Der Spiegel - 26.10.2019

(backadmin) #1

den offiziellen Konferenzen sieht
die Regie vor, dass die Kandida-
ten brav Fragen beantworten,
sich aber nicht aufeinander be-
ziehen. Nichts soll die erwünsch-
te Kuschelstimmung stören nach
all den Machtkämpfen und Intri-
gen der Vergangenheit. Nichts er-
innert an den diskursiven, schar-
fen Charakter amerikanischer
Vorwahlen, in der die Bewerber
auch auf die Schwachpunkte der
Konkurrenz aufmerksam ma-
chen. Der Wunsch nach Harmo-
nie ist einfach zu groß.
In Köln wollen Lauterbach
und Scheer das Alleinstellungs-
merkmal ihrer Kampagne deut-
lich machen: dass sie das einzige
Team sind, das wirklich vorzei-
tig aus der Koalition aussteigen
will und dafür einen konkreten
Plan hat: den Mitgliederent-
scheid. Bei den Konferenzen
hat Saskia Esken bislang jedes
Mal erklärt: »Die GroKo hat
keine Zukunft.« Aber Lauter-
bach und Scheer werfen ihren
Konkurrenten vor, die Wähler
zu täuschen. Weil sie in Wahr-
heit drinbleiben wollten.
»Darf ich jetzt auch mal aus-
reden?« ruft Scheer, als Esken
sie unterbrechen will. Sie soll-
ten nicht von Bauchschmerzen
mit der GroKo reden, sondern
sich klar bekennen. Als Walter-
Borjans später erklärt, dass er
die Sorge habe, die SPD würde der Verlie-
rer sein, wenn sie einfach so aus der GroKo
rausgehe, ist es Scheer, die unterbricht:
»Ihr wollt also drinbleiben?«
»Nee, Moment.«
»Ja, was denn dann? Ich will’s nur wis-
sen, ich will’s einfach wissen.«
Die Delegierten des Parteitags Anfang
Dezember sollten entscheiden, erklärt
Walter-Borjans. So sei es ja vorgesehen.
Wenn es keinen Mitgliederentscheid
über die GroKo gebe, würde es wie folgt
laufen, sagt Lauterbach: Den Parteitags-
delegierten würde eine Bewertung der
Regierungsarbeit als Grundlage für ihre
Entscheidung vorgelegt. »Und das macht
zum großen Teil die Regierung selbst. Das
Zwischenzeugnis für das Finanzministeri-
um wird derzeit von den Mitarbeitern von
Olaf Scholz vorbereitet. Und so geht das
für jeden Bereich.«
»Ich bin sehr gespannt, was da raus-
kommt«, sagt Scheer.
»Die Mitglieder sollen hier mit einem
Trick umgangen werden«, fährt Lauterbach
fort. »Die Delegierten werden das beschlie-
ßen, was vorliegt.« Sie hätten noch nie ge-
gen den Leitantrag der Führung gestimmt.
»Von daher: Macht euch nichts vor.«


Es ist die interessanteste Veranstaltung
der gesamten Kandidatur. 30 Menschen
haben sie gesehen.

Nach der Konferenz in Troisdorf soll in
der dortigen Stadthalle eigentlich ein Tref-
fen der vier linken Teams im Kandidaten-
feld stattfinden. Ralf Stegner und Gesine
Schwan haben ihn und die anderen ange-
sprochen. Man solle sich doch wenigstens
mal zusammensetzen. Sonst heiße es wie-
der, die Linken seien zu stur, um sich ab-
zustimmen und überließen den Rechten
das Feld. Erst wollte Lauterbach schlecht
gelaunt mitmachen.
Doch am Morgen des geplanten Treffens
teilt er Stegner und Schwan mit, dass sie
nicht mitmachen. Er rät, das Treffen platzen
zu lassen. Er wolle sich nicht von Walter-
Borjans erklären lassen, dass er sich massiv
in Führung sehe und man darüber nachden-
ken solle, wer von uns für ihn zurücktritt.

Wenn er doch hingegangen
wäre, erzählt Lauterbach später,
hätte er gesagt: »Norbert, laut
Umfragen kennen dich 20 Pro-
zent der Bürger, die Saskia
kennen noch weniger. Viele spre-
chen mich an, ob du nicht bereit
seist zurückzuziehen.« Aber er
geht nicht hin, Stegner und
Schwan ebenfalls nicht. Das
Treffen platzt, und der Versuch,
sich hinter einem linken Team
im Kampf gegen Olaf Scholz zu
versammeln, ist gescheitert.
Am Tag der Deutschen Ein-
heit wird eine Umfrage unter
SPD-Mitgliedern veröffentlich,
die erste und einzige während
dieser Kandidatur. Knapp vorn
liegt darin mit 23 Prozent das
Team Kampmann /Roth. Knapp
dahinter folgen Esken/Walter-
Borjans, Pistorius/Köpping und
Scholz/Geywitz. Weit abgeschla-
gen Stegner/Schwan mit sechs
Prozent und Lauterbach/Scheer
mit nur fünf Prozent.
Das Institut, das die Umfrage
durchgeführt hat, heißt Wahl-
kreisprognose.de und war bis-
lang kaum bekannt. Es wur-
den angeblich 397 Mitglieder
befragt. Wo sie befragt wur-
den oder ob es ein Zufallsprin-
zip gab, darüber gibt es keine
Angaben. Die Befragung einer
Glaskugel hätte zu ähnlichen Er-
gebnissen führen können. Trotz-
dem verbreitet sich die Umfrage schnell,
sie wird in unzähligen Medienberichten
zitiert, meist bestimmt sie deren Tenor.
»Es ist deprimierend«, sagt Lauterbach,
als er die Umfrage gesehen hat. »Erst die-
ser ganze Hype um Esken und Walter-Bor-
jans durch die jubelnden Jusos, jetzt so ’ne
unseriöse Umfrage – es könnte ja wirklich
der Wind nicht eisiger von vorne wehen.
Das ist schon ein herbes Verfahren.« Er
spricht kraftlos, so deprimiert hat er die
ganze Kandidatur über nicht gewirkt.
Für den Rest des Wettbewerbs wird die
Umfrage eine überproportionale Bedeu-
tung haben. Viele Medienberichte, in de-
nen die Chancen der Bewerber taxiert wer-
den, fußen auf dieser Umfrage. Es gibt den
sogenannten Bandwagon-Effekt in der
Politik, wonach Wähler gern auf der Seite
der Sieger stehen. Bei einem Team, das in
der Berichterstattung als »abgeschlagen«
gilt, machen die wenigsten gern ihr Kreuz.

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»Das Zwischenzeugnis für das Finanzministerium


wird derzeit von den Mitarbeitern von Olaf Scholz


geschrieben. Und so geht das für jeden Bereich.«


Vielreisender Lauterbach
»Ich dachte schon, der Fisch sei geputzt«
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