2020-02-28 trend

(Jacob Rumans) #1

I


st Sebastian Kurz ein eiskalter Neoli-
beraler? Oder ein „kleinbürgerlicher
Wirtschaftsliberaler“, wie Hans Rauscher
meint? Oder gar ein „Verschrotter“ des
Systems? So nannte sich Matteo Renzi,
der rasch verglühte italienische Refor-
mer. Wie die wirtschaftspolitischen Visi-
onen des aktuellen Bundeskanzlers genau
aussehen und welches Ziel er hat, ist ihm
vermutlich selbst nicht ganz klar.
An Imagination, Zielen und Zukunfts-
glauben mangelte es einem seiner Vor-
gänger, dem größten von allen, nicht:
Bruno Kreisky, Regierungschef von 1970
bis 1983, hatte klare Vorstellungen,
Grundsätze, Gestaltungswillen.
Arbeit und soziale Sicherheit für alle
waren sein Leitmotiv. Kreisky glaubte
weder an das neoliberale „Laisser-faire“
noch an das angelsächsische „Anything
goes“ oder an das simple ÖVP-Rezept
„Mehr privat, weniger Staat“. Geprägt
von der Zwischenkriegszeit, war sein
Grundsatz: „Ein paar Milliarden (Schil-
ling) mehr Schulden bereiten mir weni-
ger schlaflose Nächte als hunderttausend
Arbeitslose.“
Vor 50 Jahren, am 1. März 1970,
gewann Bruno Kreisky bei
der Nationalratswahl überra-
schend die Stimmen- und
Mandatsmehrheit. Er wagte
eine Minderheitsregierung,
die von der FPÖ unterstützt
wurde. Ein Jahr später errang
er bei vorzeitigen Neuwahlen
die Absolute, die er länger als
jeder andere Bundespolitiker
verteidigte. 1983 zog er sich
zurück, nachdem er „nur“
noch auf 47,6 Prozent gekom-
men war – ein Ergebnis, von


dem die heutige SPÖ-Spitze nur träumen
kann.
Kreisky ist längst zum Kult-Kanzler
geworden. Aber man muss daran erin-
nern, dass er sein Reformwerk nicht
allein geschaffen hat. In der Justizpolitik
war Christian Broda die treibende Kraft,
Hertha Firnberg und Heinz Fischer sorg-
ten für frischen Wind in der Bildung,
Ernst Eugen Veselsky trommelte die
famosen „1.400 Experten“ zusammen.
Kopf der Finanzpolitik war Hannes
Androsch. Die Achse Regierungschef–Fi-
nanzminister funktionierte in dieser Zeit
hervorragend. So kamen die Reformen
rasch voran.

A


llerdings: Die Grundlage war nicht
nur eine SPÖ-Eigenproduktion. Der
Finanzminister profitierte
vom Aufschwung 1969–1974.
Die Steuereinnahmen spru-
delten, die notorischen Bud-
getprobleme, mit denen viele
Regierungen zu kämpfen hat-
ten, blieben der Regierung
Kreisky vorerst erspart. Als
1971 das System der fixen
Wechselkurse von Bretton
Woods zusammenbrach, ent-
schloss sich Androsch im fol-
genden Jahr zur Ein führung
der Mehrwertsteuer und zu

einer Hartwäh rungspolitik, indem er den
Schilling an die Deutsche Mark band.
Das war eine eindeutige Abkehr von
den 60er-Jahren, in denen der Schilling
immer wieder gezielt abgewertet worden
war. Gegen diesen Kurs waren damals
und auch in späteren Jahren die ÖVP,
die Industriellenvereinigung unter Hans
Igler – und Kreisky selbst.
An der Hartwährungspolitik hielt
Androsch auch fest, als die Aufschwung-
phase durch den ersten Ölschock im
Herbst 1973 zu Ende ging. Der Finanz-
minister reagierte darauf mit dem so ge-
nannten Austrokeynesianismus, ein Be-
griff, den der Wirtschaftsforscher Hans
Seidel erfand. Androsch spricht lieber
von einem „Policy Mix“, einer pragmati-
schen Wirtschaftspolitik.
Sie bestand einerseits aus neuen
Schulden, höflicher formuliert: aus einer
expansiven Budgetpolitik zur Nachfrage-
und damit Beschäftigungssicherung, ins-
besondere durch öffentliche Investitio-
nen und steuerliche Förderung privater
Investitionen. Dazu kam andererseits die
Hartwährungspolitik zur Preisstabilisie-
rung und einem permanenten Zwang zu
Produktivitätssteigerungen. Und schließ-
lich eine sozialpartnerschaftlich ausge-
handelte Einkommenspolitik zur Inflati-
onsbekämpfung und Stabilisierung der
Leistungsbilanz.

O


berstes Ziel war die Vollbeschäfti-
gung: Kreiskys Wirtschaftspolitik
war eigentlich Sozialpolitik.
Ein große Rolle spielte die verstaat-
lichte Industrie, damals ein entscheiden-
der Wirtschaftsbereich mit Großunter-
nehmungen insbesondere der Grund-
stoff ndustrie. Zwischen Eigentümer und

Kreiskys Wirtschafts-
politik war eigentlich
Sozialpolitik. Hannes
Androsch war sein – zu-
nehmend widerwilliger –
Weggefährte.

CHRISTOPH KOTANKO


Der Kult-Kanzler


und sein Adjutant


CHRISTOPH
KOTANKO ist
Korrespondent der
in Wien

14 TREND | 09/

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