Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

D


ie japanischen Yen-Münzen mit dem
Loch in der Mitte fand Michael Kell-
ner als Kind besonders beeindru-
ckend. Kellner, 42 Jahre alt, seit sechs
Jahren Bundesgeschäftsführer derGrü-
nen, sitzt in einem Café in Prenzlauer Berg und
gerät ins Schwärmen, als er von seinem Münz-
album erzählt. In der DDR war seine acht Jahre
ältere SchwesterVolleyball-Nationalspielerin, we-
gen der Turniere durfte sie als Reisekader raus in
die Welt. Von überall brachte sie ihrem kleinen
Bruder Münzen und andere kleine Geschenke mit,
aus Tokio und aus Paris. Er habe das natürlich toll
gefunden, sagt Kellner. Doch er sei jedes Mal auch
„todtraurig“ gewesen: „Ich hatte das Gefühl, dass
ich diese Länder nie selbst werde sehen können.“
Er wusste ja noch nicht einmal, wie es bei der
Cousine in derNähe von HeidelbergzuHauseaus-
sah. Einmal im Jahr kam die Westverwandtschaft
in den Osten. Kellners Schwester, der Westkon-
takte untersagt waren wegen Fluchtgefahr, durfte
dieTante und den Onkeloffiziell nichtsehen. Des-
halb organisierten seine Eltern heimliche Treffen
an einer Straßenbahnhaltestelle in Ost-Berlin, von
denen er niemandem erzählen durfte.
Als Kellner zwölf Jahre alt war, fiel die Mauer.
Nach dem Abitur erfüllte er sich den Traum vom
Reisen, der ihm als Kind „unvorstellbar“ erschie-
nen war. Er ging in den Kibbuz nach Israel, zum
Politikstudium nach Großbritannien, mit einem
Fulbright-Stipendium in die USA. Auch privat
reiste er als Rucksacktourist viel. Doch die Mün-
zen von damals hat er behalten, heute spielen
seine Kinder damit.
Seit 2013 ist er Bundesgeschäftsführer von
Bündnis 90/Die Grünen – der Partei, die 30 Jahre
nach der friedlichen Revolution versucht, ihr
Image als Westpartei loszuwerden. Nicht zuletzt
auf Kellner ist es zurückzuführen, dass der Bun-
desvorstand Anfang des Jahres einen selbstkriti-
schenBlick auf die Grünenseit der Wiedervereini-


gung warf. Etwa auf die erste gesamtdeutsche
Wahl 1990, bei der die westdeutschen Grünen der
gemeinsamen Zukunft in Deutschland kaum einen
Raum gaben („Alle reden von Deutschland. Wir
reden vom Wetter“). Ostdeutsche Stimmen hätten
auch in der eigenen Partei zu wenig Gehör gefun-
den, heißt es in dem Beschluss. Kellner selbst trat
1997, noch im Studium, bei den Grünen ein. Den
Bundestagswahlkampf 1998 machte er als Prakti-
kant im Kreisverband Potsdam mit, verteilte Kohl-
köpfe, am Ende stand die erste grüne Regierungs-
beteiligung im Bund. „Seitdem will ich Wahl-
kämpfe machen“, sagt er.
Dass die Grünen es nun bei der Landtagswahl in
Thüringen nur knapp über die Fünf-Pro-
zent-Hürde schafften, schmerzt Kellner. Er hatte
geglaubt, die Partei sei mittlerweile im Osten aus
der Angstzone heraus. Trotzdem hat er den Ein-
druck, dass die Grünen, die in diesen Tagen wie-
der stärker auf das „Bündnis 90“ im Namen Wert
legen, heuteals gesamtdeutsche Kraftwahrgenom-

men werden. Im Osten sind die Mitgliederzu-
wächse für seine Partei jedenfalls prozentual stär-
ker als im Westen, auch wenn die Landesverbände
in absoluten Zahlen nach wie vor deutlich kleiner
sind.Und immerhin, sagtKellner,würden dieGrü-
nen Ende des Jahres voraussichtlich in drei, viel-
leicht sogar vier ostdeutschen Ländern mitregie-
ren: „Das ist schon irre. Wer hätte das gedacht?“
Geboren wurde Kellner im thüringischen Gera,
er wuchs im Plattenbau im Stadtteil Lusan auf. Zu
seinen prägenden Kindheitserinnerungen gehört,
wie seine Mutter ihn zu Montagsdemos mitnahm.
Nicht nur, weil sie mit ihm in eine kerzenerleuch-
tete Kirche ging, wo doch die Familie bis dahin
wenig mit der Kirche zu tun gehabt hatte. Sondern
auch, weil es deswegen zu Hause Streit gab: Der
Vater, damals Schuldirektor, war nicht begeistert.
Kellnerhat inzwischen mitvielen ausseiner Gene-
ration über diese Zeit gesprochen. „Ich habe oft
gehört, dass es die Mütter waren, die auf die
Straße gingen.“
Seinen Eltern ging es nach der Wende so wie
vielen anderen Ostdeutschen, die ihren Job verlo-
ren oder neu anfangen mussten. Seine Mutter, die
alsmedizinisch-technische Assistentin inder Poli-
klinikgearbeitethatte, wurde arbeitslosundarbei-
tete später, schlechter bezahlt, in einer Arztpra-
xis. Sein Vater blieb lange im Ungewissen, ob er
im Schuldienst bleiben durfte, den Posten als Di-
rektor musste er abgeben. „Für die Generation
meiner Eltern waren die 90er Jahre eine wahnsin-
nige Belastung“, sagt Kellner.
Er selbst hat die Zeit anders in Erinnerung. Von
einem Tag auf den anderen waren die Autoritäten
weg, die Pionierleiterin und die Staatsbürgerkun-
delehrerin. „Die Erwachsenen wussten selber
nicht mehr, was richtig und falsch ist.“ Für sie war
es eine Zeit der Verunsicherung, der Sorge, der
Verluste. Doch für den Teenager Kellner war es
ein Freiheitsgewinn. „Wir haben über die Stränge
geschlagen und hatten das Gefühl, wir können al-

les ausprobieren“, sagt er im Rückblick. Sehr früh
sei damals aber auch das Gefühl der Polarisierung
da gewesen. „Entweder war man Rechter oder
eine Zecke, wie sie uns damals nannten.“ Um den
Glatzen mit den Springerstiefeln zu entkommen,
zog er selbst später zum Studium nach Potsdam.
Für die Gesellschaft sieht Kellner erstmals die
Chance, über das zu reden, was in den 90er Jahren
versäumt wurde. „Damals wurde weder die ost-
deutsche noch die migrantische Perspektive wirk-
lich gesehen“, sagt er. Das habe dazu geführt, dass
lange kein gesellschaftliches „Wir“ entstandensei.
30 Jahre später gebe es nun die Chance, das nach-
zuholen. „Wenn wir die Einheitsfeiern nicht nur
nutzen, um gemeinsam Bratwurst zu essen und
Bierzu trinken,sondern unsunterschiedliche Per-
spektiven anzuhören, wäre viel gewonnen“, ist er
überzeugt. Viele hätten bis heute nicht verstan-
den, was für einen enormen Wandel Ostdeutsche
hinter sich hätten. „Von diesen Transformations-
erfahrungen können wir heute noch lernen, in ei-
ner Zeit, in der mit Digitalisierung und dem Wan-
del in der Arbeitswelt wieder ein wahnsinniger
Umbruch ansteht.“ Zuhören – und voneinander
lernen: Das ist sein Wunsch, vielleicht sogar sein
Traum für dieses Jahr.

VomfernenGlück


Die Gethsemanekirche
in Prenzlauer Berg wurde
zum Zentrum der DDR-
Opposition. Heute wird
hier der 30. Jahrestag des
Mauerfalls gefeiert –
mit Projektionen der
Proteste von damals am
Gemäuer der Kirche,
das gerade saniert wurde.

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Michael Kellner
lebt mit seiner Frau
und zwei Kindern
in Berlin. Er ist seit
2013 politischer
Bundesgeschäfts-
führer der Grünen.
Derzeit steuert er
die Erarbeitung
eines neuen Grund-
satzprogramms.

Michael Kellner ist Bundesgeschäftsführer der Grünen, einer Partei mit


West-Image. Er wuchs in der DDR auf, träumte von anderen Ländern.


Nun muss er die eigene Heimat neu bereisen. Ein Porträt.Von Cordula Eubel


Fotos: Gerd Danigel/Ullstein Bild, promo

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 30 JAHRE MAUERFALL DER TAGESSPIEGEL 41


Wir verbinden Land und Leute.


Vor dreißig Jahren haben Menschen in Deutschland gemeinsam das Unmögliche möglich


gemacht. In dreißig Jahren wollen Menschen in Deutschland und Europa klimaneutral


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