heumaps0517

(Ben Green) #1

A


ls ich vor ein paar Monaten aus der
Straßenbahn aussteigen wollte,
stand eine Gruppe Jugendlicher vor
der sich öffnenden Tür, und einer
von ihnen sagte laut und deutlich
mit Blick auf meine Person: „Lass zuerst einmal die
alten Leute aussteigen.“ Und ich dachte: Nanu, so
wirst du jetzt mit deinen 62 Jahren also wahrgenom-
men. Ich hatte meinen senior moment, wie das in der
Forschung genannt wird. Bin ich dankbar dafür?
Nein, es ist mir eher unangenehm. Lehne auch ich
mein eigenes Alter ab? Ich glaube schon, und ich
spüre heimlichen Stolz, wenn jemand sagt: „Was, Sie
sind schon über 60? Das hätte ich aber nicht gedacht!“
Obwohl Altersforscher, bin auch ich natürlich
nicht gefeit vor negativen Altersstereotypen. Diese
sind ziemlich tief in uns allen verankert. Doch neu-
este psychologische Befunde legen nahe, dass sich
unser Verständnis vom Altern in Zukunft gravierend
verändern wird. Das liegt auch daran, dass wir heu-
te über umfassende wissenschaftliche Erkenntnisse
verfügen, die auf Längsschnittstudien mit sehr lan-
gen Beobachtungszeiträumen beruhen. So liegen erst
seit kurzem Ergebnisse vor, die unterstreichen, wie
wichtig unsere eigenen Bewertungen des Älterwer-
dens für den Verlauf des Alterns und sogar für die
Länge des Lebens sind. Der banale Satz „Ich bin so
alt, wie ich mich fühle“ ist inzwischen wissenschaft-

lich belegt. Auch wird zunehmend deutlich: Das jun-
ge Alter, also etwa zwischen dem 60. und dem 80. Le-
bensjahr, muss heute im Sinne einer qualitativ völlig
neuen Lebensphase gedeutet werden.

Wir haben eine lange und sichere
Lebenserwartung
Es ist eine fast revolutionäre Botschaft: Menschen
werden in historisch relat iv kurzer Zeit immer ä lter.
In Deutschland liegt die Lebenserwartung bei Geburt
für Männer derzeit bei rund 79 Jahren, für Frauen
bei rund 83 Jahren. In dem relativ kurzen Zeitraum
von etwa 40 Jahren hat sich die Lebensspanne in
Deutschland um deutlich mehr als zehn Prozent ver-
längert. Und wir gewinnen pro Jahr etwa weitere drei
Monate an Lebenserwartung hinzu; die heute neu-
geborenen Mädchen werden aller Voraussicht nach
zu etwa 50 Prozent das Alter von 100 Jahren errei-
chen; bei den Jungen liegt die Zahl auch nicht viel
niedriger.
Folgt man der weithin akzeptierten Lebenslauf-
einteilung, so ist die Kindheit die Phase etwa zwi-
schen 0 und 12 Jahren, die Jugendphase wird heute
häufig bis 25 Jahre, bisweilen sogar bis Ende zwanzig
angesetzt, das junge Erwachsenenalter dann zwischen
25 und 45 Jahren und das mittlere Alter zwischen 45
und 65 Jahren. Keine dieser Phasen ist also länger
als 20 Jahre – ganz im Gegensatz zur späten Lebens-

SERIE: ANDERS ALT WERDEN

Was heißt hier alt?


Vergessen Sie, was Sie bislang über das Altwerden gedacht haben.


Die neue Psychologie dieser Lebensphase zeigt:
Wir werden heute anders und besser alt als die Generationen
vor uns. Und: Die Alten gibt es nicht mehr

VON HANS-WERNER WAHL

ILLUSTRATIONEN: LINDA WÖLFEL
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