Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

wältigt vom Gefühl, eine Epo-
chenschwelle zu überschreiten.
Im Rückblick auf das akademi-
sche „annus mirabilis“ 1989/90
aber fällt auf, wie früh Skepsis
sich in ihren Enthusiasmus
mischte. In seinem Vortrag mit
dem Titel „Wird der Westen das
universelle Modell der Mensch-
heit?“ warnte der französischen
Anthropologe Maurice Godelier,
der Westen liefe Gefahr „eines
Tages durch seine eigenen Wi-
dersprüche und Zweideutigkei-
ten historisch überholt zu sein.“
In den kommenden dreißig Jah-
ren sollte aus der Warnung Wirk-
lichkeit werden.
Auch wenn bereits im Grün-
dungsjahr 1981/82 vier polnische
Gelehrte ans Wissenschaftskol-
leg kamen, blieb die Einladung
von Fellows aus Ost- und Mittel-
europa nach (West)Berlin
schwierig. Das sollte sich nach
1989 ändern – und brachte neue
Probleme mit sich. Viele der aus
den Ländern des früheren War-
schauer Pakts eingeladenen Wis-
senschaftler wollten im Westen
bleiben. Als Reaktion auf den
„brain drain“ starteten wir das
Programm „brain remain“.
Mit dem Wissenschaftskolleg
als Basis und in einem europäi-
schen Verbund öffentlicher und
privater Stiftungen halfen wir in
Mittel- und Osteuropa For-
schungskollegs zu bauen, die at-
traktiv genug sein sollten, um
einheimische Gelehrte zum Blei-


ben zu bewegen und gleichzeitig
exzellente Wissenschaftler aus
anderen Ländern anzulocken. So
entstanden „freie geistige
Tauschplätze“, wie Jacob Burck-
hardt sie genannt haben würde,
das Collegium Budapest, das
New Europe College (NEC) in
Bukarest, das Centre for Advan-
ced Study (CAS) in Sofia und die
Bibliotheca Classica in Sankt Pe-
tersburg.
Ein Satz, den wir uns nicht nur
verboten zu sagen, sondern auch
zu denken, hieß: „Wir kommen,
um zu helfen.“ Nicht herablas-
sende Caritas leitete uns, son-
dern Neugier. Wir wollten nicht
belehren, sondern durch neue
Erfahrungen lernen. Fern lag uns
der Imitationszwang, den Kras-
tev und Holmes anprangern. Die
Geschichte unseres Engage-
ments in Mittel- und Osteuropa
kann nicht zur Entlastung westli-
cher Arroganz dienen. Sie zeigt
aber, dass es – im Gegensatz zur
Wirtschaft – in den Wissenschaf-
ten Alternativen zu einer Ent-
wicklung gab, die vom überhebli-
chen Liberalismus des Westens
zum aggressiven Illiberalismus
des Ostens führte.
1989 begann für uns ein Lern-
abenteuer. In Bukarest gaben die
sichtbare Gegenwart der Ortho-
doxie und das Erbe Ost-Roms
dem Nachdenken über die Rolle
der Religion in der Moderne eine
neue Sicht. Von Kollegen in
Sankt Petersburg erfuhren wir,
dass Griechisch und Latein alles
andere als tote Sprachen waren,
sondern dass sie ein lebendiges
Medium der Kommunikation ge-
bildet hatten, in dem auch unter
einem kommunistischen Regime
der freiheitliche europäische
Geist überwintern konnte. In alt-
modisch anmutenden Formen
der Gelehrsamkeit waren geisti-
ge Energien gespeichert, die hal-
fen, den Wandel zur Freiheit zu
beschleunigen.
In Budapest aber lernten wir
auch, wie sehr nationale Stereo-
typen und Ressentiments wirk-
sam geblieben waren und histori-
sche Traumata über Generatio-
nen hinweg schmerzhaft über-
lebt hatten. Ende 1989 war ich
nach Budapest gekommen, um
die Chancen auszuloten, dort
nach dem Vorbild des Wissen-
schaftskollegs das erste Institute
for Advanced Study in Mittel-
und Osteuropa zu errichten.
Der zuständige ungarische Mi-
nister warnte, die große Zahl der
jüdischen Kollegen, mit denen
wir kooperieren wollten, werde
uns Probleme bereiten. So kam
es. Ein unterschwelliger Antise-
mitismus begleitete die gegen
das Collegium Budapest gerich-
teten Attacken der ungarischen
Nationalisten, die empört waren,
dass eine liberal-westliche Insti-
tution ihren Platz in Buda in un-
mittelbarer Nachbarschaft der
Matthiaskirche fand, in der unga-
rische Könige gekrönt worden
waren.
Später traf ich einen Abgeord-
neten, der gleichzeitig Professor
für Geschichte an der Budapester

Eötvös Loránd-Universität war.
Nach dem Fall des Kommunis-
mus, so machte er mir erregt
klar, sei es nun höchste Zeit, die
nach dem Ende des Ersten Welt-
kriegs geschlossenen Pariser Vor-
ortverträge neu zu verhandeln
und insbesondere die „schändli-
chen Abmachungen“ des Frie-
densvertrages von Trianon zu re-
vidieren.In diesem Vertrag war
Ungarn 1920 gezwungen worden,
große Teile seines Staatsgebiets
mit über drei Millionen Einwoh-
nern an die Nachbarn abzutre-
ten. Krastev und Holmes zitieren
die Rede, die Viktor Orbán am 16.
März 2018 zum 170. Jahrestag der
ungarischen Revolution von 1848/
49 hielt. Darin erinnerte er an
Trianon und den ungarischen
Wunsch nach einer Revision des
Vertrags.
Dieser Revisionismus aber
wurde nicht durch eine westliche
„Nachahmungspolitik“ provo-
ziert, welche die Ungarn der Er-
innerung an ihre eigene Ge-
schichte berauben wollte. Die
Aufhebung des Vertrages von
Trianon wurde, wie ich erfahren
hatte, in Ungarn bereits Anfang
der Neunzigerjahre gefordert.
Damals war ein junger Viktor
Orbán, der mit Hilfe von George
Soros in Oxford studiert hatte,
noch ein Verfechter freiheitlich-
liberalen Denkens. 1994 wurde
auf Initiative des Wissenschafts-
kollegs zum ersten Mal der „New
Europe Prize“ verliehen. Drei
amerikanische und drei europäi-
sche Institute hatten ihn gestif-

tet, mit dem Preisgeld sollte Wis-
senschaftlern aus Mittel- und
Osteuropa die Gründung unab-
hängiger Forschungsinstitute in
ihrer Heimat ermöglicht werden.
Die ersten Preisträger waren der
russische Altphilologe Alexander
Gavrilov und der rumänische
Philosoph und Kunsthistoriker
Andrei Pleşu. So entstanden die
Biblioteca Classica in Sankt Pe-
tersburg und das New Europe
College in Bukarest.
In seiner Dankesrede betonte
Pleşu zu unserer Verblüffung,
wie sehr dem Diktator Ceauşescu
dieser Name gefallen hätte: Preis
des Neuen Europa. Den Rumä-
nen hatte man befohlen, im Alten
das Schlechte und im Neuen das
Gute zu sehen. So verbanden sie
schließlich alles Neue mit der
Diktatur. Dissidenten waren im
Namen der „Neuen Politik“ in-
haftiert, Traditionen mit Hinweis
auf die „Neue Kultur“ zerstört,
Bauerndörfer im Namen der
„Neuen Siedlungspolitik“ abge-
rissen worden. Pleşu bedankte
sich – und sprach von einem
Preis, den er noch lieber erhalten
hätte: den Preis des Alten Euro-
pa. Andrei Pleşu war nicht nur
Wissenschaftler, sondern auch
Politiker. Das Ceauşescu-Regime
hatte ihn aus Bukarest aufs Land
verbannt, weil er mit dem oppo-
sitionellen Dichter Mircea Dines-
cu Kontakt hatte. Nach der Revo-
lution war Pleşu bis 1991 Kultur-
minister, von 1997 bis 1999 unter-
brach er sein Rektorat am NEC
und wurde als Parteiloser Außen-

minister Rumäniens. Andrei
Pleşu gehört – um eine andere
Vokabel Jacob Burckhardts zu
nutzen – zu den „Extrapersonen“
in Mittel- und Osteuropa. Die
Dankesrede Pleşus beim Erhalt
des „New Europe Prize“ – sein
Plädoyer für das „Alte Europa“ –
zeigte, dass sich im Osten der
Rückblick auf die eigene Vergan-
genheit nicht mit Aggression ge-
gen den Westen verbinden muss-
te. Im Gegenteil. Das „Alte Euro-
pa“, nach dem Pleşu sich sehnte,
war das Europa der Aufklärung,
in dem Ost und West eine Werte-
gemeinschaft bildeten, die Ja-
rosław Kaczyński in Polen und
Viktor Orbán in Ungarn aufkün-
digen sollten. Die Vertreibung
des Collegium Budapest und der
von George Soros gegründete
Central European University
(CEU) aus Ungarn ist fast voll-
endet – das Orbán-Regime entle-
digt sich zweier „liberaler
Fremdkörper“. Die Institute in
Sankt Petersburg und Sofia über-
leben, sind aber finanziell nur
schwach abgesichert.
Das Gleiche gilt für das New
Europe College, das nicht zuletzt
dank Andrei Pleşu zur Elite der
europäischen Forschungskollegs
zählt. In Bukarest ist Str. Plante-
lor 21, wo sich das eindrucksvolle,
von der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft dem NEC überlas-
sene Gebäude befindet, zu einer
Adresse geworden, die Wissen-
schaftler aus der ganzen Welt an-
zieht. Das Licht ist nicht erlo-
schen. Es flackert noch.

Die Rumänen wollen
einfach nur ein ganz
normales Land sein:
Demonstrationen
gegen Korruption
führten in Bukarest
zum Sturz der
Regierung

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019 KULTUR 21


Ihr habt nun Traurigkeit,
aber ich will euch wiedersehen
und euer Herz soll sich freuen
und eure Freude soll niemand von
euch nehmen.
Joh. 16,22

Professor Dr. Fritz Freiherr von Weizsäcker


Essen 30.7.1960 – 19.11.2019 Berlin

In der Mitte seines Lebens, geliebt und unentbehrlich seinen Kindern
und seiner Familie, entriß ihm eine Gewalttat sein Leben, während er
einen Vortrag über ein medizinisches Thema hielt.

In Schmerz und tiefer Trauer
nehmen wir Abschied.

Marianne Freifrau von Weizsäcker geb. von Kretschmann
Antonia, Leonie, Victor und Charlotte
Robert Freiherr von Weizsäcker
Gabriele Freifrau von Weizsäcker
Beatrice von Weizsäcker
Margarita Chiari
Daniela Kielkowski
Sabrina Hohmann

Trauerfeier am 2. Dezember 2019 um 11 Uhr in der Jesus-Christus-Kirche
Berlin Dahlem, Hittorfstraße 23.
Anschließende Beisetzung auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem, am Hüttenweg.
Statt freundlich zugedachter Blumen und Kränze wären wir dankbar für eine Spende
zur Unterstützung der Sanierung der Jesus-Christus-Kirche.
Ev. Kirchengemeinde Berlin-Dahlem
IBAN: DE68 5206 0410 3203 9663 99, BIC: GENODEF1EK1

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