Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 politik 5


Herr Ude, könnten Sie mir etwas zu
Ihrer Wohngeschichte erzählen?


Ich bin 1947 in Schwabing geboren, in
der Bauerstraße 9. Das war ein Sechser
im Lotto, weil das Haus einer Kurhessi-
schen Stiftung gehörte. Als Mieter
glaubte man, das sei noch sicherer, als
selber Eigentümer zu sein. Nach dem
dritten Auto, das abends heimgekom-
men ist, konnten wir Kinder auf der
Straße Völkerball spielen, denn wir
wussten: Jetzt kommt keins mehr.


Gab es sonst viel Unsicherheit auf
dem Wohnungsmarkt?


Wenn man noch keine Wohnung hatte,
war die Suche ein Desaster. Aber da-
nach sagte das Lebensgefühl: Man hat
eine Wohnung, und solange man die
Miete zahlt und nachts nicht Trompete
spielt, kann man da bleiben.


Wie änderte sich das?


In den Siebzigern brach die Spekulati-
onswelle los. Mit der Einführung des
Bauherrenmodells im Steuerrecht war
es lukrativ geworden, Altbauten zu er-
werben, luxuriös zu modernisieren und
dann wieder zu verhökern, zum drei-,
vier- oder fünffachen Preis. Hinzu kam,
dass es immer mehr Besserverdienende
gab, die unbedingt in eine ruhmreiche
Lage wie Schwabing oder Lehel ziehen
wollten. Und die Immobilienbranche
wurde immer rücksichtsloser – ich habe
das als Mieteranwalt hautnah miterlebt.


Erzählen Sie.


Ich rede hier nicht von den alten
Münchner Hausbesitzern, die ihre Mie-
ter oft seit Kriegszeiten kannten, die
mit ihnen zum Teil im Luftschutzbun-
ker gesessen hatten. Nein, es waren die
Erben, die man sich nicht rücksichtslos
genug vorstellen kann. Und noch
schlimmer, die professionellen Investo-
ren, die von vorneherein das Ziel hat-
ten, die Bewohner rauszuekeln, um ein
Mietshaus mit größtem Profit in eine Ei-
gentumswohnungsanlage umzuwandeln.


Was haben Sie als Mieteranwalt
getan?


Wir haben versucht, die Mieter zu orga-
nisieren. Denn die Investoren terrorisier-
ten ja alle, zum Beispiel durch Räu-
mungsklagen. Die habe ich als Anwalt
besonders geschätzt, weil wir die Prozes-
se immer gewonnen haben. Aber gerade
ältere Mieter waren natürlich erst ein-
mal zutiefst verunsichert, wenn die Ge-
genkanzlei 14 Anwälte auf dem Brief-
kopf hatte. Manche Investoren waren
auch richtig kriminell. Die heuerten
Leute an, die Dachziegel entwendet und
Fenster im Treppenhaus ausgehängt ha-
ben, damit es ins Haus regnete.


Ihr Parteifreund Hans-Jochen Vogel
war damals Oberbürgermeister. Konn-
te der das nicht verhindern?


Vogel hat das seinerzeit wichtigste The-
ma auf dem Immobilienmarkt angepackt,
das Bodenrecht. So, wie es bis heute ge-
staltet ist, ermöglicht es Grundeigentü-
mern, ohne eigenes Zutun und aus-
schließlich durch Anstrengungen des
Steuerzahlers für Straßenbau oder Kin-
derbetreuung, den daraus resultierenden
enormen Wertzuwachs allein einzusa-
cken. Vogel hat sehr konstruktive Vor-
schläge für ein soziales Bodenrecht ge-
macht. Es gab eine kurze Phase, in der
die Union im Bund zustimmen wollte,
aber dann hat sich die FDP, damals Ko-
alitionspartner der SPD, gesperrt. Es gab
allerdings in allen Fraktionen, auch der
SPD, Abgeordnete vom Land und aus
kleineren Städten, die im Schatten der
wirtschaftlichen Entwicklung standen;
die wollten mit der Wohnungsnot nicht
behelligt werden. Das war ein ausschließ-
lich großstädtisches, wenn nicht gar ein
rein Münchner Thema. Das Neue an
der jüngeren Entwicklung ist, dass der
Druck auch in Berlin und in kleineren
Universitätsstädten angekommen ist.


War das absehbar?


Lange hat man sich damit getröstet,
dass die Gesamtzahl der Wohnungen
im Verhältnis zur Bevölkerungszahl
doch sehr gut sei. Man hat nicht er-
kannt, dass es eine Binnenwanderung
gibt, nach der deutschen Einheit noch
viel dramatischer als vorher, die in den
Zuzugsgebieten noch Jahrzehnte lang
zu Wohnungsmangel führen wird. Ich
wurde als Spitzenkandidat der bayeri-
schen SPD bei der Landtagswahl 2013
noch von prominenten SPD-Landespoli-
tikern gebeten, nicht dauernd mit Woh-
nungsnot und Mieterschutz zu kom-
men, das interessiere doch nur in
München.


SPD-Minister haben auch mitge-
macht beim Verkauf staatlicher Woh-
nungen.


Absolut richtig. Das passierte unter
Theo Waigel, CSU, unter Hans Eichel,
SPD, und unter Peer Steinbrück, eben-
falls SPD. Die Politik hat damit massiv
gegen ihre eigenen Interessen gehan-
delt. Jetzt jammert man, man finde kei-
ne Mitarbeiter mehr, die man nach
München versetzen könne, weil der
Wohnungsmarkt so schwierig sei. Die
haben Zehntausende Wohnungen ge-
habt und dann zu Preisen veräußert,
über die man auf dem Markt der Immo-


bilienwirtschaft, die jetzt das Sagen hat,
nur lachen kann. Übrigens hat der Frei-
staat Bayern unter Finanzminister Söder
gleich 33 000 Wohnungen mit einem Fe-
derstrich veräußert.

Das Land Berlin, wo die SPD eben-
falls in der Regierung ist, erwägt, pri-
vate Wohnungen zu enteignen.
In dem Fall kann ich nur schallend la-
chen. Die Wohnungen der „Deutsche
Wohnen“ waren ja mal in öffentlicher
Hand, und sie sind in einer parteipoliti-
schen Konstellation, die man gar nicht
nennen mag, nämlich unter Rot-Rot,
verscherbelt worden, um die Haushalts-
lage zu verbessern. Dass man jetzt her-
geht, quasi in derselben Konstellation,
und sagt, private Wohnungen seien ein
so entsetzliches Unrecht, dass man es
unbedingt rückgängig machen muss, hal-
te ich für skurril und juristisch höchst
angreifbar. Was kann der Staat in Berlin
besser als der Private? Privatisieren.

Ihr Parteifreund Kevin Kühnert hat
in der „Zeit“ gesagt, er finde nicht,
„dass es ein legitimes Geschäftsmo-
dell ist, mit dem Wohnraum anderer
Menschen seinen Lebensunterhalt
zu bestreiten“. Sind Sie da seiner
Auffassung?
Eine Begrenzung, wie viel Wohnungen
zum Beispiel ein erfolgreicher Unterneh-
mer bauen darf, ist grundfalsch. Ich
habe in meiner Amtszeit immer wieder
an Arbeitgeber appelliert, Wohnraum
zu schaffen, und ich möchte mir die
Münchner Wohnungssituation gar nicht
vorstellen ohne all die Wohnungen, die
über den Eigenbedarf hinaus errichtet
wurden. Das ist allemal besser, als das

Geld auf dem amerikanischen Woh-
nungsmarkt für Subprime-Papiere zu
verbrennen. Das wurde ja jahrelang ge-
macht, um die Rendite zu erwirtschaf-
ten, die sich die Finanzmärkte angeblich
wünschten. So ist doch die Realität. Bei
Kühnert merkt man, dass er davon am
Ende seines Studiums immer noch sehr
weit weg ist.

Wie stehen Sie grundsätzlich zu Ent-
eignungen?
Ich habe immer schon gesagt, eine Ent-
eignung muss, als Ultima Ratio, nicht
nur für Autobahnen zulässig sein.
Es gibt zum Beispiel Erbengemeinschaf-
ten, die sich nicht einigen können und
deshalb ein Haus verfallen lassen
gegen alle Vorschriften. Da muss es
natürlich das Instrument der Enteig-
nung geben.
Sind Sie für eine Deckelung von Mie-
ten oder gar für ein Einfrieren auf
fünf Jahre, wie es der Berliner Senat
plant?
Ich bin für eine Kappungsgrenze. Das
habe ich schon in meinem Buch „Wege
aus der Wohnungsnot“ vor 29 Jahren ge-
schrieben: 15 Prozent Erhöhung in drei
Jahren ist das höchste der Gefühle.

Man kann mehrere Argumente gegen
eine Deckelung vorbringen. Zum Bei-
spiel, dass kurz bevor sie eingeführt
wird, die Vermieter mit dem Preis
hochgehen könnten.
Richtig. Deswegen muss man so etwas
blitzschnell einführen und nicht monate-
lang ankündigen.

Auch gemeinwohlorientierte Vermie-
ter brauchen steigende Mieten, um

den Neubau bezahlbarer Wohnungen
zu stemmen.
Auch richtig, das gilt auch für die In-
standsetzung. Deswegen halte ich fünf
Jahre null Erhöhung, wie sie Berlin vor-
hat, für unrealistisch. In einer Wirt-
schaftsordnung, in der überall freie
Preisgestaltung herrscht, also jeder
Handwerker teurer werden kann, kann
man dem Vermieter nicht völlig verbie-
ten, darauf im Zweifel zu reagieren. Das
triftigste Gegenargument haben Sie
aber noch gar nicht gebracht.
Welches?
Fünf Jahre Stopp, wie in Berlin geplant,
bedeutet, dass ein und dieselbe Regel für
den Mietwucherer gilt wie auch für den,
der aus Rücksicht auf die niedrige Rente
einer Oma oder die Not eines Künstlers
bisher unter der ortsüblichen Vergleichs-
miete geblieben ist. Wenn das Gesetz in
Berlin Bestand haben sollte, dann wird
die Bereitschaft von Vermietern, bei so-
zialen Notlagen kulant zu sein, rasant zu-
rückgehen, weil sie dann, sollte nach der
Oma ein wohlhabender Zahnarzt einzie-
hen, nicht reagieren können.
Im Grundgesetz steht nach wie vor:
„Eigentum verpflichtet.“ Ist das ein
toter Satz?
Der Geist der Verfassung sagt, im Bund
wie im Freistaat, dass Eigentum im
Dienst der Allgemeinheit zu stehen hat.
Aber die Bundespolitik ist einen diame-
tral anderen Weg gegangen. Sie hat sich
nur dazu herbeigelassen, Notsituationen
der Nachkriegszeit anzuerkennen und
deshalb sozialen Wohnungsbau zu schaf-
fen. Sie hatte dabei immer die wirt-
schaftsliberale Zwangsvorstellung, das

sei nur eine ganz kurze Ausnahme we-
gen der Kriegsfolgen. Deswegen hat sie
die Steuerprivilegien für gemeinnützige
Wohnungsunternehmen abgeschafft,
deswegen durften Sozialwohnungen
auch immer nur befristet diesen Zu-
stand haben – ein Kardinalfehler der
deutschen Politik.

Beim Wiener Modell, das von vielen
als vorbildlich gerühmt wird, ist es
anders.
Es ärgert mich maßlos, wenn jetzt ausge-
rechnet Konservative sagen, die Kommu-
nen hätten in Deutschland versagt, in
Wien sehe man doch, wie es gehe. Ja,
was war denn in Wien? Wien ist ein
Bundesland mit eigener Gesetzgebung.
Die haben dort schon vor hundert Jah-
ren, 1919, zwei gesetzliche Regeln ge-
schaffen, die in der Adenauer-Ära als
nackter Kommunismus gebrandmarkt
worden wären. Die Stadt durfte eine
stattliche Steuer erheben, damit sie Woh-
nungen bauen konnte. Außerdem wurde
festgelegt, dass alle geförderten Wohnun-
gen das auch dauerhaft bleiben können.

Auch am Wiener Modell gab und gibt
es Kritik. Es heißt, die günstigen
Wohnungen seien jahrzehntelang
nach Parteibuch vergeben worden.
Da ist was dran. Ich erinnere mich plas-
tisch an die Erzählung der Österreiche-
rin Senta Berger, wie ihre Mutter sich
beim Wohnungsamt um eine Wohnung
beworben hat und sie nur nach dem Par-
teibuch gefragt wurde. Als sie sagte,
dass sie in keiner Partei sei, wurde ihr
bedeutet, sie könne gerne noch mal wie-
derkommen. So ist sie wohl zur Sozialis-
tin geworden. Aber das stammt aus ei-

ner früheren Zeit. Es ist sehr wohl mög-
lich, ein transparentes Vergabesystem
einzuführen, das die Einkommensver-
hältnisse berücksichtigt, aber auch ver-
hindert, dass Monostrukturen und da-
mit soziale Brennpunkte entstehen. Bei
den Wohnungen der Stadt München
funktioniert das seit Jahrzehnten.
Die CSU sagt, Ude solle in Sachen
Wohnungsnot den Ball flach halten,
er selbst sei zwei Jahrzehnte Oberbür-
germeister gewesen. Was entgegnen
Sie da?
München ist eine der wenigen Städte,
die keine Wohnungsgesellschaft und kei-
ne Bestände verkauft hat. In meiner
Amtszeit wurden 175 000 Wohnungen
gebaut, natürlich überwiegend von priva-
ter Hand, aber für die Hälfte dieser
Wohnungen mussten wir erst das Bau-
recht und die Infrastruktur schaffen.
Die Zahl der kommunalen Wohnungen
wurde um 50 Prozent erhöht, aber klar
ist auch: Kein Mensch kann das Pro-
blem wirklich lösen, dass es in Mün-
chen seit einem Jahrhundert teurer zu
wohnen ist als in schrumpfenden Städ-
ten, die über noch viel mehr Probleme
klagen. Der Wohnungsmangel kommt
von der steigenden Nachfrage, und die
kommt vom Zuzug und der von der At-
traktivität der Stadt. Kein Mensch will
diese Attraktivität zerstören.
Wie viel Nachverdichtung verträgt
München noch?
Jede pauschale Aussage ist hier proble-
matisch. Ich halte es für richtig, auch
wenn Peter Gauweiler es als Erster pro-
pagiert hat, dass man Dachgeschosse
ausbaut. Es gibt viele Quartiere, wo
eine Aufstockung um ein oder zwei
Stockwerke völlig unproblematisch
wäre, weil wir uns früher enorm zurück-
gehalten haben. Ich erinnere mich an
ein Bürgerbegehren, das wir mit Müh
und Not abgewehrt haben. Man hat uns
vorgeworfen, wir wollten im Münchner
Osten und Westen eine Skyline errich-
ten. Wissen Sie, worum es da ging? Um
neue Häuserzeilen mit Erdgeschoss plus
zwei Stockwerken!
Sie selbst wohnen in München in ei-
nem sehr schönen Haus. Wie sind
Sie da letztlich hingekommen?
Meine Frau hat das Haus Ende der sieb-
ziger Jahre erworben, für einen Geldbe-
trag, den man heute kaum noch fassen
kann: 700 000 Mark, also 100 000 pro
Wohnung. Das Haus hatte einer alten
Dame gehört, die vor allem wollte, dass
man in dem Haus weiterhin anständig
mit den Mietern umgeht. Da kam mei-
ne Frau gerade recht.

Auch Ihnen gehört inzwischen ein
Teil des Hauses. Wie viel Miete ver-
langen Sie?
Runde zehn Euro pro Quadratmeter.
Solche Mieten können Sie in Schwabing
lange suchen!
Wie hat sich Schwabing in all den Jah-
ren, in denen Sie nun dort sind, ver-
ändert?
Die Gentrifizierung ist enorm vorange-
schritten. Eine Pointe dabei: Die Wahl-
ergebnisse der Grünen sind dadurch im-
mer besser geworden. Sie kritisieren die
Gentrifizierung am lautesten, aber sie
profitieren am meisten davon.

Wie macht sich die Gentrifizierung
bemerkbar?
Um das zu sehen, reicht es völlig, auf
der Straße spazieren zu gehen. Wo frü-
her VW Käfer und noch zahlreiche Fiat
500 von Studenten standen und allen-
falls mal ein Golf eines Familienvaters,
da stolpern Sie heute über die SUVs.
Das sind keine Leute, die irgendwann
auf eine Almhütte fahren müssen mit
Vierradantrieb, es geht dabei ausschließ-
lich ums Prestige: Wir können uns
nicht nur eine Wohnung in Schwabing
leisten, sondern dazu auch noch ein
SUV! Menschen dieser Einkommens-
gruppe und dieser Mentalität haben er-
kennbar zugenommen. Das soziale Le-
ben, im Laden, auf der Straße, im
Autoverkehr, wird von ihnen immer
stärker dominiert. Aber es gibt in Schwa-
bing nach wie vor mehr kulturelle
Aktivitäten und Einrichtungen als in
anderen Vierteln – das hat auch
viel mit Schwabinger Bürgerengage-
ment zu tun.
Aber das Lebenskünstlertum...

... das ist definitiv rückläufig.


Keine Helmut-Fischer-Existenzen
mehr?
Der hat hier schräg gegenüber gewohnt,
wir waren eng mit ihm befreundet. Er
war völlig anders als im „Monaco Fran-
ze“ , nicht der Luftikus, das war eher
sein Freund und Autor Helmut Dietl,
dessen Hund manchmal vor unser Haus
gepinkelt hat. Fischer war ein preußi-
scher Pflichtmensch – und er war einer
der prinzipienfestesten Sozialdemokra-
ten, die ich kannte. Disziplin war ihm
besonders wichtig. Als ich zeitweise
Konflikte mit meinem Vorgänger
Georg Kronawitter hatte, da sagte er im-
mer zu mir: Wenn die Sozis schon nicht
zusammenhalten, dann können wir den
Laden gleich zumachen. Prophetische
Worte.
Mit Christian Ude sprach Timo Frasch.

Ich nehme zehn Euro


pro Quadratmeter


Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude war lange Mieteranwalt – und


ist nun Vermieter. Ein Gespräch über Wohnungsnot und was dagegen zu tun ist.


Foto Jan Roeder
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