2020-02-28 trend

(Jacob Rumans) #1
nach Washington mit der Erwartung,
dass es Europa ab Jänner 2021 noch
einmal vier Jahre mit Trump zu tun ha-
ben wird. Da kann es nicht schaden,
schon vorab seine Aufwartung für die
zweite Amtszeit zu machen.

Gestern Peking, heute
Washington, morgen Moskau
Der dreitägige Trump-Trip wird wohl
nicht mehr als so spektakulär wahr-
genommen werden wie
im Vorjahr. Was perma-
nent auffällt, ist aber,
dass kein Kanzler der
jüngeren Geschichte
derart viel auf Achse
war wie der 33-jährige
Amtsinhaber. Allein in
seinen ersten 17 Mona-
ten als türkis-blauer
Regierungschef absolvierte Sebastian
Kurz – abseits von regelmäßigen
EU-Terminen in Brüssel – gut 30 Aus-
landsreisen: zwei große China-Touren
binnen zwei Jahren, eine davon mit der
größten Wirtschaftsdelegation aller
Zeiten gemeinsam Alexander Van der
Bellen; Fernost- (Singapur, Hongkong),
Afrika- (Äthiopien, Ruanda) und Russ-
land-Trips (Moskau, St. Petersburg)
sowie regelmäßige Kurzaufenthalte in

den wichtigsten europäischen Haupt-
städten, aber auch Reisen in die aufstre-
benden Metropolen am Balkan.
Im gleichen Tempo ging es nach Kurz’
Wiederwahl weiter – mit dem vorläufi-
gen Höhepunkt, Donald T., die Zweite.
Was aber steckt hinter der unge-
brochenen Reiselust des Kanzlers? Das
Türöffnen für Wirtschaftsdelegationen
gehört vor allem in Asien zum Job. In
Staaten mit autoritären Regimen und
einem staatsnahen Wirt-
schaftssystem ist politi-
sches Klinkenputzen für
Geschäftsanbahnungen
spielentscheidend.
Kurz macht in Sa-
chen Auslandskontakte
aber mehr als seine
Hausaufgaben. Es gibt
abseits der Staatsvisiten
auch Auslandstermine, die Kurz meist
unter dem Radarschirm hält. Als ÖVP-
Chef versäumt er so gut wie keine Kon-
ferenz der EVP, des EU-Zusammen-
schlusses der konservativen Parteien.
Bereits als Außenminister zog er zudem
als Co-Vorsitzender der EVP-Außen-
minister die Fäden hinter den Kulissen.
Als etwa 2018 in der konservativen Welt
viele noch auf ganz andere Kandidaten
tippten, war sich Kurz mehr als ein Jahr

Ein Weggefährte
des Kanzlers ist
sich sicher: Kurz
strebt nach
höheren Weihen
in Brüssel.

vor der EU-Wahl schon sicher, dass die
EVP den CSU-Mann Manfred Weber als
Spitzenkandidaten ins Rennen schicken
werde.

Traumziel Brüssel statt
Silicon Valley
Alles in allem festigt das jenes Bild,
das sich bei intimen Kanzler-Kennern
immer mehr breitmacht. Sie glauben,
dass Sebastian Kurz mittelfristig nicht,
wie viele vermuten, einen CEO-Job in
einem internationalen Konzern oder im
Silicon Valley im Auge hat. Ein „political
animal“ wie Kurz würde in der Welt der
Zahlenfüchse verdorren.
Ein Weggefährte des Kanzlers ist sich
daher sicher: Der ÖVP-Chef strickt
zielstrebig an seinem Aufstieg zu höhe-
ren Weihen in Brüssel. In vier Jahren
stehen alle Spitzenjobs – von der Kom-
missionspräsidentin bis zum Ratspräsi-
denten – wieder neu zur Disposition.
Wer, wenn nicht der alerte Österreicher,
genieße – nicht zuletzt dank Tür-
kis-Grün – in der konservativen Partei-
enfamilie derzeit mehr Beachtung? Kurz
gelte in EVP-Kreisen so zunehmend als
der ideale Spitzenkandidat für den
EU-Wahlkampf 2024 – oder auch erst
2029.
Ausgemacht ist das noch lange nicht,
zumal sich bis dahin auch die ungleiche
Paarung mit den Ökos nachhaltiger be-
währen muss als das unheilige Experi-
ment mit den Blauen.
An Selbstbewusstsein auf dem nicht
minder rutschigen EU-Parkett mangelt
es Sebastian Kurz freilich schon jetzt
nicht. Den griechischen konservativen
Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis
ließ der österreichische Kollege kürzlich
im Kreise der EVP-Vertrauten wissen:
Wenn es eine neue Debatte über eine
EU-weite Verteilung der Zehntausenden
in Griechenland gestrandeten Flücht-
linge gebe, ersuche er ihn dringend, in
Österreich erst gar nicht anzufragen. Das
erspare, unter EVP-Parteifreunden ge-
sprochen, ihm selber, aber auch Kurz
eine peinliche Debatte, bei der jeder nur
verlieren könne.

KURZ IM WEISSEN HAUS. Der Kanzler wird
in Washington als wichtiger europäischer
Player wahrgenommen.

09/2020 | TREND 11

FOTOS: WOLFGANG WOLAK, BKA/DRAGAN TATIC

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