Handelsblatt - 20.02.2020

(Ann) #1

Krankenversorgung


Gefährliche Schwachstelle


Chinas Gesundheitssystem ist


nicht erst seit dem Ausbruch


des Coronavirus überfordert.


Experten mahnen


Verbesserungen an.


Dana Heide Peking


C


hina ist in den vergangenen
Jahren zu einer globalen Wirt-
schaftsmacht aufgestiegen.
Doch das Gesundheitssystem hielt mit
der wirtschaftlichen Entwicklung
nicht mit. Der Ausbruch des Coronavi-
rus setzt es seit Wochen zusätzlich un-
ter Druck. Inzwischen sind mehr als
2 000 Menschen in China an dem Vi-
rus gestorben – im Ausland waren es
fünf. 74 000 Menschen sind infiziert.
Am Dienstag starb mit Liu Zhi-
ming, Chef des Wuchang Hospitals in
Wuhan, der erste Leiter eines speziell
auf die Behandlung des neuartigen
Krankheitserregers ausgerichteten
Krankenhauses. Wuhan ist das Epi-


zentrum des neuen Coronavirus. Zhi-
ming ist bereits der siebte Mediziner,
der dem Virus erlegen ist. Laut offi-
ziellen Zahlen der chinesischen Ge-
sundheitsbehörde haben sich mehr
als 1 700 medizinische Fachkräfte mit
dem Virus infiziert.
Im Kampf gegen den Krankheitser-
reger arbeiten die Mediziner häufig
rund um die Uhr. Chinesische Staats-
medien zeigen Fotos des erschöpft
aussehenden medizinischen Perso-
nals, viele Helfer haben durch die
Atemschutzmasken wunde Stellen im
Gesicht. Das medizinische Personal
wird von vielen Seiten gelobt für sei-
nen enormen Einsatz und die Ernst-
haftigkeit, mit der es seiner Arbeit
nachgeht. Auf der anderen Seite zeigt
sich aber auch: Ärzte, Kranken-
schwestern und -pfleger sind überfor-
dert und häufig nicht ausreichend für
ihre Aufgaben ausgebildet.

Zu wenig ausgebildetes
medizinisches Personal
„Der Coronavirus-Ausbruch hat ge-
zeigt, dass China ein großes Problem
mit seinem medizinischen Personal
hat“, sagt Maike Voss, Leiterin eines
Projekts zu globaler Gesundheitspoli-
tik bei der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP). „Es gibt viel zu wenig
und viel zu schlecht ausgebildetes
Gesundheitsfachpersonal.“ Laut den
aktuellsten Vergleichszahlen der
OECD kamen in China im Jahr 2017
auf 1 000 Einwohner 2,7 Kranken-
schwestern und -pfleger sowie zwei
Ärzte. In Deutschland waren es in
demselben Jahr 12,9 Krankenschwes-
tern und -pfleger sowie 4,3 Ärzte.
Schon jetzt sind weitaus mehr
Menschen an dem Krankheitserreger
in China gestorben als bei der Sars-
Epidemie. Dennoch lobt die Weltge-
sundheitsorganisation (WHO) China
immer wieder für das Management
der Krise. „Die WHO lobt das Vorge-
hen Chinas vor allem deswegen, um
Informationskanäle aufrechtzuerhal-
ten“, sagt Gesundheitsexpertin Voss.
Das sei im Umgang mit gesundheitli-
chen Notlagen internationaler Trag-
weite essenziell, um das Virus einzu-
dämmen, die Bevölkerung zu schüt-
zen und auch, um negative
ökonomische Auswirkungen zu min-
dern. „Nichtsdestotrotz steht der Vor-
wurf im Raum, China habe spät an

die WHO gemeldet und noch später
die eigene Bevölkerung informiert“,
so Voss.
Für heftige Kritik hatte der Um-
gang mit dem chinesischen Arzt Li
Wenliang gesorgt. Der Mediziner
wurde zunächst bestraft und mund-
tot gemacht, als er im Dezember vor
dem neuen Coronavirus gewarnt hat-
te. So wurden Maßnahmen zur Prä-
vention erst im Januar ergriffen, als
sich das Virus schon ausbreiten
konnte. „China ist nicht der Ort, an
dem man der Macht die Wahrheit
sagt, und alle danken Ihnen dafür“,
sagt Richard McGregor, Senior Fellow
an der Denkfabrik Lowy Institute in
Sydney. Auch während der Sars-Krise
seien Whistleblower nicht anerkannt
worden. Das chinesische System sei
zwar grundsätzlich fähig zu Transpa-
renz, „aber es scheint, dass es immer
ein bisschen zu spät ist“. Anfangs sei
das Problem vertuscht worden.
Ein Problem bei der frühzeitigen
Bekämpfung eines Virus ist auch die
zentralistisch ausgelegte Krankenver-
sorgung in China. So müssen Patien-
ten oft viele Kilometer zurücklegen,
bis sie in einer Klinik ankommen – in
der Zeit können sie andere Menschen
anstecken. Die Qualitätsunterschiede
zwischen Krankenhäusern auf dem
Land und in den Städten ist zudem
laut Experten groß. „In den letzten
Jahren sind medizinische Ressour-
cen, insbesondere hochwertige medi-
zinische Ressourcen, übermäßig in
die Städte und nicht in ländliche Ge-
biete verlagert worden“, sagte Wen
Tiejun, geschäftsführender Dekan

des Institute of Advanced Studies of
Sustainability der Renmin-Universi-
tät, der Zeitung „Beijing News“. Da-
bei waren es gerade diese Einrichtun-
gen, die während des Ausbruchs des
Virus unter Druck standen, denn vie-
le Arbeitsmigranten hatten über das
chinesische Neujahrsfest ihre Famili-
en auf dem Land besucht.
Experten fürchten, dass das neuar-
tige Coronavirus in dieser oder ande-
rer Form zurückkehren wird, und
fordern deswegen, dass China sein
Gesundheitssystem verbessert. Der-
zeit gibt der chinesische Staat im Ver-
gleich zu höher entwickelten Län-
dern wie Deutschland nur einen
Bruchteil für die medizinische Ver-
sorgung seiner Bevölkerung aus.
„Es wird nicht der letzte Ausbruch
eines Coronavirus in China oder in
anderen Teilen der Welt sein“, warnt
Gesundheitsexpertin Voss. Umso
wichtiger sei es, dass Länder mit ho-
hem Risiko, also die Länder mit
schwachen Gesundheitssystemen,
besser auf diese Fälle vorbereitet sei-
en.

Neues Leishenshan-Krankenhaus in Wuhan: Pflegekräfte im Dauereinsatz.

ROPI

„Es gibt viel


zu wenig


und viel zu


schlecht


ausgebildetes


Gesundheits -


fachpersonal.“


Maike Voss
Gesundheitsexpertin
bei der Stiftung
Wissenschaft und
Politik

2


ÄRZTE
gibt es in China pro 1 000 Einwoh-
ner. In Deutschland sind es mit
durchschnittlich 4,3 Ärzten mehr
als doppelt so viele.

Quelle: OECD

  


   

   
   
   

 








  


Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
12


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A


uf der Münchner Sicherheitskonferenz prallten
jüngst zwei Welten aufeinander. Empört wies US-
Außenminister Mike Pompeo den Vorwurf von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zurück,
Washington habe sich vom Multilateralismus verab-
schiedet und der Idee einer internationalen Gemeinschaft „eine
Absage erteilt“. In Wirklichkeit, konterte Pompeo, verzichte
Amerika weder auf Führung noch befinde sich der westliche
Multilateralismus in einer Krise. Im Kampf der Systeme garan-
tierten vielmehr gerade die USA, dass „der Westen gewinnt“.
Pompeos verbaler Triumphalismus kann indes über eine fun-
damentale Erkenntnis nicht hinwegtäuschen: Schon seit gerau-
mer Zeit stecken die USA in einem Dilemma. Will Amerika im
Zeichen des globalen ökonomischen Wettbewerbs seine eigenen
Ressourcen nicht überstrapazieren, kann es nur noch eine seiner
zwei traditionellen Rollen spielen: entweder Schutzmacht der li-
beralen Weltordnung bleiben oder seine Stellung als weltweit
führende Volkswirtschaft verteidigen. Ausdruck dieses Dilemmas
ist die weitverbreitete Furcht vor einem „imperial overstretch“,
die Sorge vor einer imperialen Überdehnung.
Deshalb zieht Washington sich verstärkt aus internationalen
Abkommen zurück, stellt Bündnisse infrage und richtet seine
Politik zunehmend auf die asiatischen Herausforderungen aus.
Dieser Prozess hat lange vor Donald Trumps Amtsantritt begon-
nen – und wird über seine Präsidentschaft hinaus Bestand ha-
ben. Denn globale politisch-militärische Verantwortung ist für
die USA angesichts des geopolitischen Richtungswechsels kein
Vorteil mehr, sondern ein Nachteil. Die transatlantischen Bezie-
hungen jedenfalls werden nie mehr so werden, wie sie einmal
waren.
Den USA ist längst aufgegangen, dass sie eine „pazifische Na-
tion“ sind – eine Formulierung, die sowohl George W. Bush als
auch Barack Obama während ihrer Präsidentschaften gern be-
nutzten. Schon 2007 schrieb der damalige Präsidentschaftskan-
didat Obama, er würde „die Bündnisse, Partnerschaften und In-
stitutionen umgestalten, die zur Bewältigung gemeinsamer Be-
drohungen und zur Verbesserung der gemeinsamen Sicherheit
notwendig sind“ und in diesem Zusammenhang auch „neue
Bündnisse und Partnerschaften in anderen wichtigen Regionen
aufbauen“. Verbindungen und Allianzen, die seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang die „westliche Welt“ prägten,
waren eben nie in Stein gemeißelt. Das gilt umso mehr für die
Welt des 21. Jahrhunderts, in der die beiden geopolitischen An-
tipoden USA und China die internationale Bühne dominieren.
Anders als Trump wusste Obama jedoch: Die Prioritäten-
verschiebung der US-Politik würde ein Machtvakuum
schaffen, das mit neuen Verträgen und Partnerschaften
gefüllt werden wollte. Trump hält das alles für überflüs-
sig. Für ihn ist die Welt nur eine Arena, in der sich der
Stärkere durchsetzt.
Mit dieser vulgärdarwinistischen Sicht der Dinge
setzt der US-Präsident allerdings etwas Einzigar-
tiges aufs Spiel: Bislang hatten die Vereinigten
Staaten westliche Partner, Alliierte und Freun-
de. Erst die Fähigkeit zu Bündnissen und
dauerhaften Allianzen multiplizierte ja die
Kraft und Macht der USA. Autoritäre Staa-
ten wie China und Russland hingegen ken-
nen keine Partner und erst recht keine
Freunde. In ihrer Geopolitik geht es allein

um den Sieg, es gibt nur Gewinner und Verlierer. Unter Trump
haben die USA einen vergleichbaren Kurs eingeschlagen.
Europa sieht sich also mit einem gefährlichen Verständnis von
Politik konfrontiert – aus Sicht der USA, Chinas und Russlands
sind alle anderen Staaten bestenfalls noch strategische Manö-
vriermasse. Gleichzeitig legt die erodierende Nachkriegsordnung
schonungslos die Schwächen des alten Kontinents offen: Weil die
Rolle der USA, den Westen zu schützen, viel zu lange als „natur-
gegeben“ angesehen wurde, ist Europa heute nicht in der Lage,
auf der politischen Weltbühne eine tragende Rolle zu spielen.
Das gilt auch für die digital getriebene Weltwirtschaft. Weder
der Europäischen Union noch ihren Einzelstaaten ist es bislang
gelungen, eigene Strategien für die zwei gegenläufigen Mega-
trends unserer Zeit zu entwickeln: Einerseits bewirkt das global
orientierte Wachstumsstreben der großen Tech-Konzerne eine
Harmonisierung des gesamten Wirtschaftsraums. Andererseits
aber führt die Strategie chinesischer Konzerne zu einer Polarisie-
rung des Tech-Sektors, wie die Kontroverse um Huawei und die
geplante Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G zeigt.
Europa ist in diesem Spannungsfeld als Gestalter und Einfluss-
nehmer mehr oder weniger bedeutungslos.
So formuliert der US-Internetkonzern Facebook inzwischen
den Anspruch, auf der Grundlage gewaltiger Nutzerzahlen und
Datenakkumulationen eine neue Weltwährung zu schaffen. Das
chinesische Unternehmen Alibaba wiederum hat den größten
globalen Zahlungsdienst und die weltweit bedeutendste Han-
delsplattform für Geschäfte zwischen Unternehmen (B2B) aufge-
baut. Der alte Kontinent aber steht bloß am Spielfeldrand.
In der digitalen Weltwirtschaft hat Europa sich zur reinen An-
wendergesellschaft degradieren lassen, deren Wahlmöglichkei-
ten darauf beschränkt sind, sich zwischen verschiedenen Pay-
ment- oder Cloudlösungen zu entscheiden. Der Preis dafür ist
hoch: Er wird bezahlt mit einem Verlust an Autonomie, Sicher-
heit und gesunkener außenpolitischer Bedeutung. Denn die glo-
bale Relevanz Deutschlands und Europas leitet sich heute eben
nicht mehr in erster Linie aus dem humanistischen Erbe, den Er-
rungenschaften der Aufklärung und den Integrationsleistungen
nach zwei Weltkriegen ab. Globale Bedeutung basiert jetzt vor al-
lem auf wirtschaftlicher Stärke. Weder der technologische Har-
monisierungs- noch der geopolitische Polarisierungsprozess
spielt Europa in die Karten.
Wir glauben zwar an die europäische Idee und daran, dass
statt Konflikt und Abschreckung Kooperation und gegenseitiger
Respekt die Grundlage für Frieden und Wohlstand bilden. Wir
glauben auch an Bündnisse und Verträge. Doch genau hier be-
ginnt unser großes Dilemma: Europa kann die Welt nur nach sei-
nen Prinzipien und Vorstellungen verändern, wenn es die globa-
le Realität des politischen Machtkampfs und das Hegemoniestre-
ben in der digital getriebenen Weltwirtschaft anerkennt – mithin
seine Rolle als Akteur in einem Spiel sucht, das der alte Konti-
nent eigentlich verachtet.
Zugespitzt formuliert: Europa muss bei der Durchsetzung sei-
ner Interessen amerikanischer werden. Und die USA müssen ih-
re europäischen Wurzeln wiederentdecken. Es wird keine unila-
teralen Antworten mehr geben auf die Klimakrise, wirtschaftli-
che Disruption, Migrationsbewegungen und mögliche globale
Rezessionen. Die Verschiebungen in der weltweiten Machttekto-
nik haben das Spiel „bowling alone“ auf beiden Seiten des Atlan-
tiks in ein gefährliches Abenteuer verwandelt. Trotz Trump müs-
sen die USA und Europa wieder erkennen, dass ihre grundsätz-
lichen Gemeinsamkeiten viel tiefer wurzeln als die zahllosen
oberflächlichen Unterschiede. Wir mögen oft das Problem des je-
weils anderen sein. Doch viel öfter noch könnten wir gemeinsam
die Lösung finden.

Global Challenges
ist eine Marke der
DvH Medien.
Das neue Institut möchte
die Diskussion geopoliti-
scher Themen durch
Veröffentlichungen aner-
kannter Experten voran-
treiben. Die derzeitigen
Autoren sind:

Prof. Dr. Ann-Kristin
Achleitner:
Co-Direktorin des Center
for Entrepreneurial and
Financial Studies (CEFS)
an der TU München und
Mitglied in zwei Konzern-
Aufsichtsräten

Sigmar Gabriel:
ehemaliger Außen-, Wirt-
schafts- und Umweltmi-
nister und Vorsitzender
der Atlantik-Brücke e. V.

Günther Oettinger:
Ehemals Ministerpräsi-
dent von Baden-Würt-
temberg und EU-Kom-
missar für Haushalt, Digi-
tale Gesellschaft, Wirt-
schaft, Energie

Prof. Dr. Volker Perthes:
Direktor der Stiftung
Wissenschaft und Politik
(SWP) in Berlin

Prof. Dr. Jörg Rocholl:
Präsident der internatio-
nalen Wirtschafts -
hochschule ESMT Berlin
und stellvertretender
Vorsitzender des Wissen-
schaftlichen Beirats
beim Bundesministerium
der Finanzen

Prof. Dr. Bert Rürup:
Ehemals Vorsitzender
des Sachverständigen rats
und derzeitiger Cheföko-
nom des Handelsblatts

Prof. Dr. Renate
Schubert:
Hochschul lehrerin für
National ökonomie an der
ETH Zürich und am
Singapore ETH-Centre

Frank Sieren:
Journalist, Korrespon-
dent, Dokumentarfilmer
und Buchautor in China

Moment/Getty Images,

Sigmar Gabriel: „In der digitalen Weltwirt-
schaft hat Europa sich zur reinen Anwen-
dergesellschaft degradieren lassen.“

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Global Challenges


Europa muss


amerikanischer werden!


Die Welt sortiert sich neu. Der alte Kontinent sollte jetzt aus Fehlern lernen, um mit


gestärktem Selbstbewusstsein auf die weltpolitische Bühne zu treten. Von Sigmar Gabriel


Aus Sicht der USA, Chinas
und Russlands sind alle
anderen Staaten bestenfalls
strategische Manövriermasse.

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
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