Handelsblatt - 16.10.2019

(Nancy Kaufman) #1

„Deshalb brauchen wir kein Konjunktur-


programm, aber wir brauchen mehr Ludwig Erhard.


Wir müssen bereit sein, Bürokratie abzubauen. Wir


müssen bereit sein, Steuern zu senken, damit das dann


wieder reinvestiert werden kann in die Unternehmen.“


Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister


Worte des Tages


Macron


Kulturelle


Dissonanz


E


rst Ende dieser Woche will
Frankreichs Staatspräsident
Emmanuel Macron eine Er-

satzkandidatin oder einen Ersatz-


kandidaten für die vom Europäi-


schen Parlament abgelehnte Sylvie


Goulard als französische Kommissa-


rin vorschlagen. Auf die Ablehnung


von Goulard hat er so irritiert und


überzogen reagiert, dass der gute


Start der neuen EU-Kommission un-


ter Ursula von der Leyen bedroht


schien. Macron warf von der Leyen


öffentlich vor, sie habe ihm eine


Vereinbarung mit den Chefs der


großen Fraktionen im Europaparla-


ment versprochen, sodass Goulard


nichts zu befürchten habe. Doch


dann habe die designierte Kommis-


sionspräsidentin nicht geliefert.


Ungeachtet seiner positiven Ideen


für Europa hat der Präsident zwei


Probleme: Erstens ist seine Perso-


nalauswahl, wenn es um Posten in


der EU geht, nicht immer glücklich.


Seine frühere Europaministerin Na-


thalie Loiseau wollte er zur Frakti-


onschefin der in Renew umbenann-


ten liberalen Fraktion wählen las-


sen, doch Loiseau redete sich um


Kopf und Kragen, indem sie politi-


sche Gegner wie Parteifreunde mit


bösartiger Kritik überhäufte.


Goulard trotz der offenkundigen


Probleme ins Rennen zu schicken,


die das laufende Justizverfahren in


Frankreich für sie bedeuten könn-


te, war ein Risiko. Dass der Präsi-


dent ihre Ablehnung dann als Wort-


bruch hinstellte, zeigt sein zweites


Problem. Er scheint die parlamen-


tarische Demokratie, die es in der


EU gibt, nicht zu verstehen. Vom


französischen Präsidialsystem her-


kommend, dachte er wohl, es kön-


ne tatsächlich über die Köpfe der


Parlamentarier hinweg eine Verein-


barung zwischen ihm und von der


Leyen geben, an die sich alle halten


müssten. Doch in einem politischen


System, in dem das Parlament eine


eher stärker werdende Rolle spielt,


funktioniert nichts einfach top-


down wie in Paris. Weder die Kom-


missare noch die Abgeordneten im


Parlament sind der verlängerte Arm


des französischen Präsidenten. Je


schneller sich Macron darauf ein-


stellt, desto besser für ihn, seine


Politik und für Europa.


Frankreichs Präsident hat
ein Problem mit
parlamentarischer
Demokratie,
meint Thomas Hanke.

Der Autor ist Korrespondent in


Paris.


Sie erreichen ihn unter:


hanke@handelsblatt.com


D


er Jubilar lässt sich ordentlich feiern.
Wenn der Deutsche Gewerkschafts-
bund (DGB) nächste Woche mit einem
Festakt in Berlin seinen 70. Geburts-
tag begeht, dann hält Kanzlerin Ange-
la Merkel die Festrede. Sie wird das Hohelied der
Sozialpartnerschaft singen, die staatsentlastende
Funktion von Tarifverträgen loben und verspre-
chen, sich für eine Stärkung der Tarifbindung einzu-
setzen. Und wahrscheinlich wird die Regierungs-
chefin auch daran erinnern, dass der DGB geholfen
hat, die Demokratie in Gesellschaft und Betrieben
zu verankern.
Der Bund, der am 13. Oktober 1949 in München
aus der Taufe gehoben wurde – nur vier Jahre nach
den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs –, ist bis
heute die politische Stimme der Gewerkschaften.
Möglich war das nur, weil die Gründerväter und
-mütter damals Lehren aus der Geschichte zogen
und die Zersplitterung der Arbeiterbewegung in po-
litische und konfessionelle Richtungsgewerkschaf-
ten beendeten. Der DGB folgt seit seiner Gründung
dem Prinzip der Einheitsgewerkschaften, die Arbeit-
nehmer ohne Rücksicht auf deren politische oder
weltanschauliche Überzeugung aufnehmen.
Erfolge wie das Betriebsverfassungsgesetz, die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Fünftagewo-
che oder der Mindestlohn konnten auch deshalb
durchgesetzt werden, weil die Gewerkschaften mit
einer Stimme sprachen – auch wenn um die einheit-
liche Meinung, wie etwa beim Mindestlohn, zuwei-
len mühsam gerungen wurde. Die Mitbestimmung
der Arbeitnehmer in Betriebs- und Aufsichtsräten
oder der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen
ist Ausdruck dafür, dass Demokratie nicht am
Werkstor endet.
Nach einer Zeit der Entfremdung im Zuge von Ger-
hard Schröders Arbeitsmarktreformen sind die DGB-
Gewerkschaften heute wieder geschätzte Gesprächs-
partner der Politik. Die Zeiten, in denen Politiker das
„Tarifkartell“ zerschlagen oder Industrievertreter
„Lagerfeuer“ anzünden wollten, um Tarifverträge
zu verbrennen, sind schon lange vorbei. Vor allem
das verantwortungsvolle Agieren während der Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise – im Schulterschluss mit
den Arbeitgeberverbänden – hat den Gewerkschaf-
ten viel Lob eingebracht. Sie finden Gehör, wenn sie
heute die Gestaltung der Transformation der Ar-
beitswelt einfordern, vor Altersarmut warnen oder
sich gegen den Rechtspopulismus starkmachen.
Doch kann der DGB heute überhaupt noch mit ei-
ner Stimme sprechen? Was zählt das Kollektiv noch
im Zeitalter des Individuums mit seiner Selfie-Kul-

tur? Wie lässt sich Solidarität organisieren, wenn das
„Ich“ immer häufiger über dem „Wir“ steht?
Dem Gewerkschaftsbund geht es dabei nicht an-
ders als den auf dem Weg zur Verzwergung befindli-
chen Volksparteien. Angesichts der Individualisie-
rung und Pluralisierung von Lebensstilen fällt es
immer schwerer, übergreifende Antworten auf ge-
sellschaftliche Fragen zu finden. Das zeigt sich etwa
in der Rentendebatte. Die vom DGB geforderte An-
hebung des gesetzlichen Rentenniveaus hilft viel-
leicht dem Metallfacharbeiter, nicht aber der Teil-
zeitkassiererin, die im Supermarkt zum Mindestlohn
arbeitet. Und dem hochbezahlten IT-Fachmann ist
die Debatte im Zweifel egal. Ihnen allen wollen die
Gewerkschaften aber eine Heimat bieten.
Vom ersten DGB-Vorsitzenden Hans Böckler
stammt der Satz: „Es ist immer und einzig die
menschliche Arbeit, durch welche die Gemeinschaft
lebt.“ Dieses gemeinsame Band verliert aber an Bin-
dekraft, weil Arbeit im Leben vieler Menschen nicht
mehr den Stellenwert genießt wie noch vor ein paar
Jahren. Familie oder Selbstentfaltung sind oft längst
wichtiger. Und die Arbeitswelt ist heute weitaus viel-
fältiger als im Jahr 1996, aus dem das DGB-Grund-
satzprogramm stammt. Wenn Begriffe wie „Betrieb“
oder „Arbeitnehmer“ zunehmend verschwimmen,
wird es schwerer, Menschen hinter einem gemeinsa-
men Ziel zu einen.
Je zersplitterter die Gesellschaft aber ist, desto
wichtiger wird die Aufgabe der Demokratie, für einen
Interessenausgleich zu sorgen. Das gilt bei Fragen des
Klimaschutzes wie auch im Betrieb. Umwelt und Ar-
beitsplätze, Lohnplus und Wettbewerbsfähigkeit müs-
sen gemeinsam gedacht und dürfen nicht gegeneinan-
der ausgespielt werden. 70 Jahre nach Gründung des
DGB ist vielen das demokratische Austarieren aber zu
mühsam geworden. Sie setzen den eigenen Stand-
punkt absolut (Klimaschutz, koste es, was es wolle!)
oder liefern einfache Antworten gegen den Struktur-
wandel und Jobverluste („Rettet den Diesel!“).
Der Gewerkschaftsbund muss in solchen Fragen
die Stimme der Vernunft sein, die auf Politik und Ge-
sellschaft einwirkt. Debatten über politische Streiks,
wie sie gerade bei den Kongressen von Verdi und der
IG Metall geführt wurden, sind dabei nicht hilfreich.
Es sei denn, der DGB will doch zurück zur Rich-
tungsgewerkschaft, die politischen Streit mit ande-
ren Mitteln auf der Straße fortsetzt. Dass das kein Er-
folgsmodell ist, lässt sich in Frankreich beobachten.

Leitartikel


Die Zersplitterung


des Kollektivs


Der DGB steht
seit 70 Jahren für
Demokratie im
Wirtschaftsleben.
Doch Solidarität
zu organisieren
wird immer
schwieriger, meint
Frank Specht.

Was zählt das


Kollektiv noch


im Zeitalter des


Individuums


mit seiner


Selfie-Kultur?


Der Autor ist Korrespondent in Berlin.
Sie erreichen ihn unter:
specht@handelsblatt.com

Meinung


& Analyse


MITTWOCH, 16. OKTOBER 2019, NR. 199


16

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