine ganz spezielle Liefe-
rung des radioaktiven Isotops Cer-144 ge-
beten hatten. Die Lieferung war nötig
für ein Experiment zur Jagd nach dem
„sterilen Neutrino“ einem gespensti-
schen Elementarteilchen, das überaus
schwer nachzuweisen ist. Cer-144 kann
wie Uran und Plutonium aus abgebrann-
ten Brennelementen gewonnen werden,
aber wenn es die extreme Radioaktivität
haben soll, welche die Italiener für ihre
Neutrinojagd brauchten, darf nicht vier
Jahre mit der Aufbereitung gewartet wer-
den. Steinhauser und seine Kollegen mei-
nen jedenfalls, es habe nur einen Weg ge-
geben, die Anforderungen aus Italien zu
erfüllen: Man musste Brennstäbe aufbe-
reiten, die viel stärker strahlten als üb-
lich. Mit anderen Worten: Man musste
die Abklingzeit verkürzen und besonders
„junges“ Material nehmen. An diesem
Punkt habe es schließlich bei den Kolle-
gen und ihm „geklingelt“. Das sehr jun-
ge Ruthenium aus der Wolke von 2017
habe genau der sehr kurzen Abklingzeit
entsprochen, die auch für das ultraradio-
aktive Cer der Italiener gepasst hätte.
Dieser Zusammenhang ist zunächst
nur Theorie, aber die Theorie erklärt
mehr als nur das „junge“ Alter des nieder-
gegangenen Rutheniums. Sie gibt auch
erste Hinweise darauf, wie es zu dem ver-
muteten Unfall der Kategorie fünf in Ma-
jak gekommen sein könnte. Florian Ge-
ring vom Bundesamt für Strahlenschutz
hält es für möglich, dass der gutbezahlte

Auftrag aus Italien die Zuständigen dazu
brachte, sich technisch „auf Neuland“
vorzuwagen. Wiederaufbereitung setzt
zwar durch die starke Strahlung und die
hohe chemische Aggressivität der freige-
setzen Stoffe das Material einer Anlage
extremer Belastung aus, aber Gering
meint, „beim Standardverfahren“ habe
man das Ruthenium dennoch „gut im
Griff “. Dass es trotzdem vermutlich zu
einer Freisetzung gekommen sei, liege
möglicherweise daran, dass man mit so
jungen Brennelementen, wie sie für die
italienische Bestellung nötig waren, kei-
ne Erfahrung hatte. „Majak hat sich viel-
leicht übernommen“, sagt Gering. Auch
die Katastrophe von Tschernobyl hatte ja
mit einer bewussten Abweichung vom
Üblichen begonnen – damals hatten die
Ingenieure im Rahmen eines Experi-
ments am Reaktor die Pumpen der Küh-
lung kurz abgeschaltet.
Solange Russland keine unabhängi-
gen Messungen zulässt, sind das alles
nur Indizien. Es sind aber nicht die ein-
zigen. Eine weitere Seltsamkeit ergibt
sich nämlich daraus, dass ein Teil des
Rutheniums, das 2017 in Europa nieder-
ging, eine chemische Form hatte, die
nur bei großer Hitze freigesetzt wird –
bei Temperaturen, die im normalen Pro-
zess der Aufbereitung nicht erreicht wer-
den. Bei über hundert Grad kann Ru-
theniumtetraoxid außerdem explodie-
ren. Die radioaktive Wolke von 2017
könnte sich dadurch selbst den Weg ins
Freie gebahnt haben.
Steinhauser spricht dementspre-
chend von der Möglichkeit eines „Bran-
des“. Gering verwendet die Worte „Feu-
er“ und „Explosion“, wenn er versucht,
das Vorkommen dieser Variante von Ru-
thenium zu erklären. Beide sagen zu-
gleich allerdings, Näheres wisse man
nicht, deshalb seien höchstens Spekula-
tionen über Opfer möglich. Steinhauser
fügt jedoch ausdrücklich hinzu, theore-
tisch könne es bei dem vermuteten Un-
fall durchaus „Personenschäden“ gege-
ben haben.
Alles Weitere liegt im Dunkeln. Die
„Laboratori Nazionali del Gran Sasso“ je-
denfalls haben das superaktive Cer, das
sie in Russland bestellt hatten, nie be-
kommen. Zwei Monate nach dem Auftre-
ten der Ruthenium-Wolke in Europa er-
hielten sie aus Russland die Nachricht,
Majak könne leider nicht liefern.

Vor zwei Jahren zog plötzlich


radioaktives Ruthenium über Europa.


Keiner wollte es gewesen sein.


Ein Forscherteam sagt jetzt: Es gab


ein Unglück in Russland.


Von Konrad Schuller


Leserbriefredaktion
der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung,
60267 Frankfurt/Main.
E-Mail-Adresse:
[email protected]
Um möglichst viele Leserbriefe
veröffentlichen zu können, sind wir leider
häufig gezwungen, sie zu kürzen.
Wir lesen alle Briefe sorgfältig und
beachten sie, auch wenn
wir sie nicht beantworten können.

LESERBRIEFE


Die Wolke


aus der


Atomfabrik


Ein Behälter mit Atommüll in der Wiederaufbereitungsanlage Majak. Die Aufnahme stammt aus dem Juli 2011. Foto Imago
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