Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1
Frau Buschschulte, träumen Sie heute noch
nachts vom Schwimmen?
Oh ja, ich träume ganz häufig davon! Das war wahrscheinlich emotio-
nal so aufwühlend und hatte so viele Höhen und Tiefen, dass man
gut davon träumen kann.

Was genau träumen Sie?
Ich habe schon ein paar Mal den Start verpasst. Der totale Horror ist
dann, dass man sein Finale verpasst bei einer großen Meisterschaft,
weil man sonst was gemacht hat – das ist mir in echt aber nie pas-
siert.

Haben Sie auch schon bestimmte Rennen nachgeträumt?
Ja, tatsächlich. Dass man irgendwo vorne liegt zum Beispiel. Oder wie
man sich dabei im Wasser fühlt.

Können Sie diese Rennen dann noch zuordnen?
Es ist nicht so, dass ich sagen kann: Das war jetzt genau der Wett-
kampf. Manchmal träume ich auch einfach nur von dem Zoff in der
Mannschaft, den wir früher ab und zu hatten.

Obwohl Ihre aktive Karriere jetzt mehr als zehn Jahre
her ist, arbeitet da also etwas weiter in Ihnen.
Auf jeden Fall. Aber es sind bestimmt mehr gute als schlechte
Träume, die ich vom Schwimmen habe. Es ist eben eine Zeit gewe-
sen, die so intensiv war, dass man sie auch nie verliert – selbst wenn
man irgendwann ganz alt ist.

Sie haben in Neurobiologie promoviert und sich damit
beschäftigt, wie das Gehirn funktioniert.
Haben Sie sich auch mit Träumen beschäftigt?
Das, was die Neurowissenschaften gut betrachten können, sind meis-
tens die weniger komplizierten Gedankengänge. Da schaut man sich
zum Beispiel elektrische Ableitungen von den Aktivitäten der Ner-
venzellen an. Aber das ist ja durch die Schädeldecke immer alles
sehr grob. Dass man sich komplexe Gedanken wie einen Traum an-
schaut, so weit sind wir da immer noch nicht.

Kann man sich nicht mit den Gedanken von
schlafenden Menschen befassen?
Es gibt Schlafforschung, klar. Das ist dann häufig im medizinischen
Interesse. Wenn jemand Schlafstörungen hat, dann sieht man sich die
Schlafphasen an und schaut, was da so passiert. Das geht schon, aber
dann weiß man trotzdem nicht, was die Leute träumen. Außer sie
erzählen es einem. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass die Digi-
talisierung uns dorthin bringt.

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen,
in Neurobiologie zu promovieren?
Meiner Meinung nach ist das Gehirn das interessanteste unserer Or-
gane. Das macht uns Menschen doch zum größten Teil aus. Und am
Ende war es reines Interesse, weil ich – naiv, wie ich war – gedacht habe:
Na ja, wenn man etwas gut kann, dann wird sich da auch beruflich was
finden.

So naiv war das in Ihrem Fall gar nicht. Jetzt arbeiten Sie
als Referentin für Digitalisierung in der Staatskanzlei
Sachsen-Anhalt.
Ich bin wahrscheinlich nicht die typische Beamtin. Aber ich mag es
sehr gerne, mir Sachen zu erarbeiten, Konzepte zu schreiben. Ich bin
jemand, der immer mal wieder Neues braucht, und bei Digitalisierung
hat man genau das. Das ist unheimlich schnelllebig, komplex und das,
was gerade große Teile der Welt bewegt.

Sie leben jetzt schon seit vielen Jahren in Sachsen-Anhalt.
Geboren und aufgewachsen sind Sie aber im Westen.
Mit 17 Jahren sind Sie von Hamburg ans Sportgymnasium in
Magdeburg gewechselt – aus dem Westen in den Osten also.
Das war 1996 sicherlich ein ungewöhnlicher Schritt.
Aus Sicht des Westens muss das wohl eine Verirrung bei mir gewesen
sein (lacht). Eigentlich hatte ich damals die Wahl zwischen Ossi und
Osten. Es gab damals in Hamburg einen Trainerwechsel, und es hieß:
Jetzt kommt jemand aus Potsdam, ein Langstreckentrainer. „Das ist
ein ganz harter Hund“, erzählte man sich. Und dann habe ich gedacht:
Das möchte ich nicht.

Sie sind vor dem Osten in den Osten geflohen?
Mein Hauptgrund, nach Magdeburg zu wechseln, war die Sport-
schule. Etwas in der Form gab es für Schwimmen im Westen nicht. In
Hamburg war es immer ein Krampf, Ausnahmeregelungen zu bekom-
men oder Stoff nachzuholen, wenn wir bei Wettkämpfen unterwegs
waren. Das hat dort kaum jemanden gekümmert. An der Sportschule
war das gänzlich anders.

Wie ist damals im Westen ihr Wechsel aufgenommen worden?
Im Schwimmen war das besonders krass, weil noch dieses Doping-
thema im Raum stand. Es hat mich nicht direkt betroffen. Aber ich
habe ganz schnell gemerkt, dass es nicht einfach ist, damit umzuge-
hen, weil die Westpresse mich ab Tag eins nicht mehr mochte. Wenn
man das andersherum gemacht hat, wie zum Beispiel Heike Drechs-
ler als Leichtathletin, war das kein Problem. Es wurde immer ver-
sucht, mir etwas anzuhängen.

Ist der Verdacht bei Ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes –
mitgeschwommen?
Ich hatte viel mehr Dopingkontrollen als andere, nur weil ich aus
Magdeburg kam. Da war nie irgendwas auffällig, aber trotzdem gab
es eine Art Sippenhaft für alle. Aber was der Westen nie gesehen hat
und auch nach der Wende nicht sehen wollte, ist, dass dieses System
nicht nur wegen des Dopings erfolgreich war.

Wurde da eine Chance verpasst?
Es wurde nie offen darüber gesprochen, was man übernehmen kann.
Von den heute erfolgreichen Schwimmnationen haben sich viele am
DDR-System angelehnt – nur wir selbst wollen das nicht. Und wenn
wir so etwas heute – und wenn auch nur punktuell – noch einmal ma-
chen würden, dann auf jeden Fall nur unter einem anderen Namen.
Man kann darüber nicht wertfrei nachdenken.

Das ist ein Phänomen, das sich in Deutschland wohl
nicht auf den Schwimmsport beschränkt.
Ich arbeite gerade in einem Referat, bei dem viele Bildungsthemen
bearbeitet werden, und da kommt das auch immer wieder zur Spra-
che. Zuletzt ging es um fehlende Praxisorientierung an Schulen. Da
haben die älteren Mitarbeiter gesagt: „Na ja, da gab es doch früher
schon mal was.“ Das wissen hier natürlich alle. Aber man könnte
etwas aus der DDR hier als Ministerium niemals auf diese Art und
Weise vorschlagen.

Wie haben Sie Ihre Anfangszeit in Magdeburg erlebt?
Das war schon intensiv. Es gab nach der Wende gefühlt gar nichts in
Magdeburg, nicht einmal das große Kino – nur im Zentrum einen
McDonald’s. Wenn wir mittwochnachmittags mal freihatten, sind
wir da hingegangen. Es war schon anders.

Auch an der Sportschule?
Die Sportschule war für mich ein El Dorado. Um neun Uhr begann
der Unterricht, um halb sieben hatten wir Training. Die Lehrer waren
total lieb, teilweise so engagiert, dass es mir fast unangenehm war.

War es ein Thema, dass Sie diejenige aus dem Westen waren?
Den Job, der Wessi zu sein, hatte schon eine Schwimmerin gemacht,
die vor mir da war. Die musste sich manche Hänseleien anhören.
Unter uns Sportlern war das Thema Ossi/Wessi eigentlich nicht
mehr wirklich wichtig. Da waren ganz andere Sachen entscheidend:
Für mich war es unheimlich hart, das Training durchzuhalten, weil
ich es einfach nicht gewohnt war, morgens und nachmittags in der
hohen Intensität zu trainieren. Da habe ich auch sehr gelitten.

Welche Unterschiede gab es noch?
Im Westen war Schwimmen fast überall so ein ehrenamtlich betriebe-
ner Sport. Kein Übungsleiter hatte da Sport studiert. Die hatten das in
irgendwelchen Kursen gelernt und dann Trainerscheine gemacht, hat-
ten aber nebenher noch einen ganz anderen Beruf. Es war alles sehr
viel laienhafter. Die Trainer wurden meistens geduzt, und es gab zwi-
schen Jungs und Mädchen gemischte Gruppen.

In Magdeburg war das anders?
Da wurden alle Trainer gesiezt. Man musste auch morgens früh in
der Schwimmhalle herumgehen und überall die Hand schütteln. Das
war ich aus dem Westen nicht gewohnt, da galt ich dann manchmal
als arrogant. Ich habe schnell gemerkt, dass das total wichtig ist. Und
sprachliche Unterschiede gab es auch: Im Westen wurde vieles auf
Englisch bezeichnet. Im Osten gab es aber zum Beispiel keine
Sit-Ups. Es hieß einfach: Oberkörper aufrichten.

Sie haben jetzt quasi eine Hälfte Ihres Lebens im Westen und
eine im Osten verbracht. Ist das für Sie noch ein Thema?
Im Alltag überhaupt nicht. Aber dadurch, dass ich in einem politi-
schen Umfeld arbeite, schon immer mal wieder. Vor allen Dingen ist
es aber so, dass ich, wenn ich tief im Westen bin, ganz schnell so eine
Verteidigungshaltung bekomme, obwohl ich das eigentlich nicht will.

Sie haben dann das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen?
Neulich war ich morgens in Wiesbaden schwimmen und bin mit einer
Frau ins Gespräch gekommen, die zu mir meinte: „Ach, den Osten
kenne ich.“ Das ist so eine typische West-Reaktion.

„Den Westen kenne ich“, würde wohl niemand sagen.
Ich habe auch mal in Wuppertal gewohnt. Da fragt niemand: „Wie ist
es denn da?“ Wenn man in Magdeburg wohnt, dann fragen das die
Leute. Und schon fühlt man sich so, als müsste man erklären, was an
Magdeburg gut ist. Es ist schade, dass es gerade bei den älteren Leuten
immer noch so viele Vorurteile gibt, die nicht abgebaut wurden, weil
man sich nicht wirklich gut kennengelernt hat in der Zeit.

Vielleicht hat das auch etwas mit Träumen auf
beiden Seiten zu tun, die enttäuscht wurden.
Ja, da gibt es Erwartungen, die man hatte und die sich vielleicht nicht
so erfüllt haben.

Können Sie sich erinnern, wovon Sie heute Nacht
geträumt haben?
Mein jüngstes Kind hat heute Nacht einen schönen Marathon des
Übergebens hinter sich gebracht. Da war schönes Träumen leider
nicht drin.

Gegen die Wellen


„Es sind mehr gute als


schlechte Träume, die ich


vom Schwimmen habe.“


Kopfsprung ins Unbekannte. Schwimmunterricht in Fürstenwalde, aufgenommen 1974.


Antje Buschschulte
wurde in Berlin geboren.
Die Schwimmerin gewann
Gold bei Welt- und
Europameisterschaften
und olympische Bronze.
Sie ist mit dem
Ex-Schwimmer Helge
Meeuw verheiratet, mit
dem sie drei Töchter hat.

Sie ging in den Osten,


als es sonst keiner tat –


und hat mittlerweile


ihr halbes Leben dort


verbracht.


Antje Buschschulte


schwamm für


Deutschland bei


Olympischen Spielen,


später promovierte sie


in Neurobiologie.


Mit dem Träumen kennt


sie sich aus.


Ein Interview


von Leonard Brandbeck


Fotos: ddrbildarchiv.de/dpa, Imago

44 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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