Ulrike Posche schrieb als Publizistik-
Studentin einmal eine Seminararbeit
mit dem Titel: „Die Themenkarriere
des Begriffs ,Dünnsäureverklappung‘
in den deutschen Zeitungen – eine empirische
Analyse“. Sie bekam dafür ein „gut“. FOTO: SZ PHOTO/PICTURE ALLIANCE
Versiegelung und Landwirtschaft, als wir
neu gewinnen. Wir brauchen eine bessere
Kompostwirtschaft, wir brauchen eine
Landwirtschaft, die Boden aufbaut! Wir
brauchen Bäume. Immer nur „Diesel-
fahrverbot“ und „Energiesteuer“ – das ist
mir zu klein und zu einfach gedacht.
Wir haben die Spartaste am WC, Erdgas-
Autos, Passivhäuser, wir schreiben auf
Recyclingpapier und essen Flohsamen-
schalen zum Frühstück. Manche finden,
mehr könne man nicht tun. Andere
zappen beim Wort „Klimakrise“ bereits
weg. Was sagen Sie den Leuten?
Diese individuellen Sachen sind sicherlich
wichtig für das Bewusstsein der Bür-
ger, aber wir brauchen klare Vorgaben
von der Politik, unsere Produktions-
methoden zu ändern, und auch neue
Geschäftsmodelle.
Klingt irgendwie sozialistisch. Was ge-
nau meinen Sie?
Das, was wir heute etwa beim Carsharing
haben, bei dem wir nur den Service kaufen
- das brauchen wir für alle Bereiche. Wir
brauchen das für die Solarenergie, bei der
ich Photonen einfange, sowie für die
Waschmaschine, in der ich künftig nur
noch Waschgänge kaufe.
Wie soll das denn funktionieren – Wasch-
gänge kaufen?
Indem die Waschmaschine nicht mir ge-
hört und ich damit nicht Sondermüll-
besitzerin werde, sondern der Hersteller
die Waschmaschine so konzipiert, dass er
mit einem Zählautomaten, wie man ihn
heute schon an Druckern in großen Unter-
nehmen hat, Waschgänge verkaufen kann
und dann, wenn die Maschine es nicht
mehr tut, sie zurücknimmt, demontiert
und die Einzelteile neu verwendet.
Dann könnte ich auch Services wie „Fern-
sehen“ und „Teppichboden“ kaufen?
Das Letztere wäre dann die Dienstleistung
„Fußbodenverpackung“. Es gibt viele
Unternehmer, auch viele „alte weiße
Männer“, die so was schon neu denken,
aber die Politik unterstützt sie im Moment
noch nicht.
Frau Griefahn, noch immer sind die
Meere voller Plastikmüll, schmelzen
Gletscher, sterben Wälder. Verzweifeln
Sie nicht manchmal an der Begrenztheit
Ihres eigenen Tuns?
Nein. Ich habe immer Hoffnung, weil ich
glaube, wir sind kreativ als Menschen. Wir
können Probleme lösen.
Als Umweltministerin sagten Sie 1998:
„Umweltschutz schafft Arbeitsplätze.“
Diesen Satz sagt heute Annalena Baer-
bock von den Grünen. 21 Jahre später!
Deprimiert es Sie denn kein bisschen,
wie wenig passiert ist, seit Sie auf der
„Sirius“ schipperten?
Umweltschutz wurde sehr häufig als Mo-
dethema und sehr lange als Moralthema
begriffen, nicht als Innovationschance.
Ich habe es immer als Innovationschance
verstanden, und wir hatten dadurch in
Niedersachsen einen wirtschaftlichen Vor-
teil. Wir haben Solarenergie und Wind-
energie frühzeitig vorangebracht, früh-
zeitiger als andere Bundesländer.
Wir haben inzwischen auch biologisch
abbaubaren Kunststoff. Aber er bleibt
doch Plastikmüll, oder nicht?
Plastik ist ja nicht grundsätzlich schlecht.
Wir müssen nur lernen, Plastik mehrfach
zu verwenden. Wir müssen nach dem
„Cradle to Cradle“-Prinzip („Von der Wiege
zur Wiege“, Anm. der Red.) Produkte neu
entwickeln, indem wir gleich beim Design
die Nutzung der Rohstoffe für den tech-
nischen oder biologischen Kreislauf mit-
denken. Ich habe in Niedersachsen zehn
Müllverbrennungsanlagen verhindert.
Das war gleichzeitig der Einstieg in die
Mülltrennung und damit in den Erhalt von
Ressourcen.
Sie haben Müllsammel-Aktionen an
Ostsee und Elbe eingeführt. Können Sie
heute noch Strandurlaub machen, ohne
gleich aufräumen zu wollen?
Das würde ich tatsächlich am liebsten tun.
Und ich bin immer wieder schockiert, was
die Menschen alles wegwerfen – und in
welchen Mengen. Zigarettenstummel,
Flip-Flops, Windeln!
Kunststoffzeug, das nur verbrannt wird.
Ja. Wir müssen Windeln dringend anders
gestalten. Aus Zellulose zum Beispiel, weil
die Wasser speichert. Damit man dann
Wald darauf aufbauen kann.
Wälder aus vollen Windeln?
Es gibt in Israel sehr schöne Projekte, die
Windeln zum Aufbau von Wäldern nutzen.
Das funktioniert tatsächlich!
Die neue Art des Totschlagarguments
heißt „Whataboutism“. Das geht so: „Wir
dürfen mit dem Diesel nicht mehr durch
Stuttgart fahren? Und was ist mit dem
brasilianischen Regenwald, wo sie täglich
5000 Fußballfelder abholzen und den Rest
brandroden?“ Wie halten Sie dagegen?
Mich stört ein anderer Ismus, nämlich der
Ökologismus.
Und der geht wie?
Ökologisten konzentrieren sich auf Teil-
probleme, die in der Gesamtschau gar
nicht so bedeutend sind, und arbeiten
dabei mit der Moralkeule. Nehmen wir
die Flugscham: Natürlich ist es gut, nicht
so viel zu fliegen, aber andererseits: Das,
was uns als Menschen zusammengebracht
hat, was uns gelehrt hat, andere Kulturen
kennenzulernen, jetzt total zu verdam-
men, das finde ich nicht richtig.
Die Regenbogenkriegerin ist milde ge-
worden!
Nein, aber ich bin seit 33 Jahren beim Al-
ternativen Nobelpreis aktiv und erlebe, wie
die Menschen in den ärmsten Ländern, die
viel größere Schwierigkeiten haben, etwas
umzusetzen als wir, uns zeigen, welche
Lösungen es gibt. Das macht mich immer
wieder hoffnungsvoll.
Keine Wut mehr, keine Radikalität?
Tatsächlich bin ich heute sogar radikaler
als früher, denn es geht mir nicht mehr nur
darum, Umweltzerstörung zu vermeiden,
sondern die Welt effektiv zu verbessern.
Ich betrachte den Menschen nicht mehr
nur als notorischen Umweltschädling,
sondern als potenziellen Nützling. Das ist
die große Vision von Cradle to Cradle, für
die ich mich heute engagiere. Und ich den-
ke, eines Tages werden wir diejenigen, die
die Lebensgrundlagen der Menschen sys-
tematisch zerstören und sie – wie es heu-
te schon der Fall ist – zwingen, aus ihren
Ländern zu fliehen, als ökologische Kriegs-
verbrecher anklagen. Diese innere Gewiss-
heit vertreibt mir ein bisschen die Wut.
Warum haben Sie sich eigentlich nicht
um den SPD-Vorsitz beworben?
Ha ha. Ich habe im Urlaub kurz drüber
nachgedacht. Aber der, mit dem ich hätte
antreten wollen, hat sich für eine andere
entschieden.
Frau Griefahn, trugen Sie als junge Klima-
aktivistin eigentlich auch Zöpfe?
Klar, auf dem Schiff – immer! 2
TATSÄCHLICH
BIN ICH HEUTE
SOGAR
RADIKALER
ALS
FRÜHER“
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