Handelsblatt - 20.02.2020

(Ann) #1
Martin Greive, Frank Specht Berlin

D


ie Putzkräfte hatten ei-
nen Arbeitsvertrag
über 80 Stunden im
Monat, arbeiteten aber
deutlich mehr. Den
Lohn für die Überstunden erhielten
sie bar auf die Hand – und somit
schwarz. Nachdem der Schwindel
aufgeflogen war, verurteilte das
Amtsgericht Nürnberg den Arbeitge-
ber zu 13 500 Euro Geldstrafe.
Im Februar gelang Frankfurter
Zollfahndern ein Schlag gegen die Zi-
garettenmafia. Die Beschuldigten sol-
len unversteuerte Zigaretten aus der
Ukraine über Ungarn nach Deutsch-
land und weiter nach Großbritannien
geschmuggelt haben. Steuerschaden:
3,4 Millionen Euro.
Zwei Fälle aus dem großen Reich
der Schattenwirtschaft, die der Zoll
in seiner Erfolgsstatistik führt. Wie
viele Fälle unter dem Radar bleiben,
ist schwer zu sagen. Die Ökonomen
Friedrich Schneider vom Forschungs-
institut für Bankwesen der Universi-
tät Linz und Bernhard Boockmann
vom Institut für angewandte Wirt-
schaftsforschung (IAW) schätzen das
Volumen der Schattenwirtschaft in
diesem Jahr auf 322 Milliarden Euro –
zwei Milliarden Euro weniger als im
Vorjahr. Dabei beziehen die Forscher
neben der Schwarzarbeit auch uner-
laubte Aktivitäten wie illegale Arbeit-
nehmerüberlassung, Drogenhandel,
Schmuggel oder Prostitution ein.
Da Schattenwirtschaft im Gehei-
men stattfindet, lässt sich ihr Ausmaß
nur abschätzen. Hinweise finden sich
aber direkt – etwa über Befragungen
oder Ermittlungsverfahren zu Steuer-
hinterziehung – oder indirekt. Zum
Beispiel, wenn es eine Diskrepanz bei
den Einnahmen und Ausgaben der
Haushalte gibt oder besonders viele

große Banknoten im Umlauf sind. In
ihr Rechenmodell beziehen Schnei-
der und Boockmann unter anderem
die Steuerbelastung, die geleisteten
Sozialversicherungsbeiträge, das ver-
fügbare Einkommen, die offizielle Er-
werbsquote und die effektiv geleiste-
te Arbeitszeit ein.
Im Jahr 2003 hatte die Schatten-
wirtschaft mit 370 Milliarden Euro ei-
nen Höchststand erreicht. Im Rezes-
sionsjahr 2009 waren es noch 352
Milliarden Euro – seither ist sie konti-
nuierlich zurückgegangen. So haben
die gute Arbeitsmarktlage und die
niedrige Arbeitslosigkeit sicher dazu
beigetragen, dass weniger schwarzge-
arbeitet wird.
„Die sich verschlechternden Wirt-
schaftsaussichten werden diesen
Rückgang im Jahr 2020 aber dämp-
fen“, erwartet Schneider.

Verschärfte Gesetze
Überhaupt sei die Prognose unter
„erheblicher Unsicherheit“ über die
wirtschaftliche Entwicklung erstellt
worden, schreiben die Autoren. Sie
gehen davon aus, dass das Bruttoin-
landsprodukt (BIP) in diesem Jahr
preisbereinigt um ein Prozent wach-
sen und die Arbeitslosigkeit im Jah-
resdurchschnitt leicht auf 2,3 Millio-
nen Personen zunehmen wird.
Die Bundesregierung hatte zuletzt
ihren Kampf gegen die Schattenwirt-
schaft verschärft. So gilt seit Novem-
ber 2019 die sogenannte Generalun-
ternehmerhaftung nicht mehr nur am
Bau und in der Fleischverarbeitung,
sondern auch in der Paketbranche.
Ein Unternehmer, der Subunterneh-
men mit der Auslieferung beauftragt,
haftet, wenn diese die Sozialversiche-
rungsbeiträge nicht ordnungsgemäß
abführen.

Außerdem hatte die Bundesregie-
rung 2019 das Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetz verschärft. Neben
einer Aufstockung der Finanzkontrol-
le Schwarzarbeit (FKS) gibt das Ge-
setz den Ermittlern zusätzliche Kom-
petenzen. Sie können etwa auch auf
dem sogenannten „Arbeiterstrich“
kontrollieren, noch bevor die Tage-
löhner auf einer Baustelle oder an-
derswo eingesetzt werden.
In den Jahren 2017 und 2018 hatten
die Schwarzarbeitbekämpfer des
Zolls Fälle mit einem Schadenvolu-
men von insgesamt rund 1,8 Milliar-
den Euro aufgedeckt. Gewerkschaf-
ten und Opposition kritisieren aber,
dass die Kontrolldichte immer noch
viel zu niedrig ist, um Schwarzarbeit
oder illegaler Beschäftigung wirksam
begegnen zu können.
Zunehmen könnte die Schatten-
wirtschaft nach Einschätzung von
Schneider und Boockmann durch die
Wiedereinführung der Meisterpflicht
in zwölf derzeit zulassungsfreien
Handwerksberufen, darunter Parkett-
und Fliesenleger oder Raumausstat-
ter. Zwar betrifft die Verschärfung
nur Neugründungen. Die Ökonomen
erwarten trotzdem, dass die Schwarz-
arbeit bis Ende 2022 dadurch um ei-
ne Milliarde Euro zunehmen könnte.
Dagegen hat der zu Jahresbeginn von
9,19 auf 9,35 Euro angehobene Min-
destlohn aus ihrer Sicht kaum Aus-
wirkungen.
Im Vergleich von 20 ausgewählten
Industrieländern liegt Deutschland
bei der Schattenwirtschaft mit einem
Anteil von 9,1 Prozent an der Wirt-
schaftsleistung im Mittelfeld. Am
niedrigsten ist der Anteil mit 4,8 Pro-
zent in den USA, während in Grie-
chenland jeder fünfte Euro im Schat-
tenreich erwirtschaftet wird.

Schattenwirtschaft


Schwarzarbeit


geht weiter zurück


Der Konjunkturabschwung könnte aber die Trendwende bringen.


Tesla-Rodungsstopp


Zweifel an


Klagebefugnis


für Natur -


schützer


Dietmar Neuerer Berlin


I


m Streit um den Rodungsstopp
auf dem Tesla-Gelände in Grün-
heide bei Berlin geraten nun Na-
turschützer aus Bayern in den Fokus
der Politik. Konkret geht es um den
„Verein für Landschaftspflege und Ar-
tenschutz in Bayern“ (VLAB). Dieser
geht wie die „Grüne Liga Branden-
burg“ gerichtlich gegen die Baumfäl-
lungen vor. Aus Sicht des SPD-Rechts-
politikers Johannes Fechner sei jedoch
bei dem Verein zu bezweifeln, „dass
Klimawandel-Leugner und Energie-
wende-Gegner wirklich Umwelt-
schutzinteressen vertreten“.
Das Umweltbundesamt solle des-
halb prüfen, ob der VLAB „tatsächlich
noch die Kriterien für die Klagebe-
rechtigung erfüllt“, sagte Fechner dem
Handelsblatt. Denn das geplante Tesla-
Werk schaffe in Brandenburg „nicht
nur zukunftssichere Arbeitsplätze,
sondern ist ein Meilenstein für die kli-
mafreundliche Verkehrswende“.
Der Verein aus Bayern hatte im Frei-
staat 2015 und dann im Januar 2019
vom Umweltbundesamt die Anerken-
nung als Umwelt- und Naturschutz -
vereinigung erhalten. Damit hat er
Verbandsklagerecht und kann bundes-
weit bei Bau- und Infrastrukturprojek-
ten gegen Genehmigungsbescheide
klagen, was sonst nur direkt Betroffe-
nen wie Anwohnern möglich ist.
Dasselbe gilt für die „Grüne Liga“,
die vor dem Oberverwaltungsgericht
(OVG) Berlin-Brandenburg einen vor-
läufigen Rodungsstopp erwirkt hatte.
Der Umweltverband hält die Erlaub-
nis für den vorzeitigen Rodungsbe-
ginn für rechtswidrig, weil die endgül-
tige Genehmigung noch ausstehe. Die
Brandenburger Landesregierung geht
davon aus, dass die Gerichtsentschei-
dung noch in dieser Woche vorliegt.
Bisher war geplant, das Waldstück
südöstlich von Berlin bis Ende Febru-
ar zu roden. Tesla will in Grünheide
ab dem nächsten Jahr rund 500 000
Elektrofahrzeuge im Jahr herstellen.
Der US-Elektroautobauer will in der
Fabrik bis zu 12 000 Menschen be-
schäftigen. Zum Vergleich: Momentan
beschäftigt der Konzern rund 5 500
Menschen europaweit.
Auch der Grünen-Politiker Dieter
Janecek zog die Klagebefugnis des
Vereins aus Bayern in Zweifel. Richtig
sei zwar, dass jeder Investor den
Rechtsweg einhalten müsse, sagte
Janecek mit Blick auf das umwelt-
rechtliche Genehmigungsverfahren
im Fall Tesla. „Problematisch ist es,
wenn unter dem Vorwand des Natur-
schutzes ein in Teilen der AfD nahe-
stehender Verein aus Bayern heraus
systematisch Projekte der Energie-
wende und ökologischer Infrastruk-
tur blockiert.“
Der VLAB-Vorsitzende Johannes
Bradtka wies die Vorwürfe zurück.
„Die Unterstellung von Herrn Janecek
ist unwahr und eine Beleidigung. Wir
haben uns nie und werden uns auch
nicht in Zukunft von politischen Par-
teien instrumentalisieren lassen“, sag-
te er dem Handelsblatt.
Der Verein ist bisher insbesondere
durch Aktionen gegen Windkraft auf-
gefallen. Er engagiert sich zudem ge-
meinsam mit der „Initiative Vernunft-
kraft“ gegen die Energiewende.


Arbeitsplatz einer
Prostituierten:
Im Schattenreich. © Okapia/imageBROKER/Jan Tepass

Seit 2009 ist


die Schatten -


wirtschaft in


Deutschland


kontinuier -


lich zurück -


gegangen.


Friedrich Schneider
Universität Linz

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
10


Sozialpolitik

SPD bringt die Grundrente durch das Kabinett


Die GroKo hat die Grundrente
beschlossen. Für die SPD ist
das ein großer Erfolg. Die
Union zieht mit – trotz Kritik
aus den eigenen Reihen.

Gregor Waschinski Berlin

H


ubertus Heil hatte sich Ver-
stärkung mitgebracht. Nach
dem Kabinettsbeschluss zur
Grundrente stellte sich der SPD-Sozi-
alminister zusammen mit zwei Uni-
onskollegen vor die Kameras. Die
Präsenz von Gesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) und Innenminister
Horst Seehofer (CSU) sollte deutlich
machen: Die Große Koalition steht
hinter dem Gesetz. Die Leistung für
langjährige Geringverdiener sei „ein
sozialpolitischer Meilenstein“, sagte
Heil. Seehofer sprach von einem
„Baustein, der in unserem Sozialstaat
noch gefehlt hat“. Und Spahn erklär-
te: „Dieser Kabinettsbeschluss zeigt,
dass diese Koalition arbeitet.“
Insgesamt nehme er in der Union
eine „sehr, sehr hohe Zustimmung“
wahr, so der Gesundheitsminister.
Hinter der Grundrente stünden nicht
nur Kanzlerin Angela Merkel, Frakti-
onschef Ralph Brinkhaus und die
scheidende Parteivorsitzende Anne-
gret Kramp-Karrenbauer. Der „breite

Konsens“ umfasse auch Armin La-
schet und Friedrich Merz, führte der
Gesundheitsminister aus, der sich
wie Merz und Laschet Hoffnungen
auf den CDU-Vorsitz und die Kanzler-
kandidatur der Union macht. Von
der Seite ruft Seehofer dazwischen:
„Und auch Norbert Röttgen.“ Geläch-
ter. Der CDU-Politiker Röttgen ist die-
se Woche ebenfalls in den Kampf um
die Nachfolge von Annegret Kramp-
Karrenbauer eingestiegen.
Das Signal von Spahn und Seeho-
fer an die Grundrenten-Kritiker in
den eigenen Reihen ist klar: Das Ge-
setz kommt, auch wenn sich die SPD
mit ihren Vorstellungen bei der neu-
en Sozialleistung weitgehend durch-
setzen konnte. Der Wirtschaftsflügel
der Union macht seinem Ärger aber
weiter Luft. „Es gibt einen breiten
Konsens, dass wir eine Grundrente
machen wollen“, sagte Carsten Lin-
nemann, Fraktionsvize und Chef der
Mittelstands-Union, dem Handels-
blatt. „Aber zum Wie gibt es noch
viele offene Fragen und ungelöste
Probleme.“ Die Einzelheiten der Fi-
nanzierung seien ebenso wenig ge-
klärt. „Wenn man ehrlich ist, sind fast
alle Bedingungen der CDU nicht er-
füllt“, so Linnemann. Auch im Parla-
mentskreis Mittelstand der Unions-
fraktion ist dem Vernehmen nach die
Unzufriedenheit noch immer groß.

Die Sozialdemokraten feierten die
Grundrente dagegen als Erfolg. „Die
Beharrlichkeit der SPD hat sich ge-
lohnt“, sagte Fraktionschef Rolf Müt-
zenich. Und seine für Rentenpolitik
zuständige Stellvertreterin, Katja
Mast, erklärte: „Die Grundrente sorgt
bei denjenigen für höhere Renten,
die sie sehr dringend brauchen: Men-
schen, die ein Leben voller Arbeit mit
kleinen Löhnen gelebt haben.“ Auch

weitere „politische Störfeuer“ wür-
den das Gesetz nicht aufhalten.
Die Grundrente soll so funktionie-
ren: Niedrige Rentenansprüche nach
einem langen Arbeitsleben sollen auf-
gewertet werden. Erste Zuschläge sol-
len nach 33 Jahren der Beitragszah-
lung, Kindererziehung oder Pflege
gezahlt werden, bei 35 Jahren errei-
chen sie die volle Höhe. Die Renten-
versicherung soll bei allen Rentnern
automatisch prüfen, ob sie Leistun-
gen aus der Grundrente erhalten – es
müssen also keine Anträge gestellt
werden. Die Bundesregierung geht
von 1,3 Millionen Beziehern kleiner
Renten aus, die so ab 2021 besserge-
stellt werden. Eine Einkommensprü-
fung soll den Kreis der Begünstigten
einschränken – allerdings hat der Ge-
setzentwurf gerade in dieser Frage
noch einige offene Flanken.
Ob die Grundrente ab dem 1. Janu-
ar 2021 ausgezahlt wird, ist fraglich.
Die Deutsche Rentenversicherung er-
klärte, viele der im Gesetzgebungs-
verfahren kritisierten Probleme wür-
den „nach wie vor bestehen“. Die
Fachbehörde erwartet erheblichen
Verwaltungsaufwand, der schnelle
Aufbau eines Datenaustausches mit
den Finanzämtern sei unrealistisch.
Den Zeitplan für die Umsetzung der
Grundrente sehe man „sehr kri-
tisch“, so die Behörde.

Ministertrio Seehofer,
Heil und Spahn (v.l.):
Die Große Koalition
feiert sich für den
Kompromiss bei der
Grundrente.

HCPlambeck


 





 





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Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
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