Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

8 POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,27.NOVEMBER


D


ie Archivarin blickt
auf den Computer-
ausdruck auf ih-
rem Tisch. „Oh je“,
sagt sie leise. „Die
Urkunde ist erst vier Wochen
nach dem Angriff ausgestellt
worden.“ Was das bedeute, frage
ich. „Dass man wohl vier Wo-
chen gebraucht hat, um sie aus-
zugraben.“ Sie, das waren für
mich bisher nur Namen. Jetzt
halte ich zum ersten Mal die
Sterbeurkunde meiner Urgroß-
mutter in der Hand, 75 Jahre
nachdem sie im Keller ihres
Mönchengladbacher Hauses ums
Leben kam.


VON STEFANIE BOLZEN
AUS LONDON

Es dauerte keine fünf Minu-
ten, das Dokument aus den digi-
talen Tiefen des Stadtarchivs zu
ziehen. Ein Papier, nach dem nie-
mand in meiner Familie je ge-
fragt hat. Das mit diesem Augen-
blick aus einem Namen ein
Schicksal macht. Das meiner Ur-
großmutter Franziska Küppers,
verschüttet unter Trümmern,
nach dem Bombenangriff einer
britischen Lancaster-Maschine.
Erstickt, zusammen mit Groß-
tante Theodore und den drei
Kindern. Die Älteste, Elisabeth,



  1. Der elfjährige Max. Und Theo,
    mit seinen sieben Jahren der
    Kleinste.
    Ich blicke auf die fünf Todes-
    zeugnisse in meiner Hand. Trau-
    rigkeit steigt kurz in mir auf, vor
    allem wegen der Kinder. Aber
    auch ein anderes Gefühl. Das der
    Erleichterung. Denn ich habe
    endlich ein genaues Datum.
    Es gibt ein Foto von mir,
    Weihnachten 1973. Ich war kein
    Jahr alt und auf dem Arm von
    „Onkel Schang“. So nannten wir
    ihn, im Rheinischen wird der Jo-
    hann zum „Jean“, französisch
    geschrieben, und rheinisch aus-
    gesprochen eben „Schang“. Als
    Kind fragte ich meine Eltern, wa-
    rum er kein Chinese sei, wenn er
    schon Schang heißt. Alle lachten.
    Es war die einzige Erinnerung an
    diesen Menschen. Erst 40 Jahre
    später, lange nach seinem Tod,
    lerne ich ihn nun kennen.
    Onkel Schang war mein Groß-
    onkel. So wie Uncle Arthur der
    Großonkel meines Mannes. Der
    eine war Deutscher, der andere
    Brite. Beider Leben war geprägt
    vom Krieg, beider Schicksal ist
    verbunden mit dem Ereignis,
    dessen die westliche Welt in die-
    sen Tagen gedenkt. Der D-Day,
    die Landung der Alliierten in der
    Normandie. Uncle Arthur verlor
    als Pilot der Royal Air Force sein
    Leben. Jean machte die britische
    Luftwaffe zum Witwer. Aber es
    gibt noch ein Element in dieser
    Geschichte, das weit über bloße
    Fakten hinausgeht: wie meine
    Familie mit der Vergangenheit,
    mit Verlust und Trauer umgeht.
    Und wie es meine britische Fa-
    milie tut.
    Ein kalter Freitagmorgen An-
    fang Mai 2019 in der Champagne.
    Eine Ehrengarde der Royal Air
    Force steht hier in Mailly-le-
    Camp an einem Gedenkstein.


Auch eine Ehrengarde des fran-
zösischen Militärs ist da, sowie
eine Reihe von Veteranen. Auf
der anderen Seite steht ein Dut-
zend Familien, die aus England,
sogar aus Kanada, aus Australien
in den französischen Nordosten
gereist sind. Auch unsere Familie
ist darunter, auch ich.
Vor 75 Jahren hatte hier deut-
sches Flakfeuer den sternenkla-
ren Himmel über dem Kasernen-
gelände taghell geschossen. 346
Lancaster-Flugzeuge rasten
durch die Nacht und warfen 1500
Tonnen Bomben auf das Gelän-
de, auf dem Wehrmacht und SS
ihre Panzereinheiten ausbilde-
ten. Mit der Zerstörung der
deutschen Infrastruktur auf
französischem Boden sollte der
D-Dayvorbereitet werden.
Der Angriff auf Mailly-le-Camp
sollte als einer der verlust-

reichsten in die Chronik des
Bomber Command eingehen, des
Oberkommandos der britischen
Bomberflotte im Zweiten Welt-
krieg. 42 der 346 Lancaster-Flug-
zeuge kehrten nicht zurück. 258
Angehörige der britischen Luft-
waffe starben. „Missing – no news
since take-off“, steht wortkarg im
Operationsbericht des britischen
Kommandos. Weil die Kommuni-
kation zwischen Vorausstaffel der
Briten und den Lancaster-Piloten
nicht richtig klappte, hatte das
deutsche Nachtgeschwader ge-
nug Zeit zum Aufstieg. Die Nazis
kannten den Schwachpunkt der
mit Rolls-Royce-Maschinen be-
triebenen Lancaster: Die Kano-
niere an Bord konnten die Ma-
schine nur nach hinten, vorne
und seitwärts verteidigen. Die
deutschen Jagdbomber flogen ih-
re Angriffe deshalb von unten.

Die Lancaster LL826 mit dem
Piloten Arthur Grain hatte ihre
Bomben vermutlich noch nicht
abgeworfen, als sie den schweren
Treffer erlitt. Brennend schlug
Arthurs Maschine mit sieben Be-
satzungsmitgliedern des Ge-
schwaders 550 nahe dem Weiler
Cheniers in einem Waldstück
auf. Ein Schwarz-Weiß-Foto von
1944 zeigt Einwohner von Che-
niers mit einer Holzkiste. Darin
hatten sie die Leichenteile ge-
sammelt und später bestattet.
Heute stehen in der östlichen
Ecke des Kirchhofs von Cheniers
weiße, von der Commonwealth-
Kriegsgräberfürsorge aufgestell-
te Grabsteine. Rechts daneben
lehnt ein Stück des abgerissenen
Flügels von Uncle Arthurs Ma-
schine. 75 Jahre später ist auf
dem türgroßen Aluminiumstück
die schwarze Lackierung an vie-

len Stellen noch sichtbar. Lange
Zeit hatten die Dorfbewohner
die morbide Reliquie in einer
Scheune aufbewahrt. Jetzt steht
sie auf dem Friedhof wie ein Aus-
rufezeichen. Das alles ist genau
so geschehen, sagt das Flügel-
stück. Genau hier.
Uncle Arthur hat einen beson-
deren Platz in der Ahnengalerie.
Das verstand ich schnell, nach-
dem ich die Familie meines Man-
nes kennengelernt hatte. Arthur
war ihr Kriegsheld, so wie es
55.573 andere Soldaten, die für
das britische Bomber Command
ihr Leben gelassen hatten, für ih-
re Familien sind. Es waren Män-
ner wie Uncle Arthur, die Hitler
durch ihren unglaublichen Mut
und ihre Opferbereitschaft be-
siegten.
Als Deutsche fand ich die Er-
innerung trotzdem in einer

STEFANIE BOLZEN (3)

Eine lange verschwiegene


Familiengeschichte


Für unsere Autorin ist der D-Day auch ein persönlicher Gedenktag. Nach Recherchen fand


sie Zugang zu einem traurigen Teil ihrer eigenen Geschichte – und eine neue Verbindung


zum im Krieg getöteten Onkel ihres britischen Mannes. Nun wurde sie dafür in London


mit dem Preis der Vereinigung der Auslandspresse ausgezeichnet

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