Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

S


ie haben schon oft über ihre Vergangenheit als
Bosse der DDR-Wirtschaft gesprochen. Die fünf
kennen sich. In Katrin Rohnstocks „Erzählsalons“,
die die Berliner Publizistin regelmäßig veranstaltet,
sind sie alle schon zu Wort gekommen. Da sind
Manfred Domagk, er war für die Preispolitik der
DDR zuständig, und Uwe Trostel, als Spitzenfunk-
tionärderStaatlichenPlankommission verantwortlich für Inves-
titionen. Neben ihnen sitzen Eckhard Netzmann, Christa Ber-
tagund WinfriedNoack, alledreileitetenals Generaldirektoren
Kombinate, also die Zusammenschlüsse volkseigener Betriebe.
Heute würdeman Konzerne sagen. Diefünf hatten Machtin der
DDR, kein Zweifel.
Fast 100 Zuhörer haben sich an diesem Oktoberabend für das
Gespräch der ehemaligen Wirtschaftschefs angekündigt, der
Saal im Tagesspiegel ist brechend voll. Katrin Rohnstock mode-
riertdasGespräch. Die58-Jährigeversteht sichals „Autobiogra-
fikerin“. Die ehemaligen Wirtschaftslenker sind ihr vertraut,
sie weiß, dass sie zuweilen ihre schützende Hand über sie hal-
ten muss. Denn es gibt Zwischenrufe aus dem Publikum. Dann
zum Beispiel, wenn es darum geht, wie die Treuhandanstalt zu
beurteilen ist oder was wir heute noch aus der DDR-Wirtschaft
lernen können. Auch nach 30 Jahren kochen Emotionen hoch.
Dochvielleicht tutsich nach all den Jahren auch ein Fenster auf,
um zuzuhören, sich auszutauschen.


Uwe Trostel redet im Stehen wie seine vier Mitstreiter. In Ruhe
sitzen? Keine Frage, das will keiner von ihnen. Es geht um ihr
Leben, da drückt man das Kreuz durch, zeigt Haltung, sieht dem
Publikum ins Gesicht. Trostel klettert zusätzlich noch vom Po-
dium. Um zu verstehen, wie er zu dem wurde, der er heute ist,
müsse er bei seiner Kindheit anfangen.


Zu Anfang sprechen sie alle von Chancen. Kriegskinder sind
sie, geboren kurz vor oder im Zweiten Weltkrieg. „In der DDR
habe ich dann die Vorzüge des Systems nutzen können, insbe-
sondere was die Bildung angeht“, sagt Christa Bertag. Erst ging
sie zur Oberschule, studierte dann Chemie. Trostel, Jahrgang
1941undvertriebenerSudetendeutscher,stammtausbescheide-
nen Verhältnissen. Eines Tages kündigte sich der Schuldirektor
bei seiner alleinerziehenden Mutter an. Die hatte vor dem Ge-
sprächrichtigeAngst:DemSohnsollteesdocheinmalbesserge-
hen,nunwürdeervielleichtineineErziehungsanstaltkommen.
„DannhabensiemeinerMutterklargemacht,derJungemussstu-
dieren“, sagt Trostel. Der neue Staat brauchte eine neue Intelli-
genz und die sollte aus der Arbeiterklasse kommen. Trostel, der
Bildungschancen erhielt, habe „ein tiefes Dankbarkeitsgefühl
für diesen Staat“ entwickelt. Verwundert das?
Auch Eckhard Netzmann kommt aus ärmlichen Verhältnis-
sen. Mit 14 Jahren verließ er die Schule. „Um das schmale Bud-
get meiner Eltern mit 65 Mark Lehrlingsgeld etwas aufzufül-


len“,sagt er. Erhabesich hochgearbeitet,vomWerkzeugschlos-
ser zum Ingenieur und im „Ernst-Thälmann-Werk“ dann Schritt
für Schritt in die immer nächsthöhere Position. Ein typischer
Werdegang sei das für Generaldirektoren gewesen. „Wir wuss-
ten, worüber wir reden, wir konnten in Sache und Zahlen das
beurteilen, was hergestellt wurde“, sagt er heute.

Eckhard Netzmann kam immer wieder in Führungspositionen.
Als die Mauer fiel, war er an der Spitze des Kombinats Kraftwerks-
anlagenbau. Ein Unternehmen mit Bedeutung über die DDR-Gren-
zen hinaus. Devisenbringer für den Sozialismus. Enorme Verant-
wortung bedeutete das für ihn als stellvertretenden Generaldirek-
tor. Heute will er zusammenbringen, was „die Treuhand file-
tierte“. Er berät ostdeutsche Textil- und Zementfirmen.

Die DDR-Wirtschaft sei besser gewesen als ihr Ruf. Diese
Botschaft ist den anwesenden Wirtschaftslenkern wichtig.
Netzmann, 81 Jahre alt, will darüber sprechen, solange er noch
kann. Die Zementanlagen in Dessau seien internationalkonkur-
renzfähig gewesen. Gearbeitet habe er mit Freude. „Nach zwölf
bis 16 Stunden Arbeit am Tag bin ich noch singend nach Hause
gegangen“, sagt er.
Dabei war die Ausgangslage der DDR-Wirtschaft schwie-
rig: Ein guter Teil der Produktions- und Transportmittel in Ost-
deutschland wurde demontiert, sie gingen als Reparationen an
dieSowjetunion.Auch darüber hinaus,betont Netzmann,muss-
ten die Betriebe Entschädigungen an den sowjetischen Staat
leisten. Durch die innerdeutsche Grenze war der östliche deut-
sche Staat abgeschnitten vom Gas- und Stromnetz und den be-
deutenden Steinkohlerevieren, es blieb minderwertige Braun-
kohle zur Energieversorgung. Weil die Grenze alte Branchen
teilte, mussten „ganze Industriezweige neu aus dem Boden ge-
stampft werden“, so Netzmann.
Was verrät es über die letzten 30 Jahre, dass viele in der
Runde gegen unausgesprochene Vorwürfe anreden? Uwe Tros-
tel will den Verdacht ausräumen, die DDR sei Schuldenforde-
rungen nicht nachgekommen. „Bis zum letzten Tag zahlten wir
Schulden pünktlich zurück“, sagt er, es schwingt Stolz dabei
mit. „So schlecht, wie sie gemacht wird, war die DDR nicht.“
„Wir hatten keine marode Wirtschaft“, beteuert auch Netz-
mann, ohne dass er einem Vorredner widersprechen müsste. Es
stimme zwar, manche Gasbetriebe waren veraltet, Teile der
Bausubstanz „in übelster Weise“. Aber: Die Menschen seien
hochqualifiziert gewesen,„konkurrenzfähig mitdenen derBun-
desrepublik“.
Niemand bestreitet an dem Abend, dass die Arbeitsprodukti-
vität in der DDR um einiges niedriger war. Christa Bertag und
Eckhard Netzmann betonen jedoch, das sei eigentlich kein gu-
ter Vergleichsmaßstab. DDR-Betriebe hätten mehr Soziales ge-
boten: Ferienlager, Betriebswohnungen, Verpflegung. Bertag
istüberzeugt: Inder DDRlegtemanmehr Wertauf das Gemein-
wohl und Gleichberechtigung. Ihre Aussage, man habe Visio-
nen gehabt, auch in Sachen Umweltschutz, löst dann aber
Grummeln im Saal aus. Einen Zwischenruf, die Verschmutzung
seiin Werken wiein Bitterfeld,woBertagzeitweise selbstarbei-
tete, lebensgefährlich gewesen, kann sie nicht einfach abtun.

Kein Lippenstift ohne Christa Bertag: Sie leitete ab 1986 das
Kombinat, das die DDR-Bürger mit Zahnpasta, Cremes oder
Shampoos versorgte. 75 Prozent der Beschäftigten waren weib-
lich. Frauen waren aber keineswegs nur für Schminke zuständig.
Drei Kombinatsdirektorinnen gab es zuletzt. Sie leiteten das Braun-
kohlekombinat, die Filmindustrie und die Textilproduktion.

Winfried Noack war Chef des Pharmaziekombinats. Mit der
Krankheitsentwicklung einer ganzen Nation zu planen, war
nicht leicht. 2000 Arzneimittel wurden von einem Gutachter-
ausschuss zum Verkauf freigegeben. Die Apotheken erhielten
zu den Medikamenten „Pharmainformationsmaterial“, Ärzte
bekamen Therapieempfehlungen. Noacks Pharmakombinat
hatte Betriebe in mehr als 100 Orten. Sie „unter einen Hut zu
bringen“, glich einer Mammutaufgabe. Ähnlich war es beim
Kosmetik-Kombinat. Selbst die Tuben für Cremes mussten sie
selbst herstellen, was Christa Bertag als nicht sehr ökonomisch
in Erinnerung hat.
Planung müsse sein in der Wirtschaft. Da sind sich die fünf
einig. Egal, ob Marktwirtschaft oder Sozialismus. Aber „wir ha-
ben das überzogen“, meint Netzmann. Bis ins letzte Detail
wurde geplant. Die Erinnerung an eine Vorgabe löst bei den
Zeitzeugen bis heute Gelächter und Ungläubigkeit aus: Jedes
Kombinat sollte fünf Prozent „Konsumgüter“ produzieren,
auch die Schwerindustrie. Schwermaschinenbetriebe produ-
zierten deshalbHollywoodschaukeln. Tischler,diesonst Trans-
portkisten bauten, weiß Manfred Domagk, sollten Kinderbet-
ten zimmern.
Das Sorgenkind der Preispolitik, so Domagk, waren aber vor
allen Dingen die Verbraucherpreise. Aus Angst vor Unruhen
wollte sie die Parteiführung ungern erhöhen. Dass Lebensmit-
tel und die Wohnung in der DDR subventioniert wurden, be-
trachtete sowieso niemand mehr als „soziale Errungenschaft“,
sondern als Normalität. „Dann dachten wir, wir erhöhen die
Preise und zugleich die Löhne, Renten, Stipendien“, sagt Do-
magk. „Aber wat erreichst du denn eigentlich dadurch?“

Domagks Erzählungen haben einen vergnüglichen Unterton.
Schon in der Antike sei die Preispolitik ein Pulverfass gewesen.
Falsche Preise konnten Revolutionen auslösen, ein Herrscher im
Zweistromland sei sogar geköpft worden, sagt Domagk, im Publi-
kum lacht jemand. „Uns haben sie zwar nicht geköpft, aber unser
Aufgabengebiet war ein Schleudersitz.“

Kombinat „Zur guten Hoffnung“


Volles Rohr. Das Chemieunternehmen Buna-Werke in Schkopau,
hier im Jahr 1990, wurde später von dem US-amerikanischen
Konzern Dow Chemical übernommen.

Sie leiteten große


Industriebetriebe,


legten die Preise fest oder


planten Investitionen.


Dann fiel die Mauer.


Fünf Zeitzeugen erzählten


bei einer Veranstaltung


des Tagesspiegel


von Chancen,


Vorzügen und Tücken


der Planwirtschaft und


davon, wie sie die Zeit


der Wiedervereinigung


erlebten. Welche Träume


hatten sie damals – und


was ist davon geblieben?


Von Anna Parrisius


Foto: Hendrik Lietmann/Ostkreuz

46 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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