Protest vor dem Parlament in
Jakarta: Die Jugend rebelliert
gegen konservative Gesetze.
AFP
Mathias Peer Jakarta
D
ie Mauer, die den Nor-
den Jakartas von den
Wassermassen trennt,
ist gerade einmal einen
halben Meter breit. Auf
der einen Seite reicht der Ozean bis
fast ganz nach oben. Auf der anderen
liegt die lehmige Küstenstraße deut-
lich unterhalb des Meeresspiegels.
Lange wird der Schutzwall nicht
mehr halten: Die indonesische
Hauptstadt sinkt kontinuierlich ab –
teilweise um bis zu 20 Zentimeter
pro Jahr. Das liegt am Abpumpen von
Grundwasser und an der steigenden
Last durch Straßen und Gebäude.
Andi Baso sucht nach einem Weg,
um das Schlimmste zu verhindern:
„Da draußen wollen wir einen neuen
Deich bauen“, sagt der Beamte der
Küstenentwicklungsbehörde NCICD
und zeigt zum Horizont. Mit einer
Länge von rund 20 Kilometern soll er
die komplette Bucht von Jakarta um-
schließen und breit genug sein, um
darauf eine neue Mautstraße zu er-
richten. Doch gegen den großen
Deich gibt es Widerstand: Meeresfor-
scher warnen vor Gefahren für das
Ökosystem. Fischervereinigungen
fürchten um ihren Lebensunterhalt.
Anwohner an der Küste fürchten
Zwangsumsiedlungen. Im kommen-
den Jahr soll Präsident Joko Widodo
nach einer Umweltverträglichkeits-
prüfung über den Bau entscheiden.
Ambitionierte Reformen
Es ist nur eine von vielen schweren
Entscheidungen, die Joko Widodo
treffen muss. Entscheidungen, mit
denen er Teile der Bevölkerung ver-
ärgern wird. Der Präsident, der bei
den Indonesiern vor allem unter sei-
nem Spitznamen Jokowi bekannt ist,
tritt am 20. Oktober seine zweite
Amtszeit an. Weitere Punkte auf sei-
ner Agenda sind Kürzungen der
Energiesubventionen, eine Landre-
form zur Lösung von Konflikten um
umstrittene Gebiete und die Locke-
rung von Regeln für Arbeitgeber, um
das Land für ausländische Investoren
attraktiver zu machen.
Doch kurz vor Beginn seiner zwei-
ten Amtszeit als Präsident kommen
Zweifel auf, ob der einstige politische
Shootingstar für harte Reformen
noch über ausreichenden Rückhalt
verfügt. Seit Ende September erlebt
Indonesien die größten Studenten-
proteste seit dem Ende der Suharto-
Diktatur 1998. Die Massenkundge-
bungen fanden zuletzt in allen gro-
ßen Metropolen des Landes statt. In
sozialen Netzwerken machen Videos
die Runde, in denen Studenten das
Porträt des Politikers in einem Hör-
saal zertrümmern. Sie werfen ihrem
Staatschef vor, sich im Kampf gegen
Korruption und für eine offene Ge-
sellschaft auf die falsche Seite ge-
schlagen zu haben.
Kurzfristig eingebrachte Gesetzes-
vorhaben hatten die Wut der vorwie-
gend jungen Demonstranten entfacht:
So sollten Abtreibungen bis auf weni-
ge Ausnahmen verboten werden,
auch außerehelicher Sex würde illegal
und die Regeln gegen Blasphemie
würden verschärft. Beobachter sehen
das als Teil eines Trends, wonach eine
deutlich konservativere Islamausle-
gung in der bisher eher liberalen Ge-
sellschaftspolitik des bevölkerungs-
reichsten, mehrheitlich muslimischen
Landes an Bedeutung gewinnt.
Das neue Strafrecht soll auch Präsi-
dentenbeleidigung zum Straftatbe-
stand machen, was Kritiker als dro-
hende Einschränkung der Meinungs-
freiheit werten. Außerdem sorgt eine
Reform der populären Antikorrupti-
onsbehörde KPK für Empörung: Die
Demonstranten werfen den Abgeord-
neten vor, die Korruptionsbekämpfer
aus Eigennutz zu entmachten – und
Indonesien so zu einem Selbstbedie-
nungsladen für die politische Elite
umzubauen.
Aus Sorge vor weiteren Unruhen
haben die Behörden bis zur Zeremo-
nie zum Beginn der zweiten Amtszeit
am kommenden Sonntag Demonstra-
tionen verboten. An Jakartas Haupt-
straßen ist die Zahl der politischen
Graffiti merklich gestiegen: Aufge-
sprühte Parolen wie „Revolte!“ und
„Kampf gegen das System“ sind an
den Hauswänden zu lesen.
Die Pläne liegen auf Eis
Der heftige Widerstand scheint die
Regierung überrascht zu haben. „Das
Vorgehen war sehr ungeschickt“,
sagt Jan Rönnfeld, der Geschäftsfüh-
rer der deutschen Auslandshandels-
kammer in Jakarta. „Die Frage, wie
sehr die Proteste die Politik nun
bremsen, ist berechtigt“, sagt er. Von
seinen politischen Versprechen habe
Widodo in der ersten Amtszeit wenig
umgesetzt.
Der Präsident versucht nun, den
Zorn des Volkes einzudämmen. Er
ließ die Strafrechtsreform, die seine
Verbündeten im Parlament einge-
bracht hatten, auf Eis legen und stell-
te in Aussicht, die neuen Regeln für
die Antikorruptionskommission viel-
leicht zurückzunehmen. Von seinem
wirtschaftspolitischen Kurs will er
sich nicht abbringen lassen. Die Re-
form des Arbeitsrechts, die den Kün-
digungsschutz lockern soll, will er
noch in diesem Jahr vorlegen. Auch
eine Senkung der Unternehmensteu-
ern hat er angekündigt.
Damit stößt er in der Geschäftswelt
auf Zuspruch: „Ich denke, die Regie-
rung ist mit ihren Reformplänen auf
dem richtigen Weg“, sagt Prakash
Chandran, Indonesien-Chef von Sie-
mens, der mit dem staatlichen Ener-
gieversorger PLN am Ausbau der
Stromnetze arbeitet.
Das Schwellenland Indonesien bie-
tet für Unternehmen große Chancen:
mehr als 260 Millionen Einwohner
und eine rasant aufsteigende Mittel-
schicht, ein über Jahre konstantes
Wachstum von mehr als fünf Pro-
zent. „Es ist beeindruckend zu se-
hen, welche Möglichkeiten moderne
Technologien bieten, die Bedürfnisse
einer so stark wachsenden Gesell-
schaft abzudecken“, sagt Deutsche-
Messe-Chef Jochen Köckler, der mit
einer Unternehmerdelegation um
den niedersächsischen Ministerpräsi-
denten Stephan Weil jüngst das Part-
nerland der Industrieschau Hanno-
ver Messe 2020 besuchte.
Auch der Chef von TÜV Nord Sys-
tems, Ralf Jung, sieht Chancen im
Land. Seine Firma betreibt dort un-
ter anderem ein Labor für Lebens-
mittelanalysen, in dessen Ausbau er
mehr als zwei Millionen Euro inves-
tieren will. Künftig möchte das Unter-
nehmen auch Nahrungsmittel zertifi-
zieren, die für Muslime als halal, also
erlaubt, gelten. Doch auch Jungs Op-
timismus ist gedämpfter angesichts
der jüngsten Proteste: „Wenn man
die großen Demonstrationen gegen-
wärtig sieht, könnte man den Ein-
druck gewinnen, dass sich die gesell-
schaftlichen Konflikte verstärken.“
Indonesien
Zwischen Radikalisierung
und Investorensuche
Indonesiens Präsident verspricht wirtschaftsfreundliche Reformen. Doch
Proteste gegen Korruption und ein neues Strafrecht drohen ihn auszubremsen.
Joko Widodo: Der
einst beliebte Präsi-
dent verliert an Rück-
halt bei den Wählern.
Bloomberg
Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 16. OKTOBER 2019, NR. 199
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