heumaps0517

(Ben Green) #1

E


in Radfahrer rammt in Aschaffenburg
einem Fußgänger im Vorbeifahren ein
Messer in den Rücken. Täter und Op-
fer kannten sich gar nicht, wie ein Po-
lizeisprecher sagte. Der Fußgänger
musste schwer verletzt ins Krankenhaus. Im Luzer-
nischen tötet ein Mann auf offener Straße seine Ehe-
frau, weil er sie – fälschlicherweise – des Ehebruchs
verdächtigte. Die Explosion einer Handgranate nahm
einem Achtjährigen in Göteborg das Leben; ein Un-
bekannter hatte den Sprengkörper einfach durch das
Fenster eines Mehrfamilienhauses geworfen. An ei-
ner Schule in Euskirchen wurde ein Zwölfjähriger
lebensgefährlich verletzt – von einem anderen Kind.
Auslöser war ein gänzlich banaler Streit um ein Kar-
tenspiel. Die Polizei im breisgauischen Freiburg warnt
vor einem Unbekannten, der Schnellspanner an der
Radauf hängung von Fahrrädern löst oder Bremslei-
tungen durchschneidet, damit die Fahrenden stürzen.
In der Berliner U-Bahn-Station Hermannplatz wird
eine junge Frau grundlos die tiefe Treppe zum Bahn-
steig hinuntergetreten. Benjamin Jendro, Berliner
Sprecher der Polizeigewerkschaft GdP, sagt zu den
Aufnahmen: „Der Vorfall zeigt auf brutale und er-
schütternde Weise, wie schnell jeder an jedem Ort
in dieser Stadt Opfer sinnloser Gewalt werden kann.“
Auch wenn Experten darauf hinweisen, dass die
Zahl der gemeldeten Körperverletzungen seit Jahren
zurückgeht – allein die aufgeführten Meldungen,
Schlagzeilen und deren Kommentierungen aus der
letzten Zeit zeigen: Der Umgang wird rauer – Gewalt
ist normal geworden und schafft damit eine neue,
höchst missliche Qualität des Alltäglichen. Hinzu
kommt, was sich gar nicht mehr in den Schlagzeilen
findet: die täglichen Einbrüche, Schlägereien, Mes-
serstechereien, Anpöbelungen oder körperlichen
Übergriffe. Summiert ergibt das die strukturelle Ver-
änderung von Alltäglichkeiten. Was noch vor kurzer
Zeit selbstverständlich war, ist es mit einiger Plötz-
lichkeit nicht mehr; man überlegt sich, wann und
wo man durchgeht und sich auf hält; man rückt vom
Nachbarn in der Bahn ab; man dreht sich vermehrt
um. Das Sicherheitsbedürfnis nimmt zu und zum
Teil alltagsneurotische Züge an. Zygmunt Bauman,
der Anfang Januar 2017 verstorbene polnisch-engli-
sche Soziologe, notierte: „Das gesellschaftliche Leben

verändert sich, wenn die Menschen hinter Mauern
leben, Wachen engagieren, gepanzerte Autos fahren,
Tränengas oder Pistolen mit sich herumtragen und
K a m p f s p o r t b e t r e i b e n. D a s P r o b l e m a t i s c h e a n d i e s e n
Verhaltensweisen ist, dass sie das Gefühl der Unord-
nung, das wir mit ihnen bekämpfen wollen, bestäti-
gen und mit erzeugen.“
Respekt- und Rücksichtslosigkeit führen zu einem
Verlust an Empathie und Nächstenliebe, Eigenschaf-
ten, die Sigmund Freud einst als Eckpfeiler unserer
Zivilisation bezeichnete. Ein Beispiel: Der Baselbie-
ter Busfahrer Oliver Wyss beklagt die Degeneration
seines einstigen Traumberufs: „Die Ausraster der
Passagiere sind kaum mehr zu ertragen. Langsam
nehmen sie mir die Freude am Busfahren.“ Wyss be-
richtet, wie an einer Haltestelle eine ältere Frau mit
ihrem Rollator wartet. Er steigt aus und hilft ihr. Als
sie zwei Stationen später den Bus verlässt, ist der Fah-
rer erneut zur Stelle. Für den Chauffeur eine Selbst-
verständlichkeit, für die Buspassagiere offenbar nicht.
„Ich sei ein Arschloch und solle endlich losfahren
und die verlorene Zeit einholen.“ Oder: Die Essener
Polizei ermittelt gegen vier Personen, die im Vorraum
einer Bankfiliale einen zusammengebrochenen
Mann ignorierten; sie gingen nah an dem Hilf losen
vorbei oder „stiegen hinüber, um ihre eigenen Fi-
nanzgeschäfte durchzuführen“, heißt es im Polizei-
bericht. Erst nach 20 Minuten rief jemand die Ret-
tung. Zu spät: Der 82-Jährige starb im Spital.
Anfang Dezember 2016 kam es auf einem Flug
von München nach Punta Cana in der Karibik zu
einem gravierenden Zwischenfall: Ein Passagier er-
litt plötzlich einen Schlaganfall. Der Pilot setzte in
Neufundland zur Zwischenlandung an, um den Pa-
tienten medizinisch versorgen zu lassen. Diese mit-
menschliche Normalität erregte bei den Mitreisenden
statt Verständnis und Mitgefühl Ärger und Kritik
ob der zu erwartenden Verspätung im „Urlaubspa-
radies“.
Der Respekt vor einstigen
Autoritäts personen erodiert
„Wir werden beschimpft, bespuckt, getreten oder als
Vollidioten hingestellt“, beschreibt ein Berliner Leh-
rer seinen Alltag. Als eine bayrische Lehrerin mor-
gens zur Arbeit kommt, liest sie am Eingang zur Dorf-
schule: „Drecksschule! Fickt euch, ihr Lehrergesindel,
ihr Untermenschen.“ Ein Einzelfall sei das nicht –
ganz im Gegenteil, kommentiert die Präsidentin des
Bayerischen Lehrerverbandes. Auf den Schulhöfen

ILLUSTRATIONEN: DOROTHEA PLUTA

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