Berliner Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1
Berliner Zeitung·Nummer 72·Mittwoch, 25. März 2020–Seite 20
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Panorama


NACHRICHTEN


Gedenken an
Germanwings-Absturz

MiteinerSchweigeminutezurAb-
sturzzeitum10.41Uhristam Diens-
tagin HalternderOpferder Flug-
zeugkatastrophevorfünfJahrenin
Südfrankreichgedachtworden.
GleichzeitigläuteteninderStadtdie
Kirchenglocken.Alle 150 Insassen
derGermanwings-Maschinewaren
damalsumsLebengekommen.Die
Opferstammenaus 17 Nationen,die
meistenausDeutschlandundSpa-
nien.UnterdenTotenwaren 16
SchülerundzweiLehrerinnenaus
Haltern,dievoneinemSchüleraus-
tauschkamen.DiefranzösischenEr-
mittlersindüberzeugt,dassderpsy-
chischkrankeCopilotdieMaschine
absichtlichzumAbsturzbrachte.
GedenkfeierninS üdfrankreichin
derNähederAbsturzstellesowiein
Halternwaren wegender Corona-
Pandemieabgesagtworden.(dpa)

15-Jährige stirbt nach
Erdbeben in Zagreb

Ein15J ahrealtesMädchen,dasbei
einemErdbebeninZagrebschwer
verletztwordenwar,istimKranken-
hausgestorben.Dasberichtetedas
staatlichekroatischeFernsehen
HRT. DasMädchenwaramSonntag
unterTrümmernverschüttetwor-
den.EsistdaseinzigbekannteTo-
desopferdesBebens.26Menschen
wurdenverletzt, 17 vonihnen
schwer,wieInnenministerDavor
Bozinovicmitteilte.An2 50 Gebäu-
denentstandenSchäden.(dpa)

Ausnahmegenehmigung:
Bergblick für den König

Im bayerischen Grand Hotel Sonnenbichl
soll der König von Thailand wohnen. DPA

DieHotels sindwegender Corona-
Krisegeschlossen–dasVier-Sterne-
HausGrandHotelSonnenbichlin
Garmisch-Partenkirchenisttrotz-
dembelegt:ThailandsKönigMaha
Vajiralongkornhatsichdortoffenbar
inklusiveGefolgeeinquartiert.„Das
HotelhateineAusnahmegenehmi-
gungvonunsbekommen“,sagteein
SprecherdesLandratsamtesam
Dienstag.„BeidenGästenhandeltes
sichumeineeinzige,homogenePer-
sonengruppe,beiderkeineFluktua-
tionvorliegt.DasHotelistfürden
normalenBeherbergungsbetrieb
nichtzugänglich.“DasHotelmit Pa-
noramablicksollOmarZawawiaus
demOmangehören.(dpa)

Türkenbekämpfen Corona
mit KölnischWasser

InzahlreichenLändernhamstern
dieMenschenwegender Coronavi-
rus-PandemieToilettenpapier–in
derTürkeifindetKölnischWasser
reißendenAbsatz.VieleTürkensind
derÜberzeugung,dassdasDuftwas-
serdankseineshohenAlkoholge-
haltsHändeundGesichtwirksam
reinigtundsovoreinerInfektion
schützenkann.EineRollebeider
großen Nachfragespieltewohldie
EmpfehlungvonGesundheitsminis-
terFahrettin Koca,im Kampfgegen
dasCoronavirusKölnischWasserals
AlternativezuH and-Desinfektions-
mittelzuverwenden.(AFP)

LEUTE


OttoWaalkes(71)hatunsperEmder
ZeitungeinewichtigeNachrichtzu-
kommenlassen:„Moitohuusbliem
und’nlekkeTassTeedrinken.Datis
gesund.DanngeitdemarlTiedok
gauvörbi.“HabenSienichtverstan-
den?SchnellmaldenGoogle-Über-
setzer Plattdeutsch-Deutschange-
worfen:„SchönzuHausbleibenund
’neleckereTasseTeetrinken.Dasist
gesund.DanngehtdieschlechteZeit
auchschnellervorbei.“Undwenn’s
garnichtmehrgeht,helfenvielleicht
einpaarOstfriesenwitze.


Harald Glööckler(54)dürftejeden-
fallsreichlichTeezuH ausehaben.
DerModeschöpfer,wohnhaftim
pfälzischenKirchheim,nahmuns
dieserTagevia Bild-Zeitungmitin
seinenXXL-Vorratskeller,derihnin
ZeitenderselbstauferlegtenCo-
rona-IsolationmitallemWichtigen
versorgt. DieVorräte,dasist Glööck-
lerwichtigzubetonen,stammen
abernichtetwaausHamsterkäufen
inden verg angenenWochen.„Das
macheichschonseitJahren. Mein
VorratistbereitsseitfünfJahren vor-
handenundwirdimmerwiederan-
gepasstundaufgefüllt.“Erhabe
nichtersteinkaufenmüssen,alsdie
Krisekam.„Ichkennedasgarnicht
andersausmeinerKindheit“,sagte
derimbaden-württembergischen
MaulbronngeboreneDesigner.„Bei
meinenElternwarder Kellerauch
immervoll.“Gelerntistgelernt.


Hilaria Baldwin(36)plauderteinder
ShowvonEllenDeGenereseinwenig
ausdemNähkästchen.Undsoe rfah-
renwir,dasssich HilariaundAlec
Baldwin(61)erstsechsWochennach
demerstenTreffengeküssthaben.
„ErstsagteermiralldieSachen,
wie‚Ich werdedichheira-
ten‘,‚Ichmöchteden
RestmeinesLebens
mitdir verbringen‘,
‚Wir werdenviele
Kinderhaben‘,nur
ummiramEnde
desAbendsdie
Handzuschüt-
teln“,sodieFraudes
Schauspielers.Tja,
dieeinenhortenLe-
bensmittel,diean-
deren Versprechun-
gen.KlarerFallvon
Gelöbnis-Prepper-
tum.(avo.)


Sie sind seit 2012 ver-
heiratet und haben vier
Kinder. IMAGO IMAGES


TIERE


Die Hirsche sind los:Inderjapani-
schenStadtNaragibtesdenweitläu-
figenNara-Park,indemmannicht
nurdie Kirschblütebewundern
kann,sondernauchmehrals 1000
Sikahirsche(Cervus nippon).Jetzt,in
Pandemie-Zeiten,hältesdiewilden
TierenichtmehrimPark.Sieverlas-
sendieAnlageundziehendurchdie
Straßender Stadt,Bilderdavonsind
indensozialenMedienzusehen.
Jetzt,wodieTouristenfehlen,diedie
HirschemitReiscrackernfüttern,
mussmanebenneueWegegehen.
Ausgangssperren?Nichtdoch!(avo.)


Dieses Exemplar hat dieVerkehrs-
regeln bereits verinnerlicht. AP

PerforiertePofreuden


AusaktuellemAnlassundohneHamstergedanken:EinekleineKulturgeschichtedesToilettenpapiers


VonNikolaus Bernau

D


ie aktuell wohl erstaun-
lichste Folge des Virus
Sars-CoV-2 und der
durch ihn ausgelösten
AtemwegserkrankungCovid-19 war
der Runaufs Toilettenpapier.Selbst
in wohlhabenden Vororten von
HamburgoderStuttgartoderin Ber-
lin-Zehlendorfstanden Regale leer,
gab es die peinlichsten Szenenvon
Papierraub,genauso inGroßbritan-
nien, denNiederlanden oder den
USA. Undder sympathischeInter-
netklatsch,dass„dieFranzosen“zu-
erst einmal gutenWein und Delika-
tessen gebunkerthätten, wurde
durcheineBlitzrecherchebeiFreun-
den alsFake News entlarvt:Auch
zwischenStraßburg, Paris,Brestund
MarseillewirdzunächsteinmalToi-
lettenpapiergehortet.
DieStabilität derMassen-Psyche
vorallem in denIndustriestädten
und-staatenhängtoffenbarwesent-
lichvomWohlbefindendesHinterns
nachdemGeschäftab.Waskaumer-
staunt: DieIndustrialisierung, das
Wachstum derMetropolen, die öf-
fentlicheundprivateHygienepolitik
und derGebrauch vonToilettenpa-
pier,siewurdenzusammengroß.

BlankerLuxus
Bisum1 840 war derGebrauch von
PapierzumAbwischenblankerLu-
xus,esmussteteuerausLumpen
und Altpapier hergestellt werden.
AußerdemwardieEntsorgungnicht
leicht,WCsgabesnicht,esmusste
wiebisheuteinvielensüdeuropäi-
schenLänderneineigenerBehäl-
ternebendemKlostehen.
AußerdemwarPapierwenig
komfortabel. Entsprechend
dienten die unterschied-
lichstenHilfsmittel,inder
römischenAntikeetwaein
Stäbchen,andemeinwei-
cher,nasser Schwamm
odereinLappenbefestigt
waren,diezurDesinfektion
ineinenBechermitEssigge-
taucht wurden. DasModell
gabesauchim18.Jahrhundert
noch.
Aber 1843 erfand derSachse
Friedrich Gottlob Keller das
Holzschliffverfahren, umPapier
aus Holz in fast unbegrenzten
Mengen herzustellen. 1857 er-
hielt dann der US-amerikanische
Fabrikant Joseph Gayetty ein Pa-
tent für eineToilettenpapiersorte,
die billig, nutzerfreundlich zuge-
schnitten und hygienisch einwand-
frei verpacktwurde,sichabervoral-
lemim Wasserauflöste.
Um 1880 entwickelte sich, wahr-
scheinlichinDeutschland,dieToilet-
tenpapierrolle mit einemPappkern
alsZentrumundperforiertenEinzel-
blättern.Damit war dieGefahr,dass
diegeradeerstentstehendenAbwas-
sersysteme derwestlichen Metropo-
lenwie NewYork,Chicago,Paris ,Lon-
don oderBerlin am Einsatz vonToi-
lettenpapierzusammenbrachen,we-
nigstensgemindert.Eshandeltesich
schließlichnochumeinlagigesPapier
ohnegroßesQuellvermögen,wiees
in der DDR und imOstblock bis
1990genutztwurde.
In der altenBundesrepublik
dagegen führte dieFirmaHakle
1974 zweilagiges Papier ein, 1977
zartangefeuchtetes und 1984 gar
dreilagigesPapier.Esw ar ein Stan-
darderreicht, der für das 17.Jahr-
hundertfür den chinesischenKai-
serhofnachgewiesenist:parfümiert
und weich, in schier unendlicher
Masseerhältlichundmiteindeutiger
sozialer Botschaft –bis 1990 wurde
das „weiche“ Papier des Westens
gerneauchalsGeschenkmit„inden
Osten“genommen.
DerBesitz einesWasserklosetts
und dieBenutzungvonWC-Papier

VON DER ROLLE

Verbrauch:Jede einzelne
Person in Deutschlandver-
braucht im Schnitt etwa
3650 RollenToilettenpapier
im Leben. Das sind pro Jahr
46 Rollen, etwa 20 000
Blätter oder 15 Kilogramm
Papier.Die Spanier benutzen
etwa die Hälfte dieser
Menge, die Schweden das
Doppelte (Quelle: http://www.ps-
hygiene.de, Zahlenvon
2016). Das liegt an kulturel-
lenTraditionen, die etwa zum
Knüllen oder zumFalten des
Papiers führen.

Erfindung:Toilettenpapier
ist seit der chinesischen An-
tikeüberliefertund kam in
den westlichen Industrienati-
onen in den 1860er-Jahren
auf. 1857 erlangte der ame-
rikanische ErfinderJoseph
Gayetty dasPatent für spezi-
elles Papier,das sich im Ab-
wasser auflöst. Um 1880
wurdewohl in Deutschland
die Toilettenpapierrolle er-
funden, 1972 in der Bun-
desrepublik das zweilagige
und 1984 das dreilagigeToi-
lettenpapier eingeführt.

Ersatz:1973 ist die erste
Toilettenpapierpanik in Ja-
pan und im US-Bundesstaat
Hawaii überliefert. In Kriegs-
zeiten wurden Zeitungen und
als überflüssig betrachtete
Buchseitengenutzt: Sie wur-
den in kleine Blätter zer-
schnitten, an einer Eckege-
locht und mit einem Bindfa-
den an einem Nagel aufge-
hängt oder auf einen Haken
gespießt. In armen Gegen-
den etwa Südamerikas exis-
tiertdiese Praxis noch im-
mer.

warenimmerauchMitteldersozia-
lenAbgrenzung,signalisiertenFort-
schritt und bessereGesundheits-
versorgung. Schon die erste erhal-
teneNachrichtüberToilettenpapier
ist zugleich auch eine über geho-
bene Bildung: Mankönne doch
nicht,soderPhilosoph
YanShitui im Jahr
598,dieSchriftender

chinesischenKlassikerfürdenHin-
ternnutzen.
EntscheidendfürdieVerbreitung
vonToilettenpapierwurdenaberdie
sexual-undkörperfeindlichenVor-
urteile desviktorianischenZeital-
ters,diemitdemKolonialismusih-
renSiegeszugumdieWeltantraten.
DasdirekteBerührenvonKörpertei-
lenunterhalbderGürtellinieerklärte
dasbürgerliche19.Jahrhundertzum
privatesten Schambereich, seine
ReinigungzumpeinlichenTeildes
nurNotwendigen.DieperHandvor-
genommeneSäuberungvonVagina,
PenisundAnuskonntedurchdas
raueToilettenpapiervomRuchder
Masturbationbefreitwerden,diemit
Irrsinn undUntergang derNation
verbundenwurde.
Undesk onnte klar markieren,
werOber-und werUnterschicht
war:Vorderhäuser erhielten WCs,
HinterhäuserlangenurHoftoiletten,
BauernmusstenmitHüttenvorlieb-
nehmen.Trotz des schnell sinken-
den Preises waren die Armen der
Weltoftbis weitindie Nachkriegszeit
angewiesen aufTorf,Lumpen, tro-
ckene Moose,pflanzliche Blätter,
zerrissenes Zeitungspapier,un-
brauchbareBuchseiten undvoral-
lemaufdieHandansich,umsichzu
reinigen. Außerdem war der
menschlicheKotlange viel zu kost-
bar,umm itPapiervermischtzu wer-
den:Bauernnutztenihnundnutzen
ihnbisheutealsDünger,vorallemin
vegetarischer ausgerichtetenKultu-
renalsder westeuropäischen.Lang-
samverrottendesPapieristdanicht
nureinästhetischerMangelaufFel-
dernundWiesen, sondernauch ein
ärgerlichesHindernisfürdasWachs-
tum.
Immer war das Hinternabwi-
schenmitPapierdeswegenauchein
hochpolitisches Thema: Ungezählt
sinddie Karikaturen,dieseitderRe-
formation–dererstenHochzeitdes
westlichenPapierverbrauchs–zei-
gen,wieProtestantendieErlassedes
Papstes,KatholikendieSchriftenLu-
thers,französische Revolutionäre
die BrandbriefevonMonarchisten,
Nationalisten dieFlugblätter ande-
rerNationalisten,Sozialistendievon
Reaktionären und vice versa ent-
sprechendnutzten.

Schlichtweg unhygienisch
Trotzdem ist noch heute ein großer
Teil der Menschheit davon über-
zeugt, dass dievonEuropäer nund
Amerikanernseit etwa 1950 zum
Standardgemachte Erfindung des
Toilettenpapiers schlichtweg unhy-
gienisch sei. Schon im 9.Jahrhun-
dertverwies einEnzyklopädist dar-
auf, dass„die Chinesen“ sich„nicht
mit Wasser waschen,wenn sie ihr
Geschäft verrichtet haben, sondern
sichnurmitPapierabwischen“.
Genau die gleiche Kritik an der
mangelndenHygienevonToiletten-
papiernutzern–allerdings nun be-
zogenaufChristenundandereReli-
gionen–findetsichheuteinkleinen
Heftchen, die man inMoscheen Is-
tanbulserhält.Inihnenwirdmitgro-
ßer Detailfreude dargestellt, wie
Mann und Frau ihr eGeschlechtsor-
gane und den Anus sauber halten
sollten.UndimVorwor tistzulesen,
wie sehr sich doch diesevomIslam
durch den Gebetsritus geforderte
ReinlichkeitinderWeltund vorGott
auszeichne.Von Papier ist dabei
keineRede:DieHandim Wasserund
danndasgründlicheHändewaschen
sinddieMittelder Wahl,Bidetsund
WC-Spülen werdenalsderentechni-
sche Modernisierung angepriesen –
so,wiesiesichheuteinjederLuxus-
wohnung auch desWestens oder
Chinasbefinden.
Eskönntedurchaussein,dassdie
Geschichte desToilettenpapiers mit
der Corona-Krise einen letzten Hö-
hepunkterlebt.

Hausmädchen auf derToilette, 1910er Jahre, Deutschland. IMAGEBROKER, IMAGO
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