heumaps0517

(Ben Green) #1

D


ie K l a ge , e s we rd e v ie l z u
viel geschrieben, hörte
man schon zu Zeiten, da
eine überschaubare An-
zahl von Schreibenden
für eine deutliche Mehrheit von Lesern
aktiv war. Sie ist jetzt noch lauter gewor-
den, denn dieses Verhältnis scheint sich
gegenwärtig umzukehren. Besorgte
Beobachter vermuten, dass es viel-
leicht schon mehr Schreibende als
Lesende gibt, und fragen, wo diese
Entwicklung hinführen soll. Wird
Schreiben etwa für immer mehr
Menschen zu einem Selbstzweck?
Wenn ja, so muss das keineswegs be-
deuten, dass sie darauf verzichten,
gelesen zu werden.
Inzwischen sind sie überall, die
Schreibenden. Noch immer meist
unsichtbar in ihren vier Wänden,
geben sie sich aber auch zunehmend
im öffentlichen Raum zu erkennen.
Sie sitzen mit ihren ausgebreiteten Papie-
ren in Cafés oder haben ihre Laptops auf
Schwimmbadwiesen und in Parks geöff-
net. Sie bleiben in der Fußgängerzone ste-
hen, zücken ein Notizheft und tragen et-
was ein. Sie finden Förderer und Gleich-
gesi n nte u nd a rbeiten i n Gr uppen, i n de-
nen sie sich wechselseitig der Kritik stellen.
Sie schreiben nicht mehr bloß für die
Schublade. Sie entdecken sich gegenseitig
und verstehen ihr Schreiben als Passion.
Und sie suchen den Erfolg, denn das eine
schließt das andere nicht aus.
Selbstverständlich existiert in dieser
Szene inzwischen eine mehrspurige Aus-
bildungsstrecke. Kurse im kreativen
Schreiben werden von spezialisierten
Trainerinnen und Trainern im ganzen
Land angeboten und von Interessierten
aller Altersstufen genutzt. Nicht wenige
Menschen träumen schon lange davon zu
schreiben und können jetzt gegen Gebühr
lernen, wie man seinen Alltag zur Erfül-
lung dieses Wunsches umbaut und was
es heißt, kontinuierlich zu schreiben.
Schriftsteller bieten exklusive Kurse an,
bei denen die Textauszüge der Teilneh-
menden live und vor Publikum analysiert
werden. Einschlägige Zeitschriften infor-

mieren darüber, wann und wo Seminare
und Veranstaltungen zum kreativen
Schreiben stattfinden. Firmen optimieren
ihre Mitarbeiterkompetenzen durch den
systematischen Einsatz von Schreibtrai-
nern, und auch der Tourismus hat sich
bereits auf das Phänomen eingestellt. Ei-
nige Hotels der höheren Kategorie bieten
Coachings im Schreiben an, bei denen
die Gäste in kleinen Gruppen eigene
Texte erstellen, die dann gemeinsam
kritisiert und diskutiert werden.
Schreiben ist zu einer weithin ak-
zeptierten Beschäftigung geworden,
mit der man glaubt, in hohem Maße
sinnvoll seine Zeit gestalten zu kön-
n e n. D o c h s o p r i v a t u n d s e l b s t g e n ü g -
sam, wie sie auf der Ebene der Laien
zunächst erscheinen mag, muss die-
se Beschäftigung keineswegs bleiben.
Neue Publikationswege hat längst
das Internet eröffnet. Wer als Autor
zum etablierten literarischen Betrieb
nicht vorgelassen wird, kann heute mit
wenig Aufwand auf eigene Faust publi-
zieren. Selfpublishing bietet die Möglich-
keit, sich ohne Hilfe eines Verlags zu einem
Autor zu machen, dessen Texte man auf
bekannten Verkaufsplattformen online
erwerben kann. Meist werden die ein-
schlägigen Genres wie Historienroman,
Krimi oder Fantasy von diesen Selfmade-
autoren bedient. Immerhin winkt ein Ver-
dienst von 50 bis 70 Prozent vom Verkaufs-
preis. Nicht selten erweisen sich so veröf-
fentlichte Werke als Überraschungsbest-
seller, was dann wiederum das Interesse
der etablierten Verlage wecken kann. Mit
etwas Glück kann Selfpublishing die Ein-
gangspforte zum literarischen Markt sein.
Doch beim Wunsch zu schreiben, der
hinter all diesen Aktivitäten steht, geht es
vielen zunächst gar nicht um den zählba-
ren Erfolg und das schnelle Publizieren.
Ebenso wenig hat dieses Bedürfnis seine
Wurzeln in einer mutierten Bildungsbe-
f lissenheit oder in einem diffusen Kunst-
wollen. Es ist vielmehr tief in der menta-
len Bedürfnislage der Gegenwart veran-
kert. Dabei repräsentiert es zwei nicht
recht zusammengehörige Seiten einer Me-
daille. Die eine Seite ist die einer schöp-

Mit Schreiben


wollen viele ihre


Zeit sinnvoll


gestalten. Doch


so privat und


selbstgenüg-


sam muss diese


Beschäftigung


nicht bleiben


ILLUSTRATIONEN: JONI MAJER

Free download pdf