heumaps0517

(Ben Green) #1

TITEL


Die Rolle des Schicksals
Wenn wir unser Leben als Ganzes betrachten, ver-
suchen wir im Grunde, ihm einen Sinn abzugewin-
nen. Bei dieser Sinngebung stoßen wir unweigerlich
auf die Momente, in denen wir falsche Entscheidun-
gen getroffen oder wichtige Gelegenheiten verpasst
haben. Und wir fragen uns: Musste es wirklich so
kommen, wie es kam? Wenn wir diese Frage bejahen,
messen wir dem Schicksal eine wichtige Rolle zu.
Dadurch entlasten wir uns zumindest etwas davon,
für folgenreiche Fehler selbst verantwortlich zu sein.
Der Entwicklungspsychologe Albert Bandura hat
schon 1982 auf die enorme Rolle des Zufalls in un-
serer Biografie hingewiesen. In seinem Artikel Die
Psychologie von Zufallsbegegnungen und Lebenswegen
stellt er fest, dass jedes Leben durch eine Zufallsbe-
gegnung in eine völlig neue Richtung gedreht werden
könne.
Menschen unterscheiden sich allerdings erheblich
darin, welche Rolle sie einem wie immer gearteten
Schicksal oder dem Zufall zubilligen. Wer häufig
kontrafaktisch denkt – also im Modus „Hätte ich
doch!“ oder „Was wäre gewesen, wenn...?“ –, ver-
wirft den Schicksalsglauben und hängt eher der Idee
eines freien Willens an. Mit der Folge, dass er mit-
unter Reue oder Bedauern über vermeintliche Fehler
oder Versäumnisse empfindet – aber auch Stolz auf
die „richtigen“ Weichenstellungen.
Sind also Schicksalsglaube und die Überzeugung,
frei über sein Leben entscheiden zu können, strikte
Gegensätze? Keineswegs, hat der Sozialpsychologe
Neal Roese in einer Untersuchung herausgefunden:
Zu etwa einem Viertel bestimme das Schicksal den
Lebensweg, glaubten seine Versuchspersonen, und
für drei Viertel dessen, was einem widerfährt, sei
man selbst verantwortlich.
Auch ist die „Schicksalsidee“ nicht eindeutig. Die
Psychologen Maia Young (Stanford University) und
Michael Harris (Columbia University) haben zwei
Spielarten entdeckt: Manche Menschen glauben an

ein von Gott kontrolliertes Schicksal (deity control),
andere eher an eine abstrakte Größe, an ein Fatum
(destiny control). Etwa in Gestalt einer unbestimm-
t e n , k o s m i s c h e n K r a f t. S c h i c k s a l k a n n a b e r a u c h v o m
„Karma“ (dem Denkschema, dass man für seine Ta-
ten in einem früheren Leben bestraft oder belohnt
wird) oder den Sternen (Astrologie) ausgehen. Der
Unterschied zwischen beiden Formen: Mit Gott lässt
sich reden. Seine Beschlüsse sind nicht unumstöß-
lich, man kann mit ihm „verhandeln“. Deshalb lässt
sich Gottesglaube durchaus mit kontrafaktischem
Denken vereinbaren. Denn Gottes Wege sind eben
manchmal rätselhaft, und er gewährt uns auch Frei-
heiten, die wir nutzen können – oder eben nicht.
Nicht so das Fatum: Dieses Schicksal ist in einem
„großen Buch“ oder Plan fixiert, vorbestimmt, un-
verrückbar. Deshalb ist dieser Glaube oft eine Last


  • beispielsweise in Liebesdingen. Denn wenn etwas
    vorbestimmt ist, muss man auch den vom Schicksal
    bestimmten „perfekten“ Partner finden, den hun-
    dertprozentig richtigen Job, den passenden Wohnort
    und so weiter.


Zu seinen Entscheidungen stehen
Menschen denken heutzutage öfter und intensiver
über ihre Möglichkeiten und Chancen nach. Denn
wir leben in einer Zeit, in der persönliches Wachs-
tum, das Ausschöpfen der eigenen Potenziale und
Begabungen zentrale Ideen sind: Mach das Beste aus
dir! Weil das prinzipiell möglich erscheint (zumin-
dest suggerieren uns das die Ideologien des Indivi-
dualismus und Neoliberalismus), entsteht etwas, das
die Soziologen „biografischen Gestaltungsdruck“
nennen: Du bist selbst für deinen Erfolg, dein Glück
verantwortlich!
Die Arbeitspsychologin Tabea Scheel von der Uni-
versität Leipzig sagt: „Es gibt heute für jeden unzäh-
lige Möglichkeiten, und wir überprüfen ständig, ob
wir in unserem Leben etwas verändern sollten. Der
Druck zur Selbstoptimierung ist größer geworden.
Wer nicht alle Möglichkeiten ausschöpft, gilt als ge-
scheitert.“
Sein Wunschleben nicht verwirklichen zu können,
nichts „Besonderes“ zu sei n w ird of t a ls Bed rohu ng,
als „Verschwendung“ erlebt. Vor allem wenn wir in
der Gegenwart gefrustet und gestresst sind oder et-
was Wichtiges fehlt – etwa Autonomie, Abwechslung
oder Anerkennung im Job oder Zärtlichkeit und Ge-
duld beim Partner –, malen wir uns andere Optionen
in den schönsten Farben aus. Die Forschung zeigt

Wenn wir gefrustet sind


oder etwas Wichtiges fehlt,


malen wir uns andere Optionen


aus. Das aber verschlechtert


die Situation oft noch mehr


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