heumaps0517

(Ben Green) #1

ferischen Illusion, die andere die der rea-
len Umsetzung. Wie groß die Kluft zwi-
schen diesen beiden Ebenen ist und wie
tief sich der Graben zwischen Anspruch
und Wirklichkeit öffnet, davon machen
sich die Schreibwilligen anfangs oft gar
keine Vorstellung.
Gerade die in der Gesellschaft überall
thematisierten Fragen nach der Kreativi-
tät und der Kompetenz zu eigenständiger
Originalität führen hier schnell aufs Glatt-
eis. Schreiben zu können, so zeigt sich
demjenigen, der vom Schreiben träumt,
ist weder eine Frage der subjektiven Ge-
nialität noch der spontanen Einfälle und
Lustzustände. Wer heute großes Verlan-
gen verspürt, einen Roman zu schreiben,
hat dieses morgen vielleicht schon wieder
verloren. Der Plot, der einem am Abend
noch als plausibel und reizvoll erschien,
wirkt in der Früh gewöhnlich und belang-
los. Wer auf das eigene Talent oder gar die
genialische Ader baut, wird sich schon auf
der ersten selbst geschriebenen Seite fra-
gen, was genau er oder sie bisher eigentlich
darunter verstanden hatte. Kurz: Um zu
schreiben, bedarf es langer, beharrlicher
Übungen sowie einer auf wachsende
Vielschichtigkeit angelegten kontinuier-
lichen Arbeit. Und eben diese Notwen-
digkeiten prallen frontal auf den Wunsch
zu schreiben als Illusion, die der Zeitge-
nosse aus seinen eigenen Bedürfnissen
entwickeln mag.


Verpflichtung, die eigene
Kreativität fördern zu müssen


Die illusionäre Seite dieses Wunsches ent-
springt zweifellos dem Gefühl der Ver-
pf lichtung, die eigene Kreativität fördern
und fruchtbar machen zu müssen. Wur-
de die Befähigung zur Kreativität einst nur
den Künstlern zuerkannt, gilt sie in der
westlichen Welt seit längerem schon als
ein zentraler Punkt im Katalog der For-
derungen des Menschen an sich selbst. Der
Arbeitskraftunternehmer, wie Soziologen
den heutigen Typus des abhängig Beschäf-
tigten nennen, ist darauf angewiesen,
ständig außergewöhnliche Leistungen zu
erbringen, die er aus seinen individuellen
Kompetenzen heraus entfalten soll.


Der schöpferische Anspruch an sich
selbst führt dazu, dass das im Wettbewerb
mit allen anderen stehende Ich sich als ein
kreatives Zentrum begreift und sich daher
über das Arbeitsleben hinaus zu einer
künstlerischen Tätigkeit befähigt fühlt.
Diese stellt sich im Gegensatz zu den An-
forderungen der Erwerbswelt aber gerade
nicht als arbeitsteilig dar, sondern ist da-
rau f aus, ei n i nteg ra les Produ k t, nä m l ich
den eigenen Text und im besten Falle das
gedruckte Buch zu schaffen. Das Siegel
darauf wäre die Nennung des eigenen Na-
mens auf dem Cover.
Der Reiz der strikten kreativen Aus-
richtung wird noch dadurch gesteigert, dass
der Wunsch zu schreiben das Versprechen
einer grundlegenden Ref lexion des eige-
nen Lebens mit sich führt. Schreiben wird
dann auch als Prozess einer Zwischenbi-
lanz begriffen, von der aus das eigene
Schicksal eine neue Wendung nehmen
könnte. Dieser Aspekt trifft gerade auch
auf ältere Schreibwillige zu, die verstärkt
Anlass zur Bilanzierung sehen und sich
zugleich neue Horizonte erschließen
möchten.

Bedeutet Schreiben,
sich neu zu erfinden?
Das Verlangen nach Schrift und Schreiben
will nicht nur den schon bestehenden Tex-
ten weitere hinzufügen. Als Manifestati-
on des Ich zielt es vielmehr über den lite-
rarischen Rahmen hinaus. Der französi-
sche Essayist und Vordenker des Schreib-
begehrens Roland Barthes meint, dass der
Wunsch zu schreiben ursächlich mit der
Erwartung eines neuen Lebens in Zusam-
menhang stehe. Dieser Impuls könne das
Tor zu einer Zukunft aufstoßen, deren
Möglichkeiten man vielleicht noch gar
nicht sieht und noch nicht einmal ahnt.
Mit dem Schreiben anzufangen bedeute
daher, den Blick auf Veränderungen des
eigenen Lebens zu richten, deren Richtung
noch unbekannt ist. Eine eigene Schreib-
weise zu finden heißt womöglich, sich neu
zu erfinden.
Unter diesen Aussichten entsteht ein
mehr und mehr vom Schreibwunsch ge-
prägtes Selbstbild. Dabei begreift sich das

Der Graben


zwischen


Anspruch und


Wirklichkeit:


Ein Plot, der


am Abend


noch plausibel


erschien, wirkt


in der Früh


gewöhnlich


und belanglos

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