Handelsblatt - 20.02.2020

(Ann) #1
„Unsere Auffassung bleibt: Es muss der erste
Wahlgang passen mit einer demokratischen
Mehrheit. Sonst stellen wir Bodo Ramelow
nicht zur Wahl. “
Susanne Hennig-Wellsow, Fraktions- und Landeschefin der Linken,
zur Frage, wie verhindert werden kann, dass Bodo Ramelow mit
AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt werden könnte.

Worte des Tages


Großbritannien


Neue Worte,


alte Botschaft


E


s ist keine zwei Jahre her,
dass Boris Johnson – damals
noch als britischer Außenmi-
nister – mit dem Spruch „F*** busi-
ness“ Schlagzeilen machte. Heute,
als Premierminister, formuliert er
dieselbe Aussage ein bisschen mo-
derater: „Unternehmen müssen
sich anpassen.“ So steht es zumin-
dest in dem Entwurf für das neue
Einwanderungssystem, das Groß-
britannien ab 2021 anwenden will.
Künftig sollen nur Einwanderer
zugelassen werden, die eine Reihe
von Kriterien erfüllen: Sie müssen
Englisch können, einen gut bezahl-
ten Job in Aussicht haben und gut
ausgebildet sein. Bevorzugt behan-
delt werden Zuwanderer aus Sekto-
ren, in denen nach offizieller Ein-
schätzung Arbeitskräftemangel
herrscht. Die Absicht dieses Anfor-
derungskatalogs ist klar: Nur quali-
fizierte Arbeitskräfte sollen auf die
Insel kommen – und nicht mehr so
viele Menschen wie bisher. EU-Bür-
ger werden nicht mehr bevorzugt
behandelt, die von der EU aufge-
zwungene Freizügigkeit endet.
Einmal mehr demonstriert die Re-
gierung damit, dass sie bereit ist,
auf Kosten der Wirtschaft für den
Brexit Opfer zu bringen. In Zeiten,
in denen auf der Insel volkswirt-
schaftlich gesehen Vollbeschäfti-
gung herrscht – die Arbeitslosen-
quote liegt bei 3,8 Prozent –, melden
Unternehmen verständlicherweise
Zweifel an, dass sie zukünftig noch
genügend Mitarbeiter finden wer-
den. Wer soll künftig in London den
Coffee to go ausschenken, in Man-
chester die Hotelzimmer reinigen
oder in Shropshire Rinder schlach-
ten? Bei einem Teil der Wähler stößt
das geplante Gesetz aber auf Ap-
plaus. Boulevardmedien feiern den
Vorstoß als „Revolution“. Boris
Johnson hat also sein Ziel erreicht.
Er verfolgt schließlich keine Politik,
die der Wirtschaft zusagt – zumin-
dest nicht, wenn er damit nicht bei
(Pro-Brexit-)Wählern punkten kann.
Der Gesetzesvorschlag sollte deswe-
gen Unternehmen eine Warnung
sein: Wenn sie nicht Teil einer Bran-
che sind, die Johnsons Regierung
fördern will – wie etwa die Techno-
logiebranche –, dann müssen sie
sich auf harte Zeiten einstellen.


Das neue Einwanderungssystem
der britischen Regierung sollte
manchen Unternehmen eine
Warnung sein, meint Kerstin Leitel.


Die Autorin ist Korrespondentin in
London.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


A


n der Zähmung des Bruttoinlandspro-
dukts (BIP) als einziger Messgröße für
die Wohlstandsentwicklung haben sich
schon viele Ökonomen versucht. Meist
mit mäßigem Erfolg wie zuletzt 2013 ei-
ne Enquete-Kommission des Bundestags. Noch jedes
Mal behauptete sich das BIP als Platzhirsch unter
den Maßen für die Entwicklung der Wirtschaft.
Jetzt versucht die „Global Solutions Initiative“, ein
Zusammenschluss von Forschern unter Leitung des
früheren IfW-Präsidenten Dennis Snower, einmal
mehr, die Übermacht des BIP einzuhegen. Der Vor-
schlag ist besser gelungen als frühere Initiativen.
Denn er will dem BIP gar nicht seine Bedeutung als
volkswirtschaftliche Messgröße nehmen, sondern
ihm weitere Indikatoren zur Seite stellen. Es geht da-
rum, ökonomischen und sozialen Fortschritt zusam-
menzufügen: Denn sie hätten sich in den letzten
Jahrzehnten entkoppelt, argumentiert Snower.
Allerdings: Wenn man sich das Ergebnis anschaut,
so verkoppeln die Forscher das BIP gerade nicht mit
ihren neuen Indizes für „individuelle Handlungsfä-
higkeit“ und „soziale Solidarität“, mit denen sie
künftig die Entwicklung in 35 Industriestaaten mes-
sen und vergleichen wollen. Die neuen Indizes ste-
hen schlicht neben dem BIP und dem ebenfalls be-
kannten EPI-Umweltindex.
Snower folgt damit der aktuellen Mode, den Nut-
zern seiner Forschung ein „Dashboard“ anzubieten:
Wie beim Armaturenbrett im Auto stehen die Mess-
instrumente für unterschiedliche Informationen un-
verbunden nebeneinander. Die Erweiterung des BIP
besteht also nur in der Aufforderung an die Regie-
rungen der G20-Staaten, doch bitte das ganze Arma-
turenbrett im Blick zu behalten und nicht nur auf
den Tacho, das BIP, zu starren.
Der große Vorteil der Dashboard-Methode ist, dass
riesige Datenmengen aus unterschiedlichen Berei-
chen eben nicht so lange zusammengerührt werden,
bis endgültig unklar geworden ist, was sie eigentlich
messen sollten. Ein Beispiel für einen solch unver-
daulichen Mix ist der Happy-Planet-Index der briti-
schen New Economics Foundation, der seit 2006
subjektives Wohlbefinden, Lebenserwartung und
ökologischen Fußabdruck so lange zusammenrührt,
bis am Ende Menschen in eher armen, aber warmen
Ländern wie Costa Rica besonders glücklich ab-
schneiden – weil sie, was stark gewichtet wird, weni-
ger Energie verbrauchen als die nach allen anderen
Methoden führenden Skandinavier.
Der Vorteil der Snower-Methode, die Kategorien
materieller Reichtum, soziale Einbindung, individu-
elle Befähigung und Umweltentwicklung sauber ge-

trennt zu halten, hat allerdings auch Nachteile. Vor
allem jenen, dass vier Indizes nebeneinander für 35
Staaten ziemlich unübersichtlich sind. Es wird den
meisten Politikern deshalb vermutlich schwerfallen,
mit den Ergebnissen zu arbeiten. Snowers Dash -
board könnte es deshalb ähnlich ergehen wie den
17 UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung: Ob und
wie wirklich Wohlstand wächst, geht in der Index-
Sammlung unter.
Bei den nur vier Indizes der Snower-Gruppe ist
diese Gefahr zumindest geringer als bei den UN. Ver-
daulicher werden sie jedoch, wenn man sie gerade
nicht zusammen ansieht, sondern erst einmal jeden
Indikator einzeln betrachtet. So ist es ein großes Ver-
dienst, dass Snower einen Indikator entwickelt hat,
der „soziale Solidarität“ misst, sich also mit Famili-
en- und Freundesnetzen und deren Tragfähigkeit in
verschiedenen Ländern befasst. Auch die Möglich-
keiten, als Individuum sein (Berufs-)Leben gestalten
zu können, verdient schon lange einen eigenen Indi-
kator. Die Verbindung dieser neuen Indikatoren zum
BIP wird allerdings eine sehr lockere bleiben: Es
wird schlicht Unterschiedliches gemessen.
Die Aussage des Forschungsprojekts ist deshalb ei-
gentlich viel einfacher, als sie daherkommt: Sozialer
Fortschritt ist genauso wichtig wie ökonomischer Fort-
schritt. Wem soziale Bindung fehlt, wer den Verlust
der Kontrolle über sein Leben verspürt, wird anfällig
für Propaganda von Populisten – egal, ob das BIP, und
darin womöglich sogar das eigene Gehalt, steigt.
Unterm Strich sagt die Snower-Gruppe also nichts
anderes, als dass die G20-Regierungen im letzten
Vierteljahrhundert zu sehr auf das Wirtschafts-
wachstum fixiert waren und die soziale Entwicklung
der Gesellschaften sträflich vernachlässigt haben. De
facto lassen die Forscher, anders als sie es sagen, das
BIP vollkommen in Ruhe und eigentlich sogar außer
Acht. Was gut ist: Denn als Messgröße für den mate-
riellen Reichtum einer Volkswirtschaft ist es ja
durchaus geeignet.
Das Dashboard richtet sich in Deutschland damit
eher an den Arbeits- und Sozialminister und den
Heimatminister als an den Wirtschaftsminister. Folgt
man Snower, müssten Hubertus Heil und Horst See-
hofer künftig vor allem den Zusammenhalt vor Ort
fördern und die Bürger befähigen, sich im digitalen
Wandel zurechtzufinden. Vielleicht motivieren die
neuen Indizes ja die Koalition, diese nicht ganz neu-
en Erkenntnisse in Politik umzusetzen.

Wohlstandsmessung


Das BIP ist nicht das


Maß aller Dinge


Ökonomen
starten einen
neuen Versuch,
Wirtschaft und
Soziales zu
versöhnen. Er ist
besser als seine
Vorgänger, meint
Donata Riedel.

Sozialer


Fortschritt ist


genauso


wichtig wie


ökonomischer.


Wem soziale


Bindung


fehlt, wer den


Verlust der


Kontrolle über


sein Leben


verspürt, wird


anfällig für


Populisten.
Die Autorin ist Hauptstadt-Korrespondentin in
Berlin. Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
14


„Ich möchte ein digitales
Europa, das das Beste
Europas widerspiegelt: offen,
fair, vielfältig, demokratisch und
selbstbewusst. “
Ursula von der Leyen, EU-Kommissionschefin,
will die EU fit für den Wettbewerb mit den USA
und China machen.

„Wir müssen verhindern,
dass Personaldebatten
die Sacharbeit in den
nächsten Wochen und
Monaten völlig überlagern. “
Peter Altmaier, Wirtschaftsminister, lehnt
eine Beteiligung der Parteibasis an dem
Prozess zur Besetzung des Chefpostens ab.

Stimmen weltweit


Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentiert den
Rodungsstopp auf dem Tesla-Gelände:

E


in Wirtschaftswunder lässt sich eben nicht
staatlich verordnen. Dass die Region mit
Tesla nun unverhofft eine neue Chance be-
kommt, das sehen aber offenbar nicht alle so. Ein
Grüppchen vermeintlicher Umweltschützer hat
beim Oberlandesgericht Berlin-Brandenburg er-
wirkt, dass Tesla die Rodung eines entsprechen-
den Waldstücks zunächst einstellen muss. Der ei-
gentliche Baubeginn kann sich damit um ein paar
Monate verzögern. Es ist nicht auszuschließen,
dass Tesla weitere Knüppel zwischen die Beine
geworfen werden. Unternehmen sind längst ein
beliebtes Feindbild in Deutschland geworden.
Die Vorkommnisse sind symptomatisch für ein
Land, das sich mittlerweile überschätzt. Stolz be-
treibt man Nabelschau, blickt auf die eigene Inge-
nieurskunst und seinen Titel als Exportweltmeis-
ter. Stolz verweist man auf die tiefe Arbeitslosen-
quote und eine sparsame Haushaltspolitik.
Bürger samt Kanzlerin schwelgen denn auch in
Selbstzufriedenheit; und dort, wo es nicht so gut
läuft, federt der Sozialstaat allfälliges Unwohlsein
ab. So lässt es sich in der Wohlstandsblase
Deutschland gut leben.

Die Londoner „Financial Times“ meint zu den
Verhandlungen über den EU-Haushalt:

A


us drei Gründen sind diese Verhandlun-
gen besonders nervenaufreibend. Der
EU-Austritt Großbritanniens – einer der
größten Netto-Beitragszahler – bedeutet für die
übrigen 27 Mitgliedstaaten, dass sie ein Haus-
haltsloch von jährlich ungefähr zehn Milliarden
Euro füllen müssen. Zugleich hat die Ausbreitung
von militantem Nationalismus und Anti-Estab-
lishment-Populismus sowohl in West- als auch in
Osteuropa proeuropäische Spitzenpolitiker und
Parteien der Mitte in die Defensive gebracht.
Und schließlich verstärken sich interne und ex-
terne Herausforderungen für Europa auf Gebie-
ten wie Hochtechnologien, Klimawandel, Ener-
gie, Verteidigung, Sicherheit und Migration. Aus
alldem ergibt sich zwingend die Aufgabe, die
Ausgabenprioritäten der EU auf eine Weise neu
zu fokussieren, wie das in den vergangenen 30
dpa (3) Jahren nicht geschehen ist.

Die belgische Zeitung „De Tijd“ beschäftigt sich
mit den Folgen der Covid-19-Epidemie in
China für die Weltwirtschaft:

W


ie groß die wirtschaftlichen Auswir-
kungen am Ende sein werden, lässt
sich vorläufig nicht absehen. Die
Faustregel lautet: je länger China durch Maßnah-
men gegen das Virus gelähmt wird, desto schwer-
wiegender die ökonomischen Folgen. Covid-19,
wie die Weltgesundheitsorganisation die durch
das Virus verursachte Lungenkrankheit nennt,
hat auf einmal das enge Netzwerk von Produkti-
on und Zulieferung von und nach China bloßge-
stellt. Obendrein gibt es ein zunehmendes logisti-
sches Problem, weil Flugzeuge und Schiffe das
asiatische Land immer öfter meiden. Scherzhaft
wurde China in den vergangenen Jahren als „die
Fabrik der ganzen Welt“ bezeichnet. Doch diese
Bezeichnung muss zum Teil wörtlich genommen
werden. Manche Abteilungen der Fabrik sind seit
Wochen geschlossen. Das Virus trifft die Globali-
sierung mit voller Wucht.

B


essere Behandlungsmöglichkeiten für Patienten
dank Telemedizin, weniger CO 2 -Ausstoß dank
der intelligenten Steuerung von Heizungen, eine
effizientere Produktion dank Datenanalyse: Die EU-
Kommission unter Ursula von der Leyen nutzt derartige
Beispiele, um eine positive Vision für die Digitalisierung
zu formulieren. Die Technologie soll Wirtschaft und Ge-
sellschaft nutzen, ohne dass die Grundrechte der Bür-
ger dabei ausgehöhlt werden, so lautet das hehre Ziel
der deutschen Politikerin.
Das ehrgeizige Vorhaben setzt die richtigen Akzente.
Der Zugang zu öffentlichen Daten ermöglicht neue Pro-
dukte und Dienstleistungen, ein einheitlicher Binnen-
markt hilft europäischen Unternehmen im internatio-
nalen Wettbewerb, und Investitionen in Forschung und
Entwicklung dürften sich langfristig auszahlen. Viele
wichtige Aspekte sind jedoch noch unklar. Nicht zuletzt
fehlt es bislang an einem konkreten Zeitplan und einem
angemessenen Budget. Davon hängt jedoch ab, ob das
Projekt, das die Exekutive mit selbstbewusster Rhetorik
präsentiert, eine Chance auf Erfolg hat.

Beispiel Künstliche Intelligenz: Die EU-Kommission
will die Entwicklung der Technologie fördern, indem
sie die Forschung unterstützt und die Zusammenarbeit
zwischen öffentlichen Einrichtungen und privaten Un-
ternehmen initiiert. Gleichzeitig plant sie jedoch eine
strenge Regulierung von Algorithmen. Das richtige Maß
zu finden, das den Überwachungskapitalismus ein-
dämmt, aber Innovationen nicht abwürgt, dürfte eine
gesetzgeberische Herausforderung werden.
Beispiel Datenökonomie: Die EU-Kommission will
den Austausch von wertvollen Informationen aus Berei-
chen wie Verkehr, Landwirtschaft und Gesundheitswe-
sen erleichtern und so den Binnenmarkt stärken. Dafür
plant sie klare Regeln und die Unterstützung von digita-
len Plattformen wie Gaia-X, dem Lieblingsprojekt von
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Gleichzeitig
herrscht indes nach wie vor eine große Unsicherheit
über die genaue Auslegung der Datenschutzgrundver-
ordnung (DSGVO), die Organisationen seit Mai 2018 an-
wenden müssen.
Damit Unternehmen von Porto bis Tallinn ihre Positi-
on im internationalen Wettbewerb verbessern können,
muss die EU zügig und entschlossen handeln. Dafür ste-
hen aber womöglich gar nicht die nötigen Mittel zur
Verfügung: Im Finanzrahmen von 2021 bis 2027 ist –
wie in der Vergangenheit – ein Großteil des Budgets für
Landwirtschaft und Strukturhilfen vorgesehen. Selbst
eine moderate Umschichtung sorgt unter den EU-Mit-
gliedstaaten für Kontroversen. So wird es allerdings
schwierig, mit den USA und China mitzuhalten – die in-
vestieren weiter erheblich.

Digitalstrategie der EU-Kommission


Ambitionen ohne Budget


Die EU formuliert eine positive
Vision für die Digitalisierung – um
die unbequemen Entscheidungen
drückt sie sich bisher aber, meint
Christof Kerkmann.

Der Autor ist Redakteur im Ressort Unternehmen.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


DONNERSTAG, 20. FEBRUAR 2020, NR. 36
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