Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

(backadmin) #1

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er Mann kennt sich mit Räumen aus. Das
muss er auch. Schließlich gilt es in der TU
Berlin gleich drei Zimmer zu frequentie-
ren, bis die Tassen geholt, der Kaffee ge-
kocht und schließlich in Raum H4140A
der Frage nachgegangen werden kann, warum wir aufs
Auto nicht verzichten mögen. Es geht dabei auch jen-
seits von Tassen und Kaffee um eine Frage des Raums,
um Abgrenzung und psychologische Distanz, die Ste-
phan Günzel beschäftigen. Könnte es sein, dass es gar
nicht die Bewegung im Raum, die Mobilität ist, die uns
so sehr ans Auto fesselt? Könnte es sein, dass es viel-
mehr um die Privatsphäre im eigenen Fahrzeug geht,
die uns gegen die Zumutungen und Anfechtungen des
öffentlichen Raumes zu schützen vermag?

Wäre dem tatsächlich so, dann müssten die funda-
mentalen Annahmen der Verkehrspolitik grundsätz-
lich überdacht werden. Dann ginge es zwar weiterhin
darum, Menschen von A nach B zu bringen. Doch
wenn der Mensch mehrheitlich die Privatsphäre selbst
in der Bewegung gewahrt wissen will, dann sollte viel-
leicht weniger an den ökonomisch orientierten Fakto-
ren – wie schnell, wie viele, wie günstig – gearbeitet
werden, als daran, den Stress zu minimieren, den das
Zusammentreffen vieler Menschen auf wenig Raum
für die meisten bedeutet.
Doch der Reihe nach, geht es doch erst einmal dar-
um, das Wesen des Fahrzeugs von anderer Seite zu be-
leuchten – nicht nur im Sinne der Mobilität, sondern
als Teil eines jeden selbst. Günzel, Leiter des Fachbe-
reichs Medienwissenschaft an der TU, sieht das Auto
als Medium, mit dessen Hilfe wir unseren eigenen
Raum erweitern und beanspruchen mehr Platz bean-
spruchen, als es unser Körper könnte. Der Professor
bezieht sich dabei auf den Medientheoretiker Marshall
McLuhan, wenn er sagt: „Das Rad ist die Erweiterung
des menschlichen Fußes. Medien erweitern unseren
Körper und werden dadurch ein Teil desselben.“ Wer
sich also wundert, warum wir auf die Verdichtung un-
serer Städte paradox reagieren, warum wir mit immer
größeren Fahrzeugen statt mit Kleinwagen antworten:
Es handelt sich um eine natürliche, um eine instinkti-
ve Reaktion. Je mehr wir uns bedrängt fühlen, desto
stärker versuchen wir, uns Platz zu verschaffen.
„Ein einfaches Beispiel für diese Vergrößerung ist
das ‚Manspreading‘, wenn sich Männer etwa in der U-
Bahn breitbeinig hinsetzen oder ihre Tasche auf den
Nebensitz legen, damit sich niemand neben sie setzen
kann.“ Dieses Verhalten entspringt nicht unbedingt
einer gewissen Rüpelhaftigkeit oder schlechten Erzie-
hung. Es entsteht vielmehr aus dem Bedürfnis nach
Privatsphäre im öffentlichen Raum. Es ist der Versuch,
sich in einem pseudo-privaten Raum in der Öffentlich-
keit zu bewegen. Es ist genau das, was sich im Auto wie
nebenbei einstellt: ein Gefühl von Intimität.

PROXEMIKER ERFORSCHEN KÖRPERSPHÄREN
Seit den 1960er-Jahren gibt es eine Forschungsrich-
tung, die sich damit auseinandersetzt, welche Signale
wir mittels unterschiedlicher Distanzen im Raum aus-
senden, wie wir damit nonverbal kommunizieren. Es
handelt sich um die Proxemik, die auf den US-ameri-
kanischen Anthropologen Edward T. Hall (1914-2009)
zurückgeht. Sie berührt aber nicht nur anthropologi-
sche Fragen, sondern auch solche der Psychologie und
der kulturellen Hemisphären. „Wie groß sind die In-
timsphären, wie weit reicht meine Körpersphäre?“,
fragt Günzel. „Wann dringt jemand in meinen Nahbe-
reich ein?“ In dem Moment, wo man ihn riechen kön-
ne? „Oder in dem Moment, wo ich kleinste Geräusche
wie etwa seinen Atem hören kann?“ Diese Zonen wür-
den sicherlich global variieren, „aber kulturspezifische
Abstände sind feststellbar“.
Im Auto müssen wir unsere Wohlfühlzone nicht
verteidigen. „In öffentlichen Verkehrsmitteln zu fah-
ren, bedeutet dagegen immer: Ich bin im öffentlichen
Raum, andere können in meinen Privatraum, in meine
Privatsphäre eindringen, während ich im Auto diese
Abschottung habe“, sagt Günzel.

sion“ von Edward T. Hall zusammen. Sie definieren
Zonen, die den Raum für unser Wohlbefinden charak-
terisieren. Grundsätzlich gilt dabei: Je vertrauter, de-
sto näher darf uns eine Person treten. Unterteilt wird
in „intime“ (ca. 60 cm), „persönliche“ (60-150 cm),
„soziale“ (150-400 cm) und „öffentliche“ Distanz (ab
vier Meter). Bei letzterer, so Stangl, habe „jede persön-
liche Beziehung aufgehört, man agiert als Einzelner“.
Dies wäre die angenehme Distanz bei Bewegung im
öffentlichen Raum. Eine, bei der man nicht in Kontakt
treten muss. Doch die Realität überfüllter, enger öf-
fentlicher Verkehrsmittel ist eine andere. Oft kommen
wir da mit Menschen in „zu intime “ Nähe.
Edward T. Hall geht in seinen Untersuchungen aus-
führlich auf diesen spezifischen Punkt ein. „Die
grundsätzliche Taktik in solchen Situationen bestünde
zunächst einmal darin, sich so unbeweglich („immobi-
le“) wie möglich zu verhalten“, schreibt der Anthropo-
loge. Ausnahme sei der Fall, wenn sich Körper oder Ta-
schen berühren, dann werde, wenn möglich, zurückge-
zogen. „Für Mitglieder der ‚Nicht-Kontakt-Gruppe‘
(„non-contact-group“) sei es dementsprechend ein
absolutes Tabu, sich angesichts solch intimer Nähe
„zu entspannen und den körperlichen Kontakt mit
Fremden zu genießen“, so Hall.

GLASDÄCHER GEGEN KLAUSTROPHOBIEDiese
Beobachtungen der Proxemik sind nicht verhandelbar.
Wir fühlen uns einfach gestresst, wenn uns nicht ein
Minimum an Platz um uns herum bleibt – unabhängig
davon, wie viel Platz in der jeweiligen kulturellen He-
misphäre als notwendig erachtet wird.
Immerhin ermöglichen Unterhaltungsmedien den
Menschen „Partizipationspausen, um dem Zwang zur
Teilhabe zu entgehen“, sagt Günzel. Das sei ein
Grund, warum in U-Bahn oder Bus viele dem „Walk-
man-Effekt“ erliegen. Aber nicht jedem sei es damit
vergönnt, sich in die „innere Privatsphäre“ zurückzu-
ziehen. „Da die Entwicklung weiter hin zur Verdich-
tung des innerstädtischen Raumes geht, werden wir
nicht weniger, sondern mehr Autos auf den Straßen
finden“, sagt Günzel. Das Fallen der Traufhöhen, die
Aufstockung von Gebäuden, die Erschließung letzter
Brachen – all das wird das Bedürfnis des Einzelnen
nach mehr Raum vergrößern.
Begegnen ließe sich dem durch Umstrukturierung
öffentlicher Verkehrsmittel. „Wir müssen über die
Konzepte des Nahverkehrs neu nachdenken“, sagt
Günzel. Wie könnte die Sitzgestaltung aussehen, dass
sie nicht dazu verleitet, das eigene Territorium abzu-
grenzen? „Vielleicht ließen sich die Sitze etwas ver-
schachtelter bauen, damit kleine Inseln entstehen.
Vielleicht ließe sich durch Glasdächer der klaustro-
phobische Charakter entschärfen.“ Vielleicht wären
öffentliche Gelder so viel sinnvoller angelegt, als im
Durchsetzen grüner, blauer oder sonstiger Plaketten,
die Innenstädte von Abgasen und Feinstaub befreien
sollen. Der Mensch braucht schließlich nicht nur Luft
zum Atmen. Er braucht auch Luft um sich herum.

Die Autoindustrie weiß um das Alleinstellungsmerk-
mal ihres Produktes: sich in einem geschlossenen Pri-
vatraum inmitten des öffentlichen Raumes bewegen zu
können. Schon Anfang der 1990er-Jahre publizierte z. B.
Mercedes den Spot „Willkommen zu Hause“, in dem
ein Reisender, erschöpft von einer etwas lauten, schein-
bar arabischen Szenerie, sich in die Sitze eines Benz fal-
len lässt. Die Autotür fällt zu – und es herrscht himm-
lische Ruhe. Wegen des Vorwurfs der Fremdenfeind-
lichkeit zog Mercedes den Spot relativ schnell wieder
zurück. Nichtsdestotrotz traf die Werbung einen Nerv.
Noch heute finden sich auf Youtube dazu Kommentare
wie: „Ich habe einen Sch***job in einer Sch***firma!
WWWenn ich Feierabend habe und in meiner C-Klasse sit-enn ich Feierabend habe und in meiner C-Klasse sit-
ze, sage ich jedes Mal: Willkommen zu Hause!“
Für viele, sagt Günzel, sei die halbe, dreiviertel oder
ganze Stunde morgens im Auto eine Zeit zum Durch-
atmen. Einerseits den familiären Trubel hinter sich
lassend, andererseits mit dem Stress auf der Arbeit
noch nicht konfrontiert zu sein. Selbst Staus und son-
stige Verkehrsinfarkte scheinen die Erholung nicht
egalisieren zu können, die diese Privatsphäre hervor-
bringt. „Das Auto ist damit einer der letzten echten
privaten Rückzugsräume.“ My car is my castle, oder:
mein Auto, meine Regeln. Nur – wie lässt sich diese,
für viele scheinbar existenzielle Notwendigkeit im öf-
fentlichen Nahverkehr reproduzieren?
In „Distanzzonen und Territorialität – Der Umgang
mit Raum“ fasst der österreichische Psychologe Wer-
ner Stangl die vier Distanzen aus „The Hidden Dimen-

Warum wir nicht aufs Auto


verzichten wollen. Und


warum der Öffentliche


Nahverkehr für viele noch


keine Alternative ist


Allein im Auto: Für viele ist es der letzte Rückzugsort, um den Anfechtungen der Öffentlichkeit zu entkommen

GETTY IMAGES

/PETRI OESCHGER

My car


is my


castle


VON BJÖRN ENGEL

WR2 MOBILITÄT / IAA WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019

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