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wieder, setzt Kreativität frei. Lässt sich
diese Erfahrung auf die Lebensplanung
übertragen? Können wir den eigenen Le-
bensentwurf als Skizze sehen, können wir
darauf verzichten, nicht alles bis zum En-
de durchzubuchstabieren und zu entschei-
den? Sind wir fähig, das Leben nicht heu-
te schon als fertiges Gemälde zu sehen,
das bereits im Planungsstadium bis ins
kleinste Detail vollendet sein muss, son-
dern als unfertigen Entwurf?
Ein Gedanke, der so gar nicht in die
Z e i t p a s s t. S c h l e n d e r t m a n i n e i n e r B u c h -
handlung an den Regalen mit Lebens-,
Karriere- und Erfolgsratgebern vorbei,
wird die Botschaft schnell deutlich: Alles
kann, die richtige Planung und Kompe-
tenz vorausgesetzt, perfekt ablaufen: Aus-
bildung, Job, Beziehung, Familie, Freund-
schaft. Expertise, Rat und Checklisten
gibt es im Überfluss. Wem das nicht
reicht, der kann zusätzlich Seminare bu-
chen, Blogs verfolgen oder einen Coach
engagieren. Kaum abzusehen, dass dieses
Überangebot jemals wieder versiegen
wird. Denn parallel zum Beratungsmarkt
steigen auch die Erwartungen an ein ge-
lingendes Leben immer weiter. Sie befeu-
ern das Gefühl, man müsse nur an den
richtigen Stellschrauben drehen, um ei-
nen sicheren Platz auf der Sonnenseite zu
haben.
Es steht einem offen, alles ganz
anders und viel besser zu machen
als die eigenen Eltern
Dass wir daran glauben wollen, ist kein
Wunder – möchte sich doch jeder im Al-
ter einmal zurücklehnen und sagen kön-
nen: „Ich habe vielleicht nicht alles, aber
doch das Meiste richtig gemacht. Unterm
Strich war es ein Erfolg.“ Und die Chan-
cen dafür sind heute so gut wie nie, denn
mit dem rasanten gesellschaftlichen Wan-
del der Moderne ist eine Enttraditionali-
sierung und Individualisierung verbun-
den. Lebensläufe sind nicht mehr vorge-
geben. Man kann alles ganz anders und
viel besser machen als die eigenen Eltern,
als Schul- und Studienfreunde – und da-
mit enormen Erfolg haben. Das Problem:
So verheißungsvoll diese Freiheiten auf
der einen Seite sind, so sehr kann der
Druck andererseits in übertriebenem Per-
fektionismus münden. Zumal wir heute
unser Leben wie nie zuvor mit anderen
teilen, dieses Gelingen also auch öffentlich
wird. Der Freundeskreis schaut über die
sozialen Medien zu, verfolgt Höhepunk-
te und Niederlagen in Echtzeit mit, was
den Ehrgeiz zusätzlich anstachelt.
Die Folgen sehen Kliniker und Thera-
peuten dann in der Praxis. Nils Spitzer
ist Psychologischer Psychotherapeut mit
dem Schwerpunkt kognitive Verhaltens-
therapie. In seiner Praxis erlebt er immer
wieder, wie ein gesellschaftliches Opti-
mierungsfieber und übergroße Leistungs-
bereitschaft zunehmend mehr Menschen
psychisch belasten. „Sie trainieren bis zum
Umfallen, hungern sich halb zu Tode, ver-
wandeln sich mit Psychopharmaka in
energiegeladene gut gelaunte Tempera-
mentsbolzen, bearbeiten Falten mit Ner-
vengift oder lassen sich chirurgisch in
Form bringen, wenn die Yogakurse nicht
mehr ausreichen. Der Kampf um das Op-
timale, um die eigene Perfektion hat im
Moment seinen vorläufigen Höhepunkt
erreicht.“ Und dieser Optimierungswahn
betreffe nicht nur Körpertuning und
Hirndoping, sondern eben auch die Ge-
staltung der eigenen Biografie, gerade wo
das eigene Leben immer weniger allge-
meine Vorgaben hat und individuell frei
gestaltbar ist. „So ist das Gelingen der ei-
genen Biografie gleichbedeutend mit dem
Verwirklichen eigener Ziele. Und im Zu-
ge einer Vorstellung vom optimalen Leben
werden diese sehr hoch angesetzt.“
Raphael Bonelli ist Psychiater und Neu-
rowissenschaftler an der Sigmund-Freud-
Privatuniversität in Wien, Facharzt für
Neurologie und systemischer Psychothe-
rapeut. In seinem aktuellen Buch Perfek-
tionismus erzählt er Fallgeschichten aus
der eigenen Praxis von Patienten im
Schönheits-, Schlankheits-, Leistungs-
und Gesundheitswahn. Auch seine Dia-
gnose lautet: Ob in Erziehung, Ehe oder
im Job – immer wollen wir alles richtig
machen und scheitern oft an den eigenen
Ansprüchen. Sein Fazit: Es hilft enorm,
sich seiner Fehlerhaftigkeit und Durch-
schnittlichkeit bewusst zu sein und sich
darin anzunehmen. Das Ja zu den eigenen
Schwächen sei letztlich der Königsweg
zum Glück. Das heißt nicht, dass man je-
den Ehrgeiz aufgeben müsste, nur eben
den elementaren Unterschied erkennen
sollte zwischen gesundem Ehrgeiz und
krankmachendem Perfektionismus.
Können wir
unser Leben als
unfertige Skizze
sehen? Können wir
darauf verzichten,
nicht alles perfekt
zu planen?