Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

schwer zu beschreibenden Weise
unangenehm. Warum steckte ei-
ne Familie, in der Militärisches
sonst keine Rolle spielte, so viel
Energie in dieses vergangene Ka-
pitel? Warum besuchte sie auf
Frankreich-Urlauben das Grab,
warum recherchierte sie in Ar-
chiven, warum reiste sie zu Ge-
denkfeiern, immer wieder? Die
Kaffeebecher mit dem Bild des
Lancaster-Flugzeugs, die Lan-
caster-Keksdose im Schrank ga-
ben mir immer einen leichten
Stich. Ich beschloss, dass dieser
Teil des Familienerbes nichts mit
mir zu tun hatte.
Bis zu jenem Weihnachts-
abend vor drei Jahren, als die Ge-
schichte des Bomber Command
meine eigene wurde. Damals
fragte mein Mann meinen Vater
unvermittelt nach dessen Erin-
nerungen an den Krieg. Und ich
hörte meinen Vater plötzlich er-
zählen. „Eines Morgens kamen
wir nach einem schweren Luft-
angriffaus dem Keller“, sagte er
zu meinem Mann. „Meine Mut-
ter lief mit mir und meiner
Schwester hinüber zum Haus
von Onkel Schang. Wir wollten
gucken, ob alles in Ordnung war.
Das werde ich nie vergessen. Da
stand er auf den Trümmern sei-
nes Hauses und versuchte mit
bloßen Händen, seine drei Kin-
der auszugraben. Und meine
Oma und meine Tante.“ Ich war
fassungslos.
Mein Vater war vier Jahre alt
gewesen am Tag des Bombarde-
ments, seine Schwester, meine


Tante, war acht. Vor wenigen
Wochen ging ich mit beiden die
Strecke zwischen den beiden
Häusern ab, keine zehn Fußmi-
nuten liegen sie voneinander
entfernt, so wie an jenem Sep-
tembermorgen 1944. Vor
Schangs Haus fragte ich: Warum
habt ihr mir das nie erzählt? Wa-
rum sind wir nie zu den Gräbern
gegangen? Wieso ist das nicht
Teil unserer Familiengeschichte?
Auch 75 Jahre später gibt es da-
rauf keine Antwort. „Vielleicht
haben die Eltern darüber gere-
det, aber nie vor uns“, versuchte
meine Tante eine Erklärung. Die
Kinder wiederum haben ihren
Kindern nichts weitergegeben
über diesen Teil des eigenen
Schicksals. Die eine Generation
hat der nächsten die Erinnerung
verwehrt. Oder zumindest die an
den allergrößten Schmerz.
Natürlich haben wir unsere
Familiengeschichten vom Krieg.
Wie Oma Bolzen die Wäsche aus
ihrem brennenden Haus retten
wollte und mein Vater sie
schreiend festhielt. Wie mein
Großvater aus kurzer Kriegsge-
fffangenschaft zurückkam undangenschaft zurückkam und
seine Schreinerei wieder öffne-
te. Der Historiker Dieter Süß
sagte mir, dass sich das Wie und
WWWas des Erinnerns mit der Zeitas des Erinnerns mit der Zeit
verändere. Gleich nach dem
Krieg sei in den bombardierten
deutschen Städtenintensiv des
Luftkriegs und dessen Opfer ge-
dacht worden. Aber mit der Zeit
habe sich das Narrativ verän-
dert. In den 60er-Jahren spornte
die Erinnerung an den Luftkrieg
zum Wiederaufbau an. Durch
die Friedensbewegung der 70er
begannen sich viele Deutsche
endlich ihrer Täterrolle zu stel-
len. Das eigene Opfersein wurde
überlagert.
Auch in Großbritannien speist
die Erinnerung an die beiden
Weltkriege die nationale Identi-
tät, selbstredend auf andere Art.
Es ist die Geschichte der Sieger,
die Europa vom Nazi-Terror be-
freiten. Auch dort passt sich die
Erinnerung dem Zeitgeist an.
„Seit den 2000ern ist das Geden-

ken an die Opfer und Helden des
Zweiten Weltkriegs noch stärker
geworden. Dieses kollektive Er-
innern fließt auch ein in die ak-
tuelle Brexit-Debatte. Etwa als
,Allein gegen alle‘-Narrativ“, sagt

der britische Historiker Richard
Overy. „Nostalgie hilft, die Kon-
frontation mit den aktuellen He-
rausforderungen und mit Groß-
britanniens Rolle in der Welt zu
vermeiden.“

Die „Tagebücher des Bomber
Command“, die detaillierte
Chronologie aller Einsätze, füh-
ren acht Angriffe auf Mönchen-
gladbach auf. Strategisch wichtig
westlich des Rheins gelegen,
wurde die Stadt im Mai 1940 so-
gar das allererste Bombenziel
der Briten. Mehr als 50 Prozent
der Innenstadt waren 1945 zer-
stört. Was, wenn auch Uncle Ar-
thur Bomben auf Mönchenglad-
bach abgeworfen hat? Diese
grauenvolle Vorstellung geht mir
nicht mehr aus dem Kopf, zumal
ich in den englischen Archiven
viele deutsche Einsätze für ihn
finden konnte. Berlin, Leipzig,
Stuttgart, Schweinfurt waren
Ziele, die sein Geschwader ange-
griffen hatte.
Ich schiebe den Gedanken zur
Seite, während die Mitarbeiterin
im Stadtarchiv die Sterbeurkun-
de meiner Urgroßmutter aus-
druckt. Dann lese ich. „Durch
feindlichen Luftangriff gefallen
am 10. September 1944 um 5 Uhr
und 30 Minuten.“ Uncle Arthurs
Lancaster war vier Monate zuvor
über Frankreich abgestürzt.

Dieser Artikel erschien zuerst am

2. Juni 2019 in der WELT AM
SONNTAG


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